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Verbannungs- / Lagerhaft-Bericht von Margarita Fjodorowna Malzewa

M.F.s Mutter, Olga Petrowna Kasatschjok (Kasatschek, Kasatschok, Kasatschuk) wurde in der Stadt Soltonoscha, Gebiet Tscherkassk, Ukraine, geboren. Sie beendete die Fakultät für Agronomie am dortigen Technikum. Anschließend arbeitete sie gemäß ihre beruflichen Qualifikation in einer Saatgut-Fabrik in Moldawien.

Ende 1941, als die Deutschen einmarschierten, wurde sie zusammen mit ihrer Schwester nach Deutschland geschickt, in ein Konzentrationslager nahe Rostock. Während ihres Aufenthaltes in diesem Konzentrationslager gebar Olga Petrowna eine Tochter namens Margarita. Der Vater war ein Franzose – Roger de Lacomte (Laconte, Lacompte?). Nur seinetwegen hatte die Mutter eine Chance im Lager zu überleben, denn er bekam Pakete vom Roten Kreuz. 1944 wurde Olga Petrowna von den alliierten Truppen aus dem Lager befreit. Aber sie wußte nicht, wohin sie gehen sollte. So kam sie als Melkerin zu einem Bauern.. Allerdings lebte sie dort nicht lange (6 Monate), sondern kehrte mit dem ersten Transportzug in die Ukraine zurück.

Olga Petrowna ließ die kleine Margarita in der Obhut der Großmutter; 8 Jahre lebte sie bei ihr – bis 1953.

M.F. erinnert sich an die Großmutter und erzählt: „ Oma konnte kaum lesen und schreiben, man hatte ihr lediglich beigebracht, wie sie mit ihrem namen unterschreiben konnte. Während sie als Hausangestellte bei reichen Leuten arbeitete, wurde ihr klar, wie wichtig es ist, zur Schule zu gehen und zu lernen. Dank Omas Einsicht erhielten Mama und ihre Schwestern deswegen eine gute Ausbildung.

Die Großmama taufte mich, indem sie mich bekreuzigte und mir den Namen Ljubow Fjodorowna gab. Erst als Mama kam, um mich zu sich zu holen, änderte sie den Namen in Margarita um. Mama mochte sehr gern Dumas lesen, und dabei war sie recht häufig auf diesen Vornamen gestoßen“. (AB – M.Fs ursprünglichen Geburtsurkunden sind der Großmutter durch Unachtsamkeit verloren gegangen. In den Bescheinigungen, die viele Jahre später in Jenisejsk ausgestellt wurden, findet der Geburtsort Rostock bereits keine Erwähnung mehr, und anstelle von Margarita wurde der Name Rita angegeben. Das Tag der Geburt wird nur als ungefähres Datum erwähnt. Dieser Umstand machte es M.F. in den 1990er Jahren unmöglich, von der deutschen Regierung eine Entschädigungszahlung zu erhalten.

Olga Petrowna mußte aus ihrer Heimatstadt fliehen. Sie änderte ihre persönlichen Papiere ab und fand Arbeit in der Stadt Turinsk, Gebiet Wolhynien. Aber „Gönner“ gab es damals viele, und so wurde Olga Petrowna denunziert und 1947 ins Tajschetlag geschickt. Dort lernte sie ihren zukünftigen Ehemann kennen.

Moisej Solomonowitsch Schur, geb. 1900, stammte aus einer reichen jüdischen Familie. Er war äußerst gebildet.Er hatte seinen Abschluß an den Universitäten von Kischinew und Paris gemacht, konnte sechs Sprachen, und er besaß eine große Bibliothek.

1949 wurden O.P. und M.S. freigelassen und fuhren nach Maklakowo (AB – ich vermute, daß es sich um die übliche Verbannung nach der Lagerhaft handelte; dies muß allerdings überprüft werden). Bald darauf wurde Tochter Lena geboren.

1952 fuhr O.P. in die Ukraine, um Margarita zu holen. M.F. erinnert sich daran noch wie folgt: „Als Mama kam, um mich zu sich zu holen, war ich acht Jahre alt. Aber ich hatte keine Kleidung, um in die Schule zu gehen; man konnte ja nicht barfuß gehen. Ich saß zuhause herum. Mama brachte Sachen zum Anziehen mit: Schnürschuhe und eine Art Uniform. Am 31. Dezember 1952 trafen wir in Maklakowo ein, etwa um 12 Uhr Mitternacht, als alle schon das neue Jahr begrüßten. Aber die Menschen taten das in aller Stille, man hörte niemanden laut feiern.

Moisej Solomonowitsch war auf drei Arbeitsstellen gleichzeitig tätig: als Haupt-Ingenieur in der Holzfabrik von Maklakowa, außerdem leitete er das Röntgenkabinett und unterrichtete Fremdsprachen.

M.F. erinnert sich: „In Maklakowo fehlte es uns an nichts. Denn Mama war von Beruf Agronomin, im Gemüsegarten gab es immer etwas Gutes. Mama züchtete sogar Obstbäume. Sie liebte auch Astern und Rosen sehr, und Rosen gab es überall im Haus, sogar im Winter. Wir waren auch immer satt. Wir hatten zwei Ziegen, die Milch gaben. Wir haben aber auch Milch dazugekauft. Wir besaßen auch immer einen Bullen, damit wir Fleisch essen konnten, außerdem 50 Hühner, 2 Schweine und 250 Kaninchen. Die Kaninchen standen in drei Käfigen auf einem großen Tisch in der Küche, und man mußte sie dreimal täglich saubermachen – ausmisten und neue Holzspäne hineinstreuen.

Im Haus war es ansonsten leer: Tische, Sitzbänke, Betten – das war alles. Aber überall standen Rosen – auf den Fensterbänken und Tischen, und auch auf dem Fußboden. Und es gab jede Menge Bücher, der Vater pflegte sie aus Moskau zu bestellen. Er hatte seine eigene, große Bibliothek.

Nur zum Anziehen gab es nichts. Ich trug immer ein- und dasselbe Kattunkleid, bei meinen Schnürschuhen waren die Spitzen ganz zerschlissen; ich hatte sie schon mit Draht umwickelt, damit sie nicht ganz auseinanderfielen. Ich hatte immer ganz nasse Füße. Und Mama besaß bloß ein einzges Ausgehkleid; das Material dafür hatte Vater aus Moskau bestellt – es war grün, mit weißen Tupfen.

Außerdem hatte sie einen Daunen-Schal – das war damals etwas ganz Luxuriöses, sowie einen halblangen Mantel, den der Vater ebenfalls aus Moskau hatte kommen lassen. Mama gab mir diesen Schal, wenn ich zur Schule ging, und ich beschmutzte ihn versehentlich mit Tinte. Deswegen hatte ich große Angst nach Hause zu gehen – Mama war streng. Die Lehrerin begleitete mich auf dem Heimweg und erklärte Mama, daß dies ohne Absicht passiert war.

1953 erlaubte man dem Vater in die Heimat zu fahren, aber er sagte nur: wie soll ich denn in diesem Aufzug auf Reisen gehen, erstmal muß ich mich einkleiden; dann kann ich auch fahren“. Die Großmutter half uns; sie hatte Stoff und eine Nähmaschine aus der Ukraine mitgebracht – und nun begann sie uns einzukleiden.

Vom Vater erinnert M.F. noch folgendes: „Vater wollte, daß wir eine gute Ausbildung bekommen. Er bekam es fertig, mich um ein Uhr nachts zu wecken, um mich dann zu zwingen einer Sendung zuzuhören, in der Englisch unterrichtet wurde.

Er ließ sich nie anmerken, daß ich nicht seine leibliche Tochter war. Er nahm mich sogar vor Mama immer in Schutz“.

An Maklakowo kann M.F. sich auch noch erinnern: „Wir lebten buchstäblich auf Koffern. Neben unserer Straße verlief die Jubilejnaja-Straße, in der Messerstechereien nichts außergewöhnliches waren. Abends packte die Mutter alle Sachen in die beiden Koffer, für den Fall, daß ein Feuer ausbrechen würde. Auch der Schal und Mamas Ausgehkleid wurden immer in einem der beiden Koffer verwahrt.

Der Vater hatte sehr viele Bekannte. Sie waren alle Repressionsopfer, genau wie er: Ärzte, Ingenieure, Schuldirektoren, usw. Wenn sie zusammenkamen, dann zogen sie sich immer ins große Zimmer zurück und schlossen hinter uns die Türen. Es war uns strengstens verboten den Raum zu betreten“.

Als Stalin starb, weinten sich alle die Augen aus dem Kopf, und bei uns zuhause herrschte Grabesstille.Der Vater lief munter herum, und ich wußte, daß er sich freute.

Der Vater starb Ende 1956 an einem Herzinfarkt.

1960 ereignete sich eine weitere Tragödie. Mama arbeitete damals im Durchgangshof zum Holzverarbeitungskombinat. Sie wurde von einem Fahrzeug überfahren, und mußte danach ein ganzes Jahr lang an Krücken gehen. Aber der Unfall hatte noch weitergehende Folgen. Ein Bein war nun kürzer als das andere. Deswegen arbeitete sie dann bis 1972 im Pumpenhaus. Dort brauchte sie nichts weiter tun, als das Wasser an- und abdrehen.

Aufgrund von Mamas schweren Verletzungen mußten meine Schwester, mein Bruder und ich zur Großmutter in die Ukraine fahren. Dort besuchte ich das Technikum, genau dasselbe, an dem auch mama zuende studiert hatte, allerdings an der tiermedizinischen Fakultät. An diesem Technikum brachte ich später, nachdem ich mein Studium bereits abgeschlossen hatte, auch meine Brüder und meine Schwester unter.

Das Technikum war hervorragend ausgestattet, es gab sogar eine angeschlossene Wirtschaft mit Obstbäumen und einer Viehzuchtfarm, wo die Studenten ihr Praktikum machten und auch mit Essen versorgt wurden. Bei Studiumsende mußte man drei Hagre lang arbeiten. Ich bekam eine Arbeitsanweisung für die Stadt Tschogeri, die sich in der Nachbarregion befand. Dort versetzten mich die ganzen Nachkriegsruinen in Erschütterung. Es dauerte lange, bis die Ukraine nach dem Krieg wieder aufgebaut war, denn es hatte dort schreckliche Verwüstungen gegeben.

Später kehrte ich zur Mutter zurück. Ich war ab März 1965 in Anziferowo als Tierärztin tätig, danach in Kargino.

1972 starb die mama. Niemand sprach zuhause darüber, daß sie einmal in Lagern gelebt hatte; alle hatten Angst, das zu erwähnen. Und erst von der Tante habe ich die Wahrheit erfahren“.

Die Befragung erfolgte durch Jelena Koslowa

(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“)
Fünfte Expedition für Geschichte und Menschenrechte, Nowokargino 2008


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