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Mitteilung von Elvira Konstantinowna Kusnezowa


Die von mir befragte Elvira Konstantinowna Kusnezowa, die 1955 geboren wurde, kann sich selber nicht an die Mit der Deportation der Wolgadeutschen verbundenen Ereignisse erinnern, doch haben ihr die Eltern davon erzählt - hauptsächlich von den Verwandten ihrer Mutter: Samariana Iwanowna Damer (geb. 1937), der Großmutter Maria Jakowlewna Damer (geb. ungefähr 1905) und Großvater Iwan Petrowitsch Damer (der etwas im gleichen Alter wie die Großmutter war). Um es genau zu sagen – der Vater mochte seine Erinnerungen an die damalige Zeit nicht anderen anvertrauen, aber wir wissen, dass es sich bei ihm um Gistwein (Gieswein?) handelt. Sein älterer Bruder Alexander Augustowitsch Gistwein, der heute in Matwejewka lebt, ist uns von dieser Expedition auch schon bekannt. Der Großvater hatte zwei Brüder – Andrej und Pjotr. Darüber, ob die Großmutter der Befragten Geschwister hatte, wurde nichts gesagt, aber die Mutter hatte drei Schwestern: Amalia, Klara und Irma.

Elvira Konstantinowna lässt uns wissen, dass sie vor der Deportation in der Ortschaft Kelch im Gebiet Saratow gelebt haben.

Der Großvater arbeitete als Traktorfahrer, er war Brigadeführer. Außerdem stellte er in der Schlachterei Wurstwaren her.

Sie besaßen eine gesunde Hofwirtschaft, ein zweigeschossiges Haus aus Ziegelsteinen, und die Kinder waren stets gut gekleidet. Von den damaligen Traditionen ist vorwiegend noch die deutsche Küche erhalten geblieben (Galuschki (Nudeln), Wurst, Fladen und Plätzchen). Die Großmutter war ihr Leben lang fromm. Sie besuchte die lutherische Kirche, die im Dorf vorhanden war.

Darüber, wie die Ortschaft Kelch die Nachricht von der bevorstehenden Deportation aufnahm, ist der von mir Befragten nur wenig bekannt. Sie weiß lediglich, dass zu der Zeit das gesamte Dorf mit einem schrecklichen Geheul erfüllt war, denn man hatte den Menschen nur 24 Stunden Zeit zum Packen gegeben, und als die Zeit verstrichen war, setzte man sie wie Häftlinge in einen Güterzug, mit dem sie dann nach Sibirien gebracht wurden. An den Fenstern der Güterwagen waren Gitter angebracht. Die Todesrate war hoch; mit den Leichen wurden keine großen Umstände gemacht – sie wurden einfach unterwegs hinaus geworfen. So fuhren sie bis an den Jenissei, um dann dort auf eine Fähre umzusteigen, mit der sie zur weiteren Verteilung nach Galanino gebracht wurden.

Vor der Verteilung gelangte die Familie Damer in das Dorf Myngaly. Sofort bekamen sie ein altes Häuschen zugewiesen, aber nicht für alle Familienmitglieder. Peter Petrowitsch Damer musste beispielsweise mit seinen vier Kindern in einer Erd-Hütte wohnen.

Die Ortsansässigen nahmen die Umsiedler recht unterschiedlich auf, was sie jedoch nicht daran hinderte, mit gleichen Rechten (sie fällten Bäume) zu arbeiten und es sogar bis zum Brigadeführer zu bringen – wie der Großvater der Befragten. Keiner der Deportierten verweigerte die Arbeit.

Irgendwann wurden einige Verwandte zur Trudarmee in den Ural geschickt. Sie mochten darüber nicht sprechen, wie zum Beispiel Iwan Petrowitsch, aber sein Bruder Peter erinnerte sich, dass sie dort immer mehr arbeiten mussten und dabei schlecht verpflegt wurden.

Darüber, wie die Deportierten beaufsichtigt wurden, ist Elvira Konstantinowna nur sehr wenig bekannt. Sie weiß lediglich, dass sie sich regelmäßig melden mussten, aber dass die Einhaltung der deutschen Traditionen oder die Nichtkenntnis der russischen Sprache nicht getadelt wurden; in diesen Punkten verhielt man sich verständnisvoll. Viele in der Familie konnten anfangs überhaupt kein Russisch, lernten es jedoch später ein wenig sprechen, wenngleich sie mit einem starken Akzent sprachen. Möglicherweise schuf das einige Probleme mit den Ortsansässigen. Nicht alle akzeptierten die Umsiedler auf Anhieb, aber nach und nach gewöhnten sie sich aneinander und kamen miteinander aus.

An Kleidung hatten sie „Tatjanka“-Röcke (weite Röcke mit gerafften Bündchen; Anm. d. Übers.) und Jackets. Alles nähten sie selber, sogar mit Maschinen. Wenn es nötig war, halfen sie auch den Ortsansässigen. Schminke wurde so gut wie gar nicht verwendet. Zum Kräuseln der Haare benutzten sie kleine Nägel. Sie erhitzten sie auf dem Ofen und wickelten dann die Haarsträhnen auf.

Damals ging Samariana Iwanowna Damer in die Schule und absolvierte drei Klassen, und als die von mir Befragte die Schule besuchte, hatte sich dort noch nicht viel geändert. Es kam vor, dass sie der Reihe nach dorthin gingen, wenn es nicht genügend Lehrmaterial gab oder sie nicht alle etwas zum Anziehen hatten. Außerdem gab es mit dem Schulbesuch im Winter Probleme, weil es an warmer Kleidung fehlte. In den Anfangsklassen gab es nur eine Lehrerin für das ganze Dorf, und der Unterricht fand für mehrere Klassen gleichzeitig statt. Als Elvira Konstantinowna sich an ihre ehemalige Lehrerin erinnert, erwähnt sie, dass die Kinder sie sehr verehrten; sie war immer sehr höflich, und die Kinder verstanden sie als Ideal und nahmen sich an ihr ein Beispiel.

Ihre Freizeit verbrachten die Kinder mit Spielen und dem Singen von Liedern. Die von mir Befragte wurde in der Schule „die Deutsche“ genannt.

Darüber, dass die Meldepflicht in der Kommandantur aufgehoben war, sagte man ihnen nichts. Als die Familie rehabilitiert wurde, reichte sie Klage ein, mit dem Ziel, eine finanzielle Entschädigung zu erhalten; der Gerichtsentscheid war von Erfolg gekrönt. IN die Heimat fuhren sie nicht zurück, denn nach Berichten von Bekannten war dort bereits ein neues Dorf errichtet worden und alle Häuser waren bereits bewohnt. Von der einstigen Deutschen Republik war nichts mehr übrig geblieben.

Elvira Konstantinowna Kusnezowa fühlt sich selber als Deutscher. Sie ist stolz darauf und hebt ihre Nationalität auch hervor, obwohl sie zugibt, dass sie die Sprache nicht mehr kennt. Als typisch „deutsche“ Merkmale in sich nennt sie Pünktlichkeit und Pflichtbewusstsein.

Einige Verwandte sind im Lauf der Zeit nach Deutschland umgezogen, aber sie hat mit ihnen keinen Kontakt und kann über ihre Motive auch nichts sagen.


E.K. Kusnezowa mit ihren Enkelinnen

(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft ) Neunte Expedition des Krasnjarsker "Memorial“ und des Pädagogischen College in Jenisseisk, Worokowka-Kasatschinskoje-Roschdestwenskoje 2014 .

 

 


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