Anna Karlowna Klaus wurde in Wjerchnaja Bulanka geboren. Sie ist Estin. Ehemann Ernst Karlowitsch Klous (in den Dokumenten wurde der Nachname verfälscht). Finne. 70 Jahre alt.
Anna Karlownas Eltern (ihr Mädchenname lautet Underwitz) wurden in Wjerchnaja Bulanka geboren. Den Großvater siedelte man im 19. Jahrhundert aus Estland aus, um Neuland urbar zu machen. Der Nachname des Großvaters war Gowal, der Familienname der Großmutter Dieser. Sie stammte aus Dubensk (heute Schuschensker Bezirk).
Im Baltikum gab es nur wenig Ackerland. Anfangs waren sie in Suetuk, später zogen sie nach Wjerchnaja Bulanka. In Suetuk bestand die Hälfte der Leute aus Esten, die andere Hälfte waren Finnen. Später heirateten sie untereinander und wurden alle Esten.
In Wjerchnaja Bulanka gab es keine estnische Schule, die gab es nur in Suetuk in den dreißiger und vierziger Jahren. Aber eine Unterrichtsstunde pro Woche wurde auch in Wjerchnaja Bulanka in estnischer Sprache abgehalten.
In den dreißiger Jahren wurden die Einzel-Bauern enteignet, alle übrigen zum Beitritt in Kolchosen gezwungen. 1937 wurde Anna Karlownas Großvater verhaftet und in Minussinsk erschossen. Sein Nachname lautete Underwitz (zuerst hießen sie Singelt, später nahmen sie andere Namen an). (Anm. d. Red. – möglicherweise Singert oder Sionberg). In Nischnij Suetuk wurden gleichzeitig 37 Personen verhaftet.
Aus dem Buch der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen in der Region Krasnojarsk (das Buch bekam man von Anna Karlowna).
UNDERWITZ, Aleksander Kusmitsch. Geb. 1904. Gebürtig und wohnhaft in Wjerchnij Suetuk, Sagaisker Amtsbezirk, Minussinsker Gebiet, Gouvernement Jenissej. Este. Stammte aus einer Mittelbauern-Familie. Arbeitete in der Kolchose. Verhaftet am 28.02.1938. Angeklagt wegen Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation und antisowjetischer Agitation. Verurteilt am 26.05.1938 durch eine Kommission des NKWD und der Staatsanwaltschaft der UdSSR zur Höchststrafe. Am 01.08.1938 in Minussinsk erschossen. Rehabilitiert am 07.02.1959 von einer Sonderkommission des Obersten Gerichts der UdSSR (P-10461).
„Und wir wussten überhaupt nicht, wo sie abgeblieben waren. Später ging das Gerücht, dass sie im Minussinsker Wäldchen lägen. Irgendjemand wusste, wohin man sie gebracht hatte. Sie sagten es nicht. Niemand wusste, wohin sie gekommen waren. Später hörte man, dass sie kurz zuvor im Minussinsker Wäldchen erschossen worden waren“.
In Ernst Karlowitschs Familie gab es Enteignete. Offenbar sein Verwandter.
KLAUS, Konstantin Karlowitsch. Geboren 1892. Lebte eine Zeit lang in Wjerchnij Suetuk, Wjerchnij Suetusker Dorfrat, Bezirk Karatus, Minussinsker Gebiet. Familie: Ehefrau. Entzug der Wahlrechte 1929 (Archiv-Abteilung der Verwaltung des Bezirkes Karatus, Fond 33/511, Verz. 3, Dossier 23, Bl. 165).
Sein Großvater mütterlicherseits war Andrej (Indrik) Park, Großmutter - Maja Park. Mutter – Ida Andrejewna Krindal (Park), geb. 1910. Väterlicherseits hieß die Großmutter Anna Krindal, der Großvater Kusma (Gustas/Gustav?) Krindal. Vater: Karl Kusmitsch Krindal, geb. 1916.
Aus dem Buch der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen der Region Krasnojarsk (offenbar Ernst Karlowitschs Onkel):
PARK, Jan Andrejewitsch. Geboren am 22.01.1913. Gebürtig und wohnhaft in der Ortschaft Wjerchnaja Bulanka, Sagaisker Amtsbezirk, Minussinsker Landkreis, Jenisseisker Gouvernement. Este, konnte nur wenig lesen und schreiben. Stammte aus einer Bauernfamilie. Parteilos. Traktorist in der Kolchose „Morgenröte“. Verhaftet am 24.07.1938. Angeklagt nach §§ 58-10, 58-11 des Strafgesetzes der RSFSR. Der Fall wurde am 12.01,1939 von der Karatussker Bezirksabteilung des NKWD aus Gründen, die ihn rehabilitierten, niedergelegt (s. 4 P. 5 der Strafprozessordnung der RSFSR). Aus der Haft entlassen (P-2694).
In der Familie sprechen alle estnisch, auch die Kinder. Sie feiern immer den Jan-Kupal-Tag. Weihnachten feiern sie am 7. Januar. Und am 19. Januar den Dreikönigstag. Weder sie selber noch die Eltern gingen in die Kirche, weil zu Sowjetzeiten in der Kirche der Klub untergebracht war. Aber trotzdem wurden sie von den „Omis“ getauft. Sie sangen auch für die Verstorbenen die Totengebete. Beerdigt werden sie anders, als bei den Russen – das Kreuz wird nicht an der Fuß-, sondern an der Kopfseite aufgestellt. Die Nationaltracht ist bei ihnen nicht erhalten geblieben.
Sowohl mit den russischen, als auch mit den deutschen Deportierten lebten sie in Eintracht. Die Kinder spielten zusammen. Wenn sie heirateten, schenkten sie der jeweiligen Nationalität keine Aufmerksamkeit. Zuhause wurde nie gesagt, dass sie unbedingt einen Esten heiraten sollten.
Nationale Gerichte bereiten sie noch zu: Kartoffelpuffer, Kartoffelwurst, Blutwurst. „Kartoffeln reiben, darein Reis … na ja, Graupen. Alles zerkochen - und das ist alles; alles miteinander vermischen. Ein bisschen Blut vom Schwein. Wenn das Schwein geschlachtet wird, dann fängt man das Blut auf – und hinein damit. Und so geht das auch mit der Wurst - mit unserer estnischen. Früher hat man Käse mit Thymian gemacht. Jetzt halten wir keine Kühe mehr“.
Am Iwan-Kupal-Tag gingen sie durchs Dorf – sammelten Eier, anschließend kochten sie sie und fuhren zum Teich.
Weihnachten feierten sie mit dem Spruch: „Ich säe, fege, pflanze, Glückwunsch zum neuen Jahr“. Besonders die Kinder. Sie versammelten sich und zogen durch das Dorf. Manch einer gab ihnen etwas – Kuchen, Gebäck. In der Iwanow-Nacht entfachten sie ein Lagerfeuer. Danach machten sie sich wieder auf den Weg. Sie nahmen ihr Körbchen und jeder ging nach Hause. Dabei sangen sie, die Körbchen in ihren Händen schwingend.
Der Wunsch nach Estland zurück zu kehren kam nicht auf. Man besuchte sich gegenseitig. „Dort gibt es nichts als Steine, dort ist der Boden unwegsam, überall nur Steine“. 1980 reisten sie dorthin, der Schwiegersohn fing an, im Laden Russisch zu sprechen – man verkaufte ihm nichts, nein – sagten sie.
In Bulanka trafen Behördenvertreter und Geistliche ein. Anna Karlowna war als Klubleiterin tätig und arbeitete mit den Ankömmlingen zusammen. Und als es ein Jubiläum gab, gab es auch viele Leute aus Estland, ungefähr 40 Personen.
Bulanka zerfiel. Als dort Menschenlebten, gab es keine Straßen, man konnte kaum dorthin gelangen. Jetzt haben sie dort Straßen angelegt, aber es gibt keine Menschen mehr. Zu Fuß ging man damals. Es gab dort keinerlei Transportwesen. Nur Schmutz und Dreck. Die Kinder wurden mit dem Traktor zur Schule gebracht. Oder mit Schlitten. Holzhütten baute man. Und dort saßen sie und froren“.
In der Sowchose bekam eine Familie einen Plan für Machorka, jede Familie sollte Tabak anbauen. Für diesen Machorka-Tabak bekamen sie Würfelzucker.
Pioniere und Komsomolzen gab es nicht. Die Eltern erlaubten es nicht. Sie wurden auch gar nicht aufgenommen, denn in der Familie gab es Verfolgte.
10. Juli 2017
Ortschaft Motorskoje
Das Interview wurde aufgezeichnet von:
1. Jewgenia Aleksandrowna Franz
2. Darja Viktorowna Swirina
Expedition der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität, Krasnojarsk, zum Projekt „Volksgruppen in Sibirien: Bedingungen für den Erhalt der kulturellen Erinnerung“, 2017, Bezirke Karatus und Kuragino