Maria Andrejewna Maisner wurde am 21. November 1954 in der Ortschaft Karatuskoje geboren. Die Eltern, Andrej Wilhelmowitsch Maisner (geb. am 18.08.1030) und Lydia Christophorowna Maisner (Werner, geb. am 25.09.1926) waren Wolgadeutsche, die im Bezirk Kukkus, in der Ortschaft Straub, lebten. Im September 1941 wurden sie deportiert. Auf Lastkähnen brachte man sie bis zur Bahnstation und schickte sie von dort in „Vieh“-Waggons nach Abakan. Wenn unterwegs Kinder oder Erwachsene starben, warf man sie einfach aus dem Zug und fuhr dann weiter. Dort wurden sie mit Pferden abgeholt. Der Vater wurde mit seiner Familie nach Sosnowka gebracht, die Mutter nach Kop. Damals waren sie noch Kinder. Bis zur Rehabilitation mussten sie sich regelmäßig bei der Kommandantur melden.
Maria Andrejewna kann sich an viele Dinge nur aufgrund von Äußerungen ihrer Eltern erinnern.
Im Gebiet Saratow hatten sie ein Haus, einen Hof besessen. Die Nachricht von der Deportation kam urplötzlich. Sie kamen fast ohne jeden Besitz im Bezirk Karatus an. Sie arbeiteten als Melkerinnen, manch einer beim Holzeinschlag, andere kümmerten sich um die Pferde. Bei ihrer Ankunft nahm man ihnen Kissen, Decken und andere Sachen weg – im Austausch für den ihnen zur Verfügung gestellten künftigen Wohnraum. Und sie schliefen auf Holzscheiten, legten sie sich unter den Kopf. Dabei hatten die Eltern beim Umzug nicht nur Sachen, sondern auch ein Bild mit Engeln und er Aufschrift „Ehre sei Gott in der Höhe“ mit- genommen. Sie hatten auch an das Seelische gedacht. Wenn man sich auch irgendwie Essen und Kleidung beschaffen konnte, so war es für die Deutschen doch sehr schwierig, in Sibirien etwas zur Aufmunterung der Seele zu finden.
Sie lebten in Armut, manche besaßen nicht einmal die elementarsten Dinge. Sie ernährten sich von Schälabfällen, die die Ortsansässigen auf den Müll geworfen hatten.
Das Verhalten der Ortsbewohner ihnen gegenüber war nicht gerade wohlwollend. Maria Andrejewna und ihre Schwestern wurden sogar später noch als „Deutsche“, „Faschisten“ beschimpft. Als die älteste Schwester ihren Ausweis erhielt, schrieb sie in die Rubrik „Nationalität“ sofort „russisch“. Maria dagegen nahm mit Stolz ihre wahre Nationalität an. Die Eltern meinten als Antwort auf die zahlreichen Kränkungen und Beleidigungen, dass sie den Ortsansässigen schon ein normales Leben beibringen würden. Sie meinten damit die Lebensweise. Bis zum Eintreffen der verbannten Deutschen hatten die Ortsbewohner beispielsweise ihre Wäsche auf Zäunen getrocknet, und dann sahen sie, wie andere es machen, indem sie aufgespannte Leinen dafür verwenden. Außerdem waren die Ortsansässigen es nicht gewohnt, die Fenster zu verhängen, Läufer auf die Fußböden zu legen; das guckten sie sich erst von den Verbannten ab. Deswegen meinte Maria Andrejewna immer: „Lass mich ruhig eine Deutsche sein, dafür bin ich reinlich und anständig“.
Die Eltern sprachen zu Hause miteinander Deutsch, mit den Kindern Russisch. Die Kinder verstanden Deutsch weitestgehend.
Im Haus der Großmutter trafen sie zusammen, sangen deutsche Lieder, tauften die Kinder. Als ihre Mutter starb, standen sie alle um den Sarg herum, weinten und sangen Kirchenlieder. Man erzählte aus dem Leben der Verstorbenen, wie viele Kinder sie gehabt, wo sie gearbeitet, wie sie gelebt hatte. So verliefen bei vielen die Beerdigungsfeiern. Man begrub sie nach deutschem Brauch, es wurden auch Lieder gesungen. Später, als es keinen mehr gab, der die Tradition wahrte, wurden keine besonderen Sitten und Gebräuche mehr eingehalten.
Jeden Sonntag buk die Mutter Krapfen, Waffeln, kochte Kompott mit Knödeln.
Es war verboten, das deutsche, aber auch das russische, Osterfest zu feiern, aber sie taten es trotzdem. Sie machten Tellerchen zurecht, auf denen Eier und Gebäck lagen. Sie feierten auch Weihnachten, wobei sie bemüht waren, vorher alles aufzuräumen und in Ordnung zu bringen.
In Karatuskoje teilte man der Familie einen Platz in einer Baracke zu, wo zusammen mit ihnen in derselben Wohnung eine verwandte Familie untergebracht war. Die Wohnung bestand aus einem einzigen Zimmer und der Küche. Maria Andrejewna wurde von vielen Verwandten im Spaß „Zigeunerin“ genannt, weil sie schwarze, lockige Haare hatte. Ihre Spielsachen waren selbstgemacht, Der Großvater schnitt ein Stühlchen und ein Tischchen mit eigenen Händen zurecht. Die Kinder benutzen sie noch heute; sie werden innerhalb der Verwandtschaft immer weiter gereicht.
Später baute die Familie sich mit Hilfe der Verwandten ein Haus. Der Vater arbeitete in der Schmiede, die Mutter in der Kolchose. Sie bauten dort Tabak und Kohl an.
Als man ihnen erlaubte nach Deutschland auszureisen, wollten die Eltern Karatuskoje nicht verlassen. Und nach den Berichten vieler Ausgereister, erwartete sie dort höchstens die Möglichkeit, ungelernte Arbeiten zu verrichten. Maria Andrejewna suchte ihre Papiere für ein Umzug zusammen, sie sollte nur noch bei der Botschaft eine Prüfung ihrer Deutschkenntnisse absolvieren. Aber dann dachte sie, dass es für ihre Tochter schwierig sein würde, dort an die Universität zu kommen; deshalb wurde ihr Plan nicht verwirklicht.
Maria Andrejewna wusste noch nicht einmal, dass sie zu den Opfern der Repressionen gehört, so lange der Kolchosvorsitzende German sich nicht mit dieser Frage befasste und ein Gesuch nach Krasnojarsk sandte. Dort lagen auch Informationen über den einstigen Besitz jeder Familie im Gebiet Saratow des Jahres 1941 vor. Viele erhielten später eine finanzielle Entschädigung.
Somit starb ihre Mutter ohne rehabilitiert worden zu sein.
Die Familie Maisner
Andrej Wilhelmowitsch Maisner und Lydia Christophorowna Maisner
Maria Maisner mit ihren Schwestern
Maria Andrejewna Maisner
Andrej Wilhelmowitsch Maisners Geburtsurkunde
Lydia Christophorowna Maisners (Werner) Geburtsurkunde
Von den Eltern aus dem Gebiet Saratow mitgebrachtes Bild „Ehre sei Gott in
der Höhe“
Fenster-Vorhänge
Vorhänge
Das Interview wurde geführt von Tatjana Nasarez.
Forschungsreise der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität Krasnojarsk und der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation zum Projekt „Anthropologische Wende in den sozial-humanitären Wissenschaften: die Methodik der Feld-Forschung und Praxis der Verwirklichung narrativer Interviews“ (gefördert durch den Michail-Prochorow-Fond).