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Verbannungs-/Lagerhaftbericht von Anton Josifowich Mironow

A.I. Mironow Anton Josifowitsch wurde 1912 in der Siedlung (Einzelgehöft) MIRNY, BOSCHEDAROWSKER KREIS (heute KRINITSCHANSKER Kreis), Gebiet DNJEPROPETROWSK, Ukrainische SSR. Das Gehöft befindet sich in einer Entfernung von 80 km von DNJEPROPETROWSK und etwa 9 km von GULJAJPOL. Die nächste Bahnstation ist NESABUDINO, 12 km von Mirny entfernt. Ende der 1920er Jahre gab es in Mirny 42 Höfe, aber zu Beginn der 1930er Jahre waren nur noch 7 oder 8 Familien dort erhalten geblieben: einige hatte man deportiert, andere waren geflüchtet und hatten ihre Wirtschaft einfach im Stich gelassen. Die Deportationen begannen im Jahre 1929, wobei die Bauernfamilien zunächst "hinter die Grenzen des (Dnjepropetrowsker) Gebietes" verschleppt wurden.

Aber die Unterdrückung der Bauern hatte eigentlich schon früher, 1928, eingesetzt. Auper urkrainischen Dörfern und Einzelgehöften gab es in der Umgebung von Dnjepropetrowsk auch zahlreiche deutsche. So stand zum Beispiel in 18 km Entfernung von Mirny die deutsche Ortschaft MAREWKA. Anton Mironowitsch erinnert sich, wie er 1928 ins nächste deutsche Dorf zur Mühle fuhr und es vollkommen menschenleer vorfand, als ob es ausgestorben oder in unglaublicher Eile verlassen worden war. Auf den Tischen war sogar von der Mittagsmahlzeit das ganze Geschirr stehengeblieben. Es stellte sich heraus, daß die Bewohner das Dorf verlassen hatten, nach ODESSA geeilt waren, um dort einen der letzten Dampfer zu bekommen, der sie irgendwohin über den Ozean fortbringen sollte. Nur ein kleiner Teil der deutschen Bevölkerung blieb damals in diesen Gegenden, und fast alle Zurückgebliebenen wurden bald darauf Opfer der Deportationen.

In eben diesem Jahr 1928 hing über der Familie von Anton Josifowitsch eine "schwere Aufgabe". Die Familie gab alle vom Staat festgelegten Ernteerträge ab, und sogleich wurde eine neue "Auflage" über sie verhängt. Ein Teil der Wirtschaft mußte verkauft werden, und dazu gehörte auch eine der drei Kühe, aber sie erfüllten auch diese "Auflage". Und dann folgte eine weitere ebensolche Auflage.

 I.J. und S.J.Mironow  Familie

Der Familienrat trat zusammen. Wennman das gesamte Hab und Gut verkaufen würde, dann wäre es möglich, auch dieses dritte Mal die "Forderungen" zu erfüllen. Es stellte sich nur die Frage, mit welche Garantie es dafür gab, daß sich so etwas dann nicht noch einmal wiederholen würde. Sie entschlossen sich, diesmal nichts abzugeben. Im Frühjahr 1929 holten sie Josif Jefimowitsch MIRONOW, geb. etwa 1880, und verhafteten ihn "wegen der Nichtabgabe von Getreide". Später kamen von ihm zweimal Briefe aus dem KOMI SYRJANSKER Gebiet, vom 4. Lagerpunkt irgendeines Lagers.

1933 oder 1934 kam von seinen in Unfreiheit lebenden Kameraden einen Brief mit der Nachricht von seinem Tode.

Am 23. Februar 1930, gegen Mitternacht, "kamen sie", um die Familie zu holen. Sie gaben ein paar Stunden Zeit, um einige Sachen zusammenzupacken und brachten dann alle noch für Tagesanbruch zur Station NESABUDINO: die Mutter - Serafima Jakowlewna, geb. etwa 1880, die Söhne Anton, geb. 1912, und Iwan, geb. 1919, die Töchter Anna, geb. 1907, Olga, geb. 1908, und Anastasija, geb. 1910. Außer ihnen wurde in jener Nacht niemand aus dem Vowerk mitgenommen, aber an der Bahnstation waren zahlreiche Familien aus anderen Dörfern und Gehöften zusammengetrieben worden. Alle wurden in Viehwaggons verladen, die mit zweistöckigen Pritschen ausgestattet waren. Der gesamte Zug bestand aus 15-20 solcher Waggons. Dorthin, wohin man die Familie Mironow brachte, gelangten alles in allem 42 Personen. Wohin sie gebrachten wurden, das wußte natürlich niemand.

Ungefähr am 9. März 1930 kam der Häftlingszug in ARCHANGELSK an. Direkt an der Bahnstation wurden alle aus den Waggons getrieben. Man sortierte die arbeitsfähigen Männer aus, jagte sie erneut in die Waggons und brachte sie in die entgegengesetzte Richtung fort, bis zur Station JEMZA, etwa 200 km von Archangelsk entfernt. Auch Anton Josifowitsch geriet dorthin. Der Transport bestand aus 150-200 Menschen, alle aus dem "nesabudinsker" Bestand. Man verlud sie zu der 3-4 km von JEMZA entfernt gelegenen Ausweichstelle SCHELEKSA und trieb die Kolonne unter Bewachung zu Pferde 5 km weit in die dichte Taiga hinein. Dort lag an einer Waldlichtung ein Haufen Sägen und Äxte. Der Leiter der Wachsoldaten wies auf den Haufen: so, seht zu, daß ihr was gebaut gekriegt, da könnt ihr dann wohnen. Die Verbannten fingen an Bäume zu fällen und "kureni" (eigentlich: Strohhütten; Anmerkg. d. Übers.) zu bauen - bis zu 10 m hohe Hütten aus Ästen und Laub, mit vier- bis sechsstöckigen Pritschen. Es gab nichts, womit man die Baumstämme hätte aneinander befestigen können, irgendwie wurden sie durch hölzerne Bolzen miteinander verbunden. Es war ebenfalls unmöglich, die Baumstämme in den durch Frost steinharten Boden einzugraben; da ordnete die Lagerleitung an, daß die Enden in kleine, runde Aushöhlungen gestellt werden sollten, in die man dann Wasser hineingoß, so daß alles einfror. Die Dächer und Pritschen wurden mit Stangen ausgelegt und anschließend mit Zweigen bedeckt. Hier gab es keine Wachmannschaft, aber der Wald war umstellt.

Bald darauf wurden an diesen Ort neue Kolonnen von Verbannten getrieben - wahrscheinlich aus anderen Häftlingstransporten. Sie fingen an sich kegelförmige Zelte zu bauen. Lebensmittel erhielten sie im Siedlungsladen am Ufer des Flußes JEMZA. Der Vorarbeiter bestellte alle 3-5 Tage Lebensmittel für die Brigade, und dann gingen einige Verbannte unter Wachbegleitung zusammen mit ihm in die Siedlung. Auf eine Person kamen pro Tag 600-800 Gramm Brot, je nach "Kategorie" (d.h. wieviel vom Arbeitssoll erfüllt worden war; Anmerkg. d. Übers.) sowie eine Prise Graupen. Die wurden auf einmal gekocht, in einem Kessel für die ganze Brigade.

Nachdem die Brigade den Bau der "Strohhütten" beendet hatte, wurde eine Liste aufgestellt, wer sich bereits "häuslich eingerichtet" hatte, und nach einiger Zeit wurden die Familien dieser Brigadearbeiteraus Archangelsk herbeigeschafft. Es stellte sich heraus, daß die Deportierten in Archangelsk in einer Kirche festgehalten wurden, wo Tausende von Menschen auf 16-stöckigen Pritschen ein jämmerliches Dasein fristeten.

Die Familien wurden im April / Anfang Mai nach Jemza gebracht, als im Wald noch tiefer Schnee lag. Sie ließen sich in den "Stroh"-Baracken nieder. Nachts brannten in den Baracken Feuer, und durch das Dach aus übergeworfenen Zweigen schien das Mondlicht herein. Morgens mußte man die festgefrorene Kleidung von den Pritschen losreißen. Im Mai wuchs die Bevölkerung der Siedlungsverbannten auf etwa 15000 an.

In der zweiten Maihälfte verschwand der Schnee langsam, und der Boden fing an aufzutauen. Der Ort erwies sich als sumpfig, die unbefestigte Streben und Stützen der armseligen Gebäude begannen auf dem schwankenden Untergrund zu "schwimmen". Eines Nachts stürzte eine riesengroße Baracke in sich zusammen, in der 300-400 Verbannte schliefen. Viele kamen dabei ums Leben oder wurden zu Krüppeln.

Als viel schrecklicher erwies sich noch etwas anderes. Direkt in der Siedlung taute der Unrat auf floß durch die Gegend und sammelte sich in der Umgebung der Behausungen an. Die Menschen erkrankten an Ruhr und anderen Infektionskrankheiten. Im Juni starben pro Tag etwa 40 Leute. Die Behörden fingen an unruhig zu werden und begannen, die Verbannten von diesem tödlichen Ort wegzubringen. Gerüchten zufolge wurden etwa 7-8 Tausend Überlebende fortgebracht. Zuvor, Anfanf Juni oder Ende Mai, war die Erlaubnis erteilt worden, Kinder bis zum 11. Lebensjahr in die Heimat zurückzuschicken, sofern sich dort Verwandte um sie kümmern konnten. Es hieß, daß angeblich N.K. Krupskaja diese Genehmigung erwirkt hatte. Iwan MIRONOW wurde von seiner älteren, verheirateten Schwester nach Hause geholt, die nicht unter die Deportationen geraten war.

Zu Beginn des Sommers wurde in der Siedlung eine Maschinensäge für Holz aufgestellt, anschließend bauten sie ein Krankenhaus, ein Kontor, einen Laden. Im Juli fing man damit an, die Verbannten abzutransportieren - sie wurden auf Waggons verladen und auf den nördlichen Eisenbahnstrecken in alle Richtungen auseinander gebracht. Die MIRONOWS wurden Anfang August 1930 in den PLESEZKER Kreis, im Gebiet Archangelsk, gebracht, zum Kilometer 13 des Eisenbahnabzweigers, der von PLESEZK nach KOTSCHMAS führt. Dort stand die Siedlung des WJETKOWSKER Holzfäller-Lagerpunktes, wo zu dieser Zeit bereits Verbannte zusammen mit freien Arbeitern lebten. Aus Emza wurden 8-10 Waggonladungen mit Verbannten hierhergebracht, ungefähr 300-400 Menschen. Weiter entlang der Eisenbahn-Nebenstrecke gab es noch andere Siedlungen, in die ebenfalls Verbannte aus Emza gerieten: am Kilometer 17 waren es wenige Siedlungen, und am Ende des Abzweigers, 22 km von PLESEZK entfernt, bestand die Siedlung aus 5-6 Lager-Baracken.

In der Holzfäller-Siedlung fingen die Verbannten an Baracken zu errichten - mit zwei Eingängen und zwei Vorbauten, zwei Gemeinschaftsküchen und 10-12 Zimmern. In jedem Zimmer ließ sich eine Familie nieder. Mitte der 1930er Jahre befanden sich in der Siedlung 32 solcher Wohnbaracken, nicht mitgerechnet jene Gebäude, die bereits vor dem Auftauchen der verbannten Ukrainer dort gestanden hatten.

Es gab in der Siedlung ein Krankenhaus, eine Zehnklassen-Schule, in der die Kinder der Verbannten aus dem gesamten Plesezker Kreis unterrichtet wurden. In andere Schulen wurden sie nicht aufgenommen. Alle Lehrer an der Schule waren ebenfalls Verbannte, nur der Direktor war ein freier Arbeiter, ein Leningrader mit Frau und zwei Töchtern (siehe unten).

Ein Teil der Verbannten war bei der Eisenbahn tätig, die übrigen arbeiteten in der Waldwirtschaft - sie fällten Bäume, rodeten die Baumstümpfe, zersägten die Stämme und verluden das Holz. Das Fichtenholz wurde für den Export versandt. Frauen wurden für diese Arbeit nicht eingestellt, und sie begannen nach und nach in den vom Holzeinschlag gelichteten Revieren Gemüse anzupflanzen. Später entstand eine landwirtschaftliche Genossenschaft; Kühe wurden dorthin geschafft, und man begann damit,die Butter aus der Genossenschaft zum Verkauf nach Plesezk zu fahren. In der Genossenschaft arbeiteten hauptsächlich Frauen. Den nicht Arbeitsfähigen standen 400 Gramm Brot zu, die sie auf Karten bekamen. Im Dorfladen gab es immer vielerlei Arten Fisch, Graupen, sogar Fleisch. Dies hier war nicht mit den Hungerjahren 1932-33 zu vergleichen. 1933 erlaubte man einem der Verbannten zu seinen in Eltern in die Ukraine zu fahren. Er kehrte voller Schrecken zurück und erzählte, daß er sich sogleich auf den Rückweg gemacht hatte, nachdem er gesehen hatte, was dort vor sich ging.

Anfangs mußten sich die Verbannten alle 10 Tage in der Kommandantur melden und registrieren lassen, später nur zweimal im Monat. Ende 1934 oder Anfang 1935 kam aus Archangelsk eine Anfrage nach lese- und rechtschreibkundigen Mädchen. Aus der Siedlung schickte man etwa 10 dorthin, darunter auch Olga und Anastasja MIRONOW. Nach einer Woche kam von ihnen ein Brief. Es stellte sich heraus, daß man ihnen einen Posten verschafft hatte - Olga als Vorsitzende (?) des Gebietskomitees und Anastasja als Direktorin am Puschkin-Theater. Sie erhielten von ihren Dienstherren Verpflegung, Lohn wurde ihnen gezahlt und sie konnten sich gut kleiden. 1935 oder 1936 erhielten Olga und Anastasja einen Paß.

Am 3. März 1935 erhielten Anton Josifowitsch sowie vier andere Siedlungsbewohner einen Paß - jene, die zu den guten Arbeitern gerechnet wurden; etwas später bekamen noch drei weitere Bewohner ebenfalls einen Ausweis. In jenem Jahr fuhr Anna MIRONOW nach Dnjepropetrowsk. Bis zur Deportation hatte sie als Maschinistin im Kreis-Exekutivkomitee gearbeitet, und erst jetzt stellte sich heraus, daß sie gar nicht in den Deportationlisten gestanden hatte. Für die Fahrt bekam sie in der Kommandantur eine Reisebescheinigung.

Irgendwie lud Anastasja einmal in einem ihrer Briefe den Bruder zu sich ein. Anton Josifowitsch kam für einige Tage nach Archangelsk. Es km heraus, daß der Theaterdirektor mit seiner Familie in Urlaub gefahren war; deshalb hatte Anastasja den Bruder auch einladen können. Die Wohnung des Direktors befand sich im Theatergebäude. Anton Josifowitsch hatte das Glück, aus der Direktorenloge einer Opernaufführung zu lauschen.

Anfang 1937 kam Olga unverhofft in die Siedlung und erzählte, daß in der Nacht Soldaten in die Wohnung eingedrungen wären und den Hausherrn und seine Frau fortgebracht hätten. Sie selbst hatte den Befehl erhalten, sich innerhalb von 24 Stunden aus dem Staub zu machen. Im Sommer kamen von Anastasja plötzlich keine Briefe mehr, aber einige Zeit später kam dann doch wieder einer ... aus Dnjepropetrowk. Sie schrieb, daß der Theaterdirektor, dessen und Frau und kleiner Sohn verhaftet worden wären und man sie aufgefordert hätte weiterzufahren, ebenfalls innerhalb von 24 Stunden. Sie mußte wohl schreckliche Angst gehabt haben, wenn sie nicht einmal kurz bei den Ihrigen hereingeschaut hatte.

Ab Herbst 1937 fanden in der Siedlung, bei Kilometer 13, Massenverhaftungen statt. Die Menschen wurden von einem Bevollmächtigen der Kreisverwaltung namens SINZOW abgeholt. In der Siedlung wußte man bereits: sobald aus Plesezk bei Kilometer 22 ein "Stolypin"-Waggon durchgefahren war, da wählte Sinzow auch schon die nächsten Opfer am Kilometer 22 aus, dann bei Kilometer 17 und zum Schluß bei Kilometer 13. Und in Plesezk werden sie an den Zug gehängt und nach WOLOGDA ins Gefängnis gejagt. Dort übergibt SINZOW die übliche Partie Menschen und ist nach zweieinhalb Wochen wieder zurück.

Im September oder Oktober 1937 wurden die KOLTSCHINS verhaftet - der Vater und zwei Söhne. Sie waren Verbannte in JEMZA. Der Vater wurde etwa 1880 geboren, der älteste Sohn, Chauffeur von Beruf, ungefähr 1910, der jüngere um 1913. In JEMZA befand sich auch eine deutsche Familie, die 1929 aus MAREWKA deportiert worden war - Eduard WAGNER mit seiner Frau, ihrem Sohn Johann Eduardowitsch WAGNER, geb. 1912 oder 1913, und dessen Schwester. Den Sohn holten sie Ende 1937, der Vater wurde 1938 verhaftet.

Im Herbst 1937 holten sie aus der Siedlung den Bulgaren Petr MOSKATOW, einen Verbannten aus der Ortschaft MARFOWKA bei KERTSCH. Er und seine Frau Maria waren ebenfalls in JEMZA gewesen. Nach seiner Verhaftung blieb er spurlos verschwunden. Später, im Jahre 1948, als Anton Josifowitsch zum Kilometer 13 kam, erzählte Maria, daß ihr Mann erschossen worden sei.

Im Herbst 1937 wurde Schuldirektor SYKOW, geb. etwa 1895, verhaftet (siehe oben).

Ende 1937 oder Anfang 1938 wurden die beiden verbannten Ukrainer Wasilij LYSENKO, geb. 1907 oder 1908 (er arbeitete bei der Verladung) und Jegor KOPPA, geb. um 1895, verhaftet.

Im März 1938 holten sie Sachar Iwanowitsch SAMARSKIJ, geb. zwischen 1885 und 1890, sowie seinen Bruder, und nach etwa 10 Tagen, ebenfalls im März, die Söhne des Bruders - Petr und Stepan SAMARSKIJ. Sie arbeiteten im Waldpunkt bei der Verladung. Diese beiden Familien waren ebenfalls in EMZA.

Ende März oder Anfang April 1938 wurde der verbannte Pole SIWEK (geb. etwa 1885) verhaftet. Seine Ehefrau sowie seine beiden Töchter waren 1930 in JEMZA an Ruhr gestorben, und er hatte danach den Verstand verloren. Mit der Zeit kam er wieder zu sich, wurde jedoch nicht vollständig gesund.

Anfang April wurden der Holzfäller Grigorij SLASCHTSCHOW (geb. etwa 1912) und die beiden Brüder GOLOWKO - der eine von Beruf Postbote (geb. um 1917), der andere Buchhalter in der Waldstation (geb. ca. 1914) - verhaftet. Auch Sie waren Verbannte aus JEMZA. Dort wurde auch Iwan Antonowitsch KULIK (geb. um 1907), Leiter eines Geschäftes, ungefähr am 20. April 1938 verhaftet. Gleichzeitig holten sie auch einen älteren alleinstehenden Verbannten, der, ebenso wie einer der Brüder Golowko, im Kontor der Waldstation in der Buchhaltung arbeitete.

Später, bereits im Sommer oder Herbst 1938, wurde der Vorsitzende der landwirtschaftlichen Genossenschaft ORNAZKIJ verhaftet, aber nach ein oder zwei Monaten ließen sie ihn wieder laufen. Ungefähr zu dieser Zeit wurde ein Arzt aus dem Siedlungskrankenhaus, der Verbannte Frol Iwanowitsch TSCHORNIJ, verhaftet. Auch er wurde zwei Monate nach seiner Verhaftung wieder auf freien Fuß gesetzt. Seine Ehefrau, Vera Pawlowna, ebenfalls Verbannte, arbeitete als Lehrerin an der Schule der Siedlung.

Wahrscheinlich wurde im Mai 1938 Grigorij MASURENKO (geb. um 1910) verhaftet. Er und seine Frau Anastasija waren Verbannte; er arbeitete als Vorarbeiter in der Holzverladung. Sie gaben ihm nach §58 DREI Jahre, die er im ARCHBUMSTROJ (siehe unten) zubrachte. Bei Ende der Haftstrafe wurde er entlassen, kehrte zu seiner Ehefrau zurück und ging einen Monat später an die Front, wo er im Herbst 1941 ums Leben kam.

Im Frühjahr 1938 arbeitete Anton Josifowitsch als Helfer des Streckenmeisters (zuvor hatte er eine Zeit lang die Siedlungskantine geleitet. Ein gewisser Ilja Sacharowitsch SAMARSKIJ (geb. etwa 1908), der Sohn von S.I. SAMARSKIJ, war bei ihm als Brigadier. Am 29. April 1938 kamen sie, um sowohl ihn als auch den Brigadier zu holen. Ab Kilometer 17 befand sich mit ihnen auch der Streckenmeister Iwan Alexejewitsch ISAKOW (geb. ca. 1910) in dem Stolypin-Wagen. Im März hatten sie, genau wie bei Samarskij, auch seinen Vater abgeholt, und jetzt wurde auch ihm dieser Gang zuteil. In dem Waggon befanden sich ungefähr 15 Verhaftete, und mehr Menschen ließen man bis ganz nach WOLOGDA auch nicht mehr einsteigen. Bis zu diesem Tage hatte man am Kilometer 13 etwa 30 Menschen abgeholt.

Am 1. Mai wurden die Verhafteten in WOLOGDA ausgeladen und ins Gefängnis geschickt, wo man sie in mehrere Zellen auseinanderdrängte. Anton Josifowitsch geriet in eine Zelle von 3 mal 3 Metern, in die 36 Menschen hineingestopft worden waren. Geschlafen wurde der Reihe nach: es war unmöglich, daß alle sich gleichzeitig hinlegten. Das einzige "Fenster" in der meterdicken Wand hatte die Größe einer Lüftungsklappe. Bekannte sah Anton Josifowitsch in der Zelle nicht. Dort saß der Sänger am Wologodsker Operntheater KOPEJKIN. Abends, vor dem Zapfenstreich, sang er die Arie "Was wird der kommende Tag mir bringen? ..." Ebenfalls befand sich in der Zelle der Leiter der Mühle in WOLOGDA mit der obligatorischen Anklage: "Er hat Glas ins Mehl gestreut". Der Zellenälteste war ein leitender Beamter aus der Verwaltung der Nördlichen Eisenbahnlinie, möglicherweise der stellvertretende Leiter des Unternehmens. Er berichtete, daß der Leiter der Eisenbahnverwaltung, der in einer anderen Zelle gesessen hatte, beim Verhör aus dem Fenster des dritten Stocks gesprungen war.

Im Juni setzte die Hitze ein, und in der Zelle konnte man kaum noch atmen: sie befand sich an der Sonnenseite. Nach ergebnislosen Forderungen sie an einen anderen Ort zu verlegen, erklärten die Häftlinge verzweifelt den Hungerstreik. Nach ein paar Tagen wurden sie in den Korridor hinausgeführt, und diejenigen, die das Bewußtsein verloren hatten, wurden irgendwohin fortgetragen. Die Aufseher versuchten alle übrigen einzeln dazu zu zwingen, den Hungerstreik abzubrechen, aber die Hälfte bestand trotzdem weiterhin auf ihren Forderungen. Die Widerspenstigen wurden in den "Turm" geschickt. Das war ein runder Raum auf derselben Etage, mit einem Fußboden, der zur Mitte hin abgesenkt und mit stinkendem Wasser gefüllt war. Lediglich entlang den Wänden war ein trockener Streifen von etwa einem halben Meter Breite geblieben. Tatsächlich gab es in jedem Stockwerk des Gefängnisses einen solchen Raum, denn der Turm verlief durch alle Etagen.

In diesem Turm konnte man vor lauter Gestank überhaupt nicht atmen, es war unmöglich zu schlafen, zwischen den Beinen liefen die Ratten herum. Am nächsten Tag wurde den Häftlingen Brot durch die "Essensklappe" geworfen - genau in die stinkenden Wasserpfütze hinein. Niemand nahm es auf, aber sogleich machten sich die Ratten darüber her. Drei Tage verbrachten die Gefangenen im Turm und kehrten dann in ihre Zelle zurück.

Zum Verhör wurden sie mit einem "schwarzen Raben" gebracht. Antin Josifowitsch wurde 4 oder 5-mal dorthin gefahren; die Vernehmungen dauerten 2 - 3 Stunden. Zuerst hängte ihm der Untersuchungsrichter, neben dem obligatorischen Paragraphen 58, Absatz 10 und 11, auch noch den § 58-6 (Spionage) an, und firsierte dabei die Akte so zurecht, daß er und Johann WAGNER sich in dieselbe "Organisation" hatten "einschreiben" lassen. Gerüchten zufolge war das Strafmaß für Deutsche der § 58-6, der den Erschißeungstod zur Folge hatte. Aber einmal, als sie Anton Josifowitsch zum nächsten Verhör brachten und durch einen langen Korridor führten, wurden aus irgendeiner Zellentür Johann WAGNER und noch ein junger Deutscher aus ihrer Siedlung hinausgestoßen, und bevor man sie firtbrachte gelang es ihnen noch zu rufen: "Anton, wir verraten über dich kein Sterbenswörtchen!" Und tatsächlich ließ man den Punkt "Spionage" in ihrer Anklageschrift später fallen.

Einmal geschah folgendes: Anton Josifowitsch wurde zu einer Gegenüberstellung mit SIWEK (siehe oben) gerufen, und jener verleumdete ihn, daß er angeblich die "Sowjet-Macht beschimpft" habe. Es war nämlich so, daß in der Baracke, in der SIWEK untergebracht war, im gegenüberliegenden Zimmer eines jungen Deutschen sich die Jugend versammelte hatte, um dem Grammophon zu lauschen. Und schon habt ihr eure konterrevolutionäre Organisation! Und kurz nach dieser Gegenüberstellung ereignete sich eine merkwürdige Sache. Sie steckten eben jenen SIWEK zu Anton Josifowitsch in die Zelle. Die Zellengenossen hatten schon von der Gegenüberstellung erfahren und veranstalteten mit ihm ein Verhör. Es stellte sich heraus, daß der Untersuchungsführer ihm versprochen hatte ihn zu entlassen und ihm eine Imkerei bei Wologda zu geben (in der Heimat war er Bienenzüchter gewesen), wenn er viele Feinde anzeigen würde. Und er gab sich Mühe. Nach ein paar Tagen holten sie SIWEK aus dieser Zelle wieder ab. Später erfuhr Anton Josifowitsch von einem Häftling, der mit SIWEK gesessen hatte, daß jener zum Tod durch Erschießen verurteilt wurde. Das Urteil wurde in 15 Jahre Haft abgeändert.

Anton Josifowitsch saß die Monate Mai, Juni und Juli in WOLOGDA. Für die "Gerichtsverhandlung" brachten sie in zur Station NJANDOMA. Die Verurteilung ging sehr schnell vor sich: den einen bringen sie hinaus, den nächsten sofort hinein. Und alles nur wegen eines einzigen Paragraphen-Absatzes, dem Absatz 11, der aber bei allen in den Anklagepunkten mit drinstand. Die Urteile wurden, wie man sagte, von einem Eisenbahntransport-Kollegium gesprochen. Es gab sogar einen Verteidiger, der vorschlug, den Tod durch Erschießen in Gefängnishaft umzuwandeln. Sie gaben ein Strafmaß von 8 Jahren. In der Rehabilitationsbescheinigung steht: Urteil des Gerichtes der Nördlichen Eisenbahnlinie vom 27. Juli 1938 und der Entscheid des Kollegiums für das Transportwesen beim Obersten Gerichtshof der UdSSR vom 15. September 1938. Später gab man Anton Josifowitsch eine Kopie des Urteils (sie ist verlorengegangen), in der die Leute aufgeführten waren, die mit ihm in diesem Gemeinschaftsfall verurteilt worden waren, darunter auch Johann WAGNER und die Brüder GOLOWKO. Aber weder am Tag der Verhandlung noch später hat Anton Josifowitsch einen von ihnen zu Gesicht bekommen. Dafür befanden sich unter den 7 oder 8 Männern, die an jenem Tag zur Verhandlung geführt wurden, I.S. SAMARSKIJ und I.A. Isakow. SAMARSKIJ bekam 10 Jahre, Isakow 7. Beide gerieten zusammen mit Anton Josifowitsch ins ARCHBUMSTROJ. ISAKOW wurde nach Ablauf der Frist nicht aus dem Lager entlassen, sondern bekam als Verbannter den Posten eines Spediteurs. SAMARSKIJ starb ungefähr im September 1940 an Gelbsucht. Es ging sehr schnell - am Morgen erkrankte er, und abends war er bereits tot.

An jenem Tag wurden die Häftlinge erneut in Stolypin-Waggons gestoßen und nach ARCHANGELSK transportiert. Dort verschiffte man sie an der Anlegestelle auf den kleinen Dampfer "Balchasch" (sie gaben ihm den Spitznamen "Floh"), der regelmäßig auf der Nördlichen Dwina (Flußname; Anmerkg. d. Übers.) zum ARCHBUMSTROJ fuhr, 20 km oberhalb von Archangelsk.

Die Häftlinge des Archbumstroj wußten nicht, zu welcher Lagerverwaltung ihr Lager gehörte. In Archangelsk befand sich die Verwaltung des BERESLag. Es kann sein, daß es auch vom Archangelsker Zellulose- und Papier-Kombinat gegührt wurde. Die Zone des Archbumstroj war riesig, für mehrere tausend Häftlinge. Der Lagerleiter war ein älterer NKWD-Mitarbeiter mit einem Platinschädel - wie ein Helm. Er war ein wahrer Henker und Sadist, der ganz besonders die Bewohner aus dem Kaukasus und aus Mittelasien haßte. In die Zone wurden viele Kirgisen, Tadschiken, Usbeken, Georgier und Armenier getrieben. Extra für sie befahl er riesige Spaten aus Eisen anzufertigen. Zu dieser Zeit bauten die Gefangenen an der Dwina eine Anlegestelle vertieften das Flußbett am Ufer für den Holzumschlagplatz. Die Todesrate unter den Häftlingen aus Mittelasien und dem Kaukasus war sehr groß, man kann von einem Massensterben reden. In der Tat gab es auch solche Fälle: zwei Usbeken waren an Ruhr gestorben, und da fand man doch tatsächlich bei einem von ihnen im Arbeitskittel tausend und bei dem anderen eintausendfünfhundert Rubel - sie hatten ihre Essensrationen verkauft. Und es traf eine Etappe nach der anderen aus Mittelasien und den Kaukas-Gebieten im Archbumstroj ein.

Der stellvertretende Lagerleiter war GOLOBATSCHOW, ein Militärangehöriger (nicht aus dem NKWD). Mit dem Lagerleiter vertrug er sich nicht. Ende 1940 oder Anfang 1941 erschien eine Kommission im Lager. Gerüchten zufolge war der Grund dafür eine Beschwerde von Seiten GOLOBATSCHOWS. An diesem Tag wurden die Häftlinge, alle bis auf den letzten, aus der Zone gejagt. Nach einer Woche verhafteten sie den Lagerleiter und später gingen Gerüchte, daß sie ihn als Volksfeind erschossen hatten. Nun leitete GOLOBATSCHOW das Lager.

Unter seiner Führung verbesserten sich die Bedingungen im Lager. Er entfernte die Diebe aus dem Lager. Es wurde ein Lebensmittelkiosk eingerichtet, in dem nichtkriminelle Frauen Handel trieben. Dort wurden Milch, Konfekt, Machorka (Tabak; Anmerkg. d. Übers.) verkauft. Mit Erlaubnis des Lagerleiters konnte man von seinem Konto monatlich 10 Rubel für solche Dinge verbrauchen. Dieses Geld gaben sie einem bar auf die Hand und gingen dann gemeinsam mit ihnen zum Verkaufsstand. GOLOBATSCHOW schonte die Menschen, wenngleich sie Sklavenarbeitskräfte waren, wußte die gescheiten Spezialisten zu schätzen und wußte sie aus anderen Lagern herauszureißen und zu sich zu bestellen. Ingenieure, Techniker, Meister, die mit der Etappe aus Workuta und sogar aus Kolyma ankamen, waren sehr erstaunt, daß hier alle entsprechend ihrer Berufsausbildung arbeiteten und sie nach all dem, was sie in den anderen Lagern durchgemacht hatten, hier wie im siebten Himmel lebten. Bis zum Beginn des Krieges war die Verpflegung nicht schlecht. Pro Tag gab man ihnen ein Kilogramm oder mehr an Brot, und für gute Arbeit - mehr als eineinhalb Kilogramm. Sie lebten in großen hölzernen Baracken mit warmen Fußböden. In einer solchen Baracke standen 6 Öfen, es gab stets genug Brennholz. In einer Baracke waren etwa 200 Menschen auf zweistöckigen Pritschen untergebracht. In der Zone gab es mehr als zehn dieser Wohnbaracken. Zwei davon waren Frauen-Unterkünfte, später blieb nur eine davon übrig. Die Baracken wurden nicht abgeschlossen. An die zweiflügeligen Türen wurden Gewichte mit Zugfedern angebracht, damit im Winter die Wärme nicht entwich.

In manchen Baracken wohnten Paragraph-Achtundfünfziger, in anderen Diebe und andere Nichtkriminelle. Nachdem GOLOBATSCHOW die Diebe aus der Zone entfernt hatte, bestand die Mehrheit aus Häftlingen, die nach § 58 verurteilt worden waren. Ihre Haftstrafen waren ganz unterschiedlich: 3, 5, 7, 8, 10 Jahre. Aber hier war niemand, der zu mehr als zehn Jahren verurteilt worden war, d.h. Leute mit höheren Haftstrafen wurde in dieses Lager nicht gebracht.

Sonntags hatten die Gefangenen frei, nur während des Krieges bekamen sie lediglich alle 10 Tage frei. Gearbeitet wurde jeweils 10-12 Stunden. Anfangs gruben sie riesige, zehn Meter tiefe Baugruben aus, anschließend errichteten sie hölzerne Pfeiler. Der Bau wurde von einer Zimmermannsbrigade geleitet, und zwei- bis dreimal täglich überprüften die Meister, ebenfalls Häftlinge, ihre Arbeit. Anton Josifowitsch verbrachte ein Jahr bei solchen Kolonnenarbeiten, dann wurde er Zimmermann in der KWTsch (Stelle für die Unterhaltung und Reparatur von Gebäuden; Anmerkg. der Übers.) und verließ seitdem die Zone kaum noch. Die Zimmermannsbrigade bei der KWTsch saß nicht tatenlos herum: in der riesigen Zone wurden ständig Reparaturen an Dächern, Türen, Pritschen, usw. erforderlich. Diese Brigade nagelte Kisten zusammen, in denen die Häftlinge begraben wurden (siehe unten).

Später, als man mit dem Bau der Werkshalle des Kombinates begann (dort wurde insbesondere Papier für Geldscheine hergestellt), arbeiteten dort die Häftlinge aus eben jener Zone. Freie Mitarbeiter saßen nur in der Firmenleitung des Kombinates. Anfang 1943 begann man im Kombinat mit der Produktion von Alkohol. Er war für technische Zwecke bestimmt und gelangte durch Rohre in andere Werkshallen. An so einer Währung kam natürlich niemand vorbei. Pfiffige Köpfe bohrten die alkoholischen Rohrleitungen an und steckten einen Bolzen mit einem Stück Gummi in das entstandene Loch. Bemerken konnte man das nur, wenn man direkt daneben stand. Bei Bedarf zogen sie den Bolzen heraus und hielten eine Dose darunter.

Leiter der KWTsch war ein §58-Häftling, der Moskauer Ingenieur und Bau-Fachmann Ilja Fjodorowitsch REPIN (geb. um 1900). Er war zu 7 Jahren verurteilt worden, und die Haftzeit sollte etwa im Januar 1946 enden. Offensichtlich war er ungefähr im Januar 1939 verhaftet worden.

Ende 1940 kam S.I. Samarskij mit einer Etappe ins ARCHBUMSTROJ. Bis zu dem Zeitpunkt hatte er in MOLOTOWA (heute SEWERODWINSK) gesessen. Seine Frist betrug 10 Jahre. Sie erzählten ihm sogleich vom Tode seines Sohnes, bis zu dem Moment, wo Anton Josifowitsch ihm begegnet war. Den alten Mann setzten sie als Gehilfen in der Kantine ein.

Bald nach Beginn des Krieges wurde die Verpflegung im Lager erheblich schlechter. Ein wenig später, besonders 1942, als lange Zeit keine Lieferungen ankamen, kam es vor, daß die Häftlinge pro Tag 200 Gramm Trockenbrot und Wassersuppe aus getrockneten Brotkrümeln erhielten. Zu dieser Zeit fielen auch in Archangelsk die Menschen einfach auf der Straße um und starben an Hunger.

Wenngleich während dieser Hungerzeiten die Häftlinge nicht zur Arbeit gejagt wurden, starben in einem Zeitraum von 24 Stunden etwa 30-40 Menschen. Die Leichen wurden zu mehreren in große Bretterkisten mit weit auseinanderklaffenden Ritzen gelegt. Die Soldaten an der Wache stießen mit Bajonetten in diese Ritzen hinein, um sich davon zu überzeugen, daß wirklich nur Tote darin lagen. Einmal gelang es zwei Häftlingen, sich zwischen den Leichen zu verstecken und zu entkommen, obwohl einer von ihnen durch das Bajonett des Wachmannes verletzt wurde. Die Entflohenen schickten REPIN einen Brief, als sie bereits an der Front waren.

Der Friedhof befand sich im Torfmoor, einen Kilometer von der Zone entfernt, hinter der Bäckerei. Auf der gegenüberliegenden Seite der Zone, auch etwa einen Kilometer von ihr entfernt, begann des Territorium des Papier-Kombinates. Im Winter wurden die Kisten mit den Toten nur so weit ins Torfmoor eingegraben, daß die Oberseite mit dem Sumpf auf gleicher Höhe war.

Einmal trieben sie mehr als hundert Frauen (zu 25-35 Jahren Verurteilte) ins ARCHBUMSTROJ, Deutsche aus dem Wolgagebiet. Sie wurden nicht in der Zone gehalten, sondern nebenan, in einer Baracke, die mit einem gesonderten Stacheldrahtzaun umgeben war. Nachts wurden sie in ihrer Baracke eingeschlossen, aber tagsüber, während der Arbeitszeit, liefen sie ohne Wachbegleitung herum. Sie führten unterschiedliche Arbeiten aus, unter anderem ware sie auch als Zimmerleute tätig.

1943 kamen englische Schiffe nach Archangelsk, die mit kanadischem Weizen und anderen Lebensmittel-Frachten beladen waren. Mehrmals wurden Häftlinge aus dem Archbumstroj in kleinen Gruppen zum Entladen der Schiffe gejagt. Auch Anton Josifowitsch mußte beim Ausladen helfen. 15-20 Häftlinge mit zwei Wachmännern fuhren auf dem "Floh" nach Archangelsk und kehrten auf dieselbe Weise in die Zone zurück.

Der Weizen befand sich in kleinen Säcken und war für die erschöpften Menschen bestimmt. Manchmal waren die Säcke auch doppelt so groß; dann wurden sie in zwei Hälften aufgeteilt.

Viele Häftlinge hatten nach der erst vor kurzem überstandenen Hungerszeit noch immer nicht genügend Kraft, um sich auf den Beinen zu halten; sie aßen sich mit dem Weizen voll und starben an Darmverschlingung. Einige Seeleute warfen aus Weizen gebackene Meterbrote vom Deck ins Wasser und fotografierten dann, wie die Häftlinge sich ins Wasser der Dwina stürzten. Später kamen dann auch Lieferungen mit Eipulver und amerikanischem Speck. Diese Lebensmittel fanden sich sogar in der Lagerration wieder, damals gab es schon keinen großen Hunger mehr in der Zone. Als Mittel gegen Nachtblindheit verabreichte man Robbentran.

Mit dem Eintreffen der nächsten Schiffskarawane begannen Luftangriffe auf Archangelsk.Auch Anton Josifowitsch geriet in den Bombenhagel, als man ihn zum Abladen der Schiffe schickte. Mitunter wurde auch das Lager von Bomben getroffen; es gab Opfer.

1944 tauchten im ARCHBUMSTROJ deutsche Kriegsgefangene auf. Wo sich ihre Wohnzone befand und wie sie aussah, das weiß Anton Josifowitsch nicht. Die Kriegsgefangenen arbeiteten in Brigaden und verrichteten ebensolche arbeiten, wie die anderen Lagerhäftlinge, manchmal auch unweit voneinadner. Die Brigaden der Kriegsgefangenen wurden von ihren Offizieren kommandiert. Anton Josifowitsch mußte einmal mit ansehen, wie ein Brigadier mit der Faust einem ihm unterstellten Landsmann ins Gesicht schlug. Jedoch hatten die Gefangenen einen ernsthaften Grund die Kriegsgefangenen zu beneiden - denen wurde das Mittagessen zurm Arbeitsplatz gebracht: Reisbrei mit Butter und Weißbrot-Stückchen. Und unsere Häftlinge erhielten bloß Frühstück und Abendessen sowie ein halbes Kilo Brot.

Während des Krieges wurde niemand aus dem Lager entlassen. Alle, deren Haftzeit vorüber war, blieben dort "bis auf weiteres" inhaftiert.

Zum Ende des Krieges erhielten die Häftlinge Pakete von zuhause. Es gab auch Besuche. Anton Josifowitsch bekam eine Sendung von seiner Schwester in Dnjepropetrowsk. Deswegen holten sie ihn in die Ausgabestelle. Der Wachmann riß es auf und fing an, alles durcheinander zu wühlen. In dem Paket waren Zwieback, ein Gläschen Marmelade, ein Päckchen Tee. Und Speck, eingewickelt in Zeitungspapier. Die Zeitung war wohl deutscher Herkunft. Da ging es erst richtig los!

Sie schleppten mich zur Lagerleitung. GOLOBATSCHOW war empärt und sagte: "Die sind wohl verrückt geworden, was?" Im großen und ganzen half er ihm aus der Patsche. Und wenn jemand anderer an seiner Stelle gewesen wäre? Am dritten Tag durfte er das Paket dann doch entgegennehmen.

Im Juli 1945 starb REPIN, der Leiter der KWTsch., dem bis zum Haftende nur noch sechs Monate nachgeblieben waren. Wie gewohnt hatte er bei GOLOWATSCHOW eine schriftliche Mitteilung zum Vorzeigen bei der Wache erhalten "4 Mann mit Repin aus der Zone entlassen"; er nahm die vier Zimmerleute und ging mit ihnen zum Bauholz hinüber, welches hinter der Zone , zwei Schritte von der Wache entfernt, aufgestapelt war. Am Wachhäuschen stand irgendwie ein neuer Soldat. Er zählte die vier Zimmerleute und ließ sie passieren, und als Repin hinter ihnen herschritt, schrie er: "Wo willst du denn hin?" und schoß Repin unverzüglich in den Bauch.

Repin wurde sehr schnell ins Krankenhaus gefahren. Es war ein unglücklicher Zufall, daß die Sache unmittelbar nach dem Frühstück passiert war. Wäre eine solche Verwundung auf nüchternen Magen geschehen, hätte man ihn retten können. Es kam zu einer umfangreichen Blutvergiftung und nach ein-zwei Tagen starb er. Ausnahmsweise erlaubte die Lagerleitung, daß Repin in einem echten Einzelsarg beerdigt wurde.

Im Sommer 1945 verbrachte Anton Josifowitsch 10 Tage im prophylaktischen Lager-Sanatorium, das nach dem Kriegsende mit Deutschland entstanden und für "geschwächte und guter Arbeiter" bestimmt war. Es gab dort 10-15 Plätze - nicht mehr. Dort bekam man sogar Reisbrei und morgens 200 Gramm Weißbrot und 30 Gramm Tafelbutter - die sah Anton Josifowitsch hier zum ersten Mal seit seiner Verhaftung.

Anfang November 1945 wurden Anton Josifowitsch und 5 weitere Häftlinge, deren Haftzeit sich ebenfalls dem Ende zuneigte zur Etappe aufgerufen. Man ließ sie in ein Auto einsteigen und brachte sie zur Station ISAKOGORKA, und von dort in einem Eisenbahnwaggon nach ARCHANGELSK. In der PROLETKULT-Straße (Straße der Proletarischen Kultur; Anmerkg. d. Übers.), die auf den OBWODNIJ KANAL (Umführungskanal; Anmerkg. d. Übers.) stößt, gegenüber vom Gefängnis, befand sich eine kleine Zone aus 3-4 kleinen Baracken. In ihnen wurden etwa 50 Gefangene gehalten. Der Leiter der Zone war CHOCHLOW, ein älterer Soldat im Ruhestand. Die Neuankömmlige wurden in dieser Zone zum Badehaus geführt und erhielten neue Wäsche. Man gewährte ihnen einen Tag Erholung; danach wurden sie zur Arbeit geschickt.

Die Arbeiten waren ganz verschiedenartig - sie entluden Waggons, hackten aus dem Eis gefrorenes Holz. Der 7. und 8. November waren freie Tage, und am 8., nach dem Mittagessen, wurden die "Neuen" ins Kontor gerufen, wo ihnen der Vorarbeiter einen Passierschein aushändigte.

Da in die Zone nur jene gerieten, deren Haftzeit sich dem Ende zuneigte, war anzunehmen, daß niemand fliehen würde. Das Lager wurde von der städtischen Lager- und Militär-Leitung

geführt. Morgens gab der Vorarbeiter Adressen aus, wo man z.B. Türen reparieren sollte. Einmal traf Anton Josifowitsch bei solch einem "Arbeitsabruf" ein Mädchen, das ihm aus dem Archbumstroj bekannt war (dort hatte sie eine kurze Haftstrafe wegen eines Alltagsdeliktes abgesessen).

Den ganzen Winter 1945-1946 war Anton Josifowitsch mit Reparaturarbeiten im Restaurant "Arktika" beschäftigt.

Lagerleiter CHOCHLOW war sehr für Laienspiel-Aktivitäten zu haben und unterhielt bei sich in der Zone einen Musikkreis: dort gab es einen Bajanspieler, einen Gitarristen, einen Balalajkaspieler. Dort sang auch eine hervorragende Sängerin; sie hieß Nadja. Anton Josifowitsch trat dem Kreis bei, um auf der Mandoline zu spielen (er konnte mehrere Instrumente sehr gut spielen).

Abends veranstaltete der Zirkel Konzerte in der Lagerkantine. CHOCHLOW und seine Frau kamen immer zum Zuhören. An den Sonntagen spielten die Musiker im Klub, wo sich die Ortsbewohner zusammengefunden hatten, zum Tanz auf. Der Bajanspieler besaß keinen Passierschein, er kam unter der Begleitung eines Wachsoldaten zu der Tanzveranstaltung.

Eine Zeit lang mußten wir Gerste für die Brauerei abladen. Dort auf der Arbeit erhielten wir Bewirtung - in Form von je 3 Litern Bier. Anfangs nahmen wir das Bier mit in die Zone, aber am zweiten Tag hatte irgend jemand zu tief ins Glas geguckt, und der Lagerleiter verbot das Einbringen von Bier in die Zone. Da fingen wir an, es auf dem Rückweg von der Brauerei an die Ortsbewohner zu verkaufen.

Am 29. April 1946 bekam Anton Josifowitsch seine Entlassungsbescheinigung sowie 44 Rubel. Er begab sich zum Paß-Schalter, aber dort herrschte Vorfeiertagsstimmung - sie sagten ihm, er solle am 5. Mai wiederkommen. Eine Woche mußte er noch bei der Zone wohnen. Für Freigelassene (deren Haftstrafe nach §58 erfolgt war) gab es eine "Direktive" die besagte, daß die Arbeitsanfahrt und - aufnahme nur "auf Anordnung" erfolgen durfte. Und gewöhnlich schickte man sie dann zu den schmutzigsten und am schlechtesten bezahlten Arbeitsplätzen. Als er am 5. Mai erneut zum Paß-Schalter ging, war der Vorgesetzte nicht da. Anton Josifowitsch überredete daraufhin den paßausstellenden Mitarbeiter, daß er sich selber eine Arbeit suchen wollte und dann darüber am Paßschalter Bescheid geben würde.

Anton Josifowitsch wurde bei der Arktiksnab als Lastträger im Hafen von BAKARIZA eingestellt, am linken Ufer der Nördlichen Dwina, 3 km von der Stadt entfernt, wo sich die Versorgungsbase Arktiksnab befand. Er bekam einen Paß mit einem Jahr Gültigkeit. Was es hier nicht alles gab: deutsche Beutestücke - "Lügendetektoren", die wie Sessel aussahen und mit Leistungsdrähten umwickelt waren, Flügel und Klaviere. Alles stand unter freiem Himmel, unter die Klaviere wurden gegen Quittung an diejenigen vergeben, die gern eins haben wollten. Es gab auch viele Lebensmittel an der Station: Reis, Corned Beef, Zucker in großen 105 Kilo-Säcken, die die Lastträger auch irgendwo anders hinschleppen mußten. Die Frachten wurden nach Dickson und weiter nach Nowaja Semlja versandt

Nach einem halben Jahr wurde Anton Josifowitsch zum Brigadeführer bei den Lastträgern ernannt (zur Brigade gehörten 45 Mann), er heiratete und bekam ein Zimmer zugeteilt.

Als Papanin in Archangelsk eintraf, lud die Brigade seinen Waggon aus: Möbel, ein Klavier, teppiche. Für die im Hafen geleisteten Überstunden erhielten sie "papaninskische Bezugsscheine" - und mit denen bekamen sie Reisbrei mit eingewecktem, geschmortem Schweinefleisch.

Im August 1948 wurde Anton Josifowitsch zur Miliz bestellt, wo er die Anordnung erhielt, innerhalb von drei Tagen die Stadt zu verlassen, sich jedoch nicht weiter als 200 km von ihr zu entfernen: "Es gibt eine Verfügung, nach der ehemaligen Polit-Häftlingen der Aufenthalt in bestimmten Städten verboten ist (dazu gehörten Hauptstädte, Industriezentren, Güter-Umschlagplätze, Grenzstädte, usw.; Anmerkg. d. Übers.). Es half nichts. Er und seine Frau entschlossen sich nach Plesezk zu fahren, immerhin ein bekannter Ort. Dort nahm Anton Josifowitsch eine Arbeit als Tischler im Militär-Hospital auf. Aber damit noch nicht genug. Am 30. Juni 1949 brachten sie ihm von der Miliz eine Vorladung. Anton Josifowitsch begab sich nach der Arbeit dorthin, aber um diese Zeit war schon kein leitender Angestellter dort mehr im Dienst. Er traf lediglich ein Mädchen an, das damit beschäftigt war Dokumente auszustellen, und er erkannte es. Es war Lida, die Tochter des Lagerkommandanten aus der Siedlung am Kilometer 13. Sie verriet ihm imVertrauen, daß alle "Politischen" in den Norden verbannt wurden. Anton Josifowitsch kehrte nach Hause zurück, und sogleich stürzte die Miliz mit einem Haftbefehl herein.

In der Untersuchungszelle war er der Fünfte. Am Morgen wurden alle zum Moskauer Zug gebracht. Lida war es gelungen, Anton Josifowitsch mit den Begleitwachen in einem gewöhnlichen Waggon unterzubringen, während die vier anderen in einen Stolypin-Wagen gestoßen wurden. In ARCHANGELSK brachten ihn die Begleitsoldaten zum MGB (Ministerium fürs innere Angelegenheiten).

Im inneren Gefängnis verbrachte Anton Josifowitsch etwa einen Monat in einer Einzelzelle. Ungefähr vier Mal wurde er dem Untersuchungsrichter CHALTURIN zum Verhör vorgeführt, immer nachts. Es war nicht erlaubt tagsüber zu schlafen. Der Untersuchungsrichter war bemüht, aufgrund seiner alten Akte eine weitere Haftstrafe zu erwirken. Die Akte lag vor ihm auf dem Tisch, und er schrie: "Warum haben sie die so wenig gegeben?"

Da schrieb Anton Josifowitsch eine Beschwerde an den Staatsanwalt. Dieser rief ihn zu sich und sagte:"Sie bekommen einen neuen Ermittlungsführer, er wird ihren Fall auch zum Abschluß bringen". Der neue Ermittlungsführer schrie nicht und schrieb alles richtig auf, was Anton Josifowitsch ihm sagte. Dann rief er ihn zu sich, erklärte ihm, daß sein Fall abgeschlossen sei und er nun in eine gewöhnliche Zelle verlegt würde. Anschließend verlas er das Urteil des Sonder-Kollegiums: Verbannung "ohne das Recht in die Heimat zurückzukehren".

In der allgemeinen Zelle befanden sich etwa 10 Häftlinge. Die Zelle lag in demselben Gebäude, am Ende des Korridors, in der zweiten Etage. Sie war recht groß und mit Parkettboden ausgelegt. In der Zelle standen einfache Betten mit Bettwäsche und Kissen, es gab Schachspiele, alte Bücher und Zeitungen. Die Diensthabende führte die Gefangenen jeweils zu viert zur Toilette, und zweimal die Woche zwang sie sie, den Fußboden mit Wachs zu bohnern. Anton Josifowitsch verbrachte in dieser Zelle etwa zwei Wochen.

Mit ihm in der Zelle saßen zwei Brüder, beide Traktoristen, die später mit einer Etappe nach KARAGANDA gerieten, und der Offizier KUSNEZOW (geb. etwa 1910), der aus einem Dorf bei KANSK stammte und bis dahin in einem Lager in der Region Archangelsk gesessen hatte. Er und Anton Josifowitsch kamen in die Region Krasnojarsk, und Kusnezow war sehr zufrieden, daß man ihn schon "fast bis nach Hause" schickte.

Nach der Urteilsverkündung wurde es den Häftlingen erlaubt Briefe zu schreiben und Sendungen zu empfangen. Im August, am Tag der Luftflotte, brachten sie Anton Josifowitsch ein Päckchen in die Zelle - es war von seiner Frau.

Vor der Etappe brachte man sie ins Badehaus - zusammen mit Frauen. Am Abend wurden sie mit einem kleinen Dampfer ans linke Ufer der Nördlichen Dwina gebracht und zu sechst (KUSNEZOW war auch dort) in einen Stolypin-Waggon gestoßen. Man fuhr sie ins WOLOGODSKER Gefängnis, wo sie im Keller untergebracht wurden. Am folgenden Morgen setzte man sie in Güterwaggons und transportierte sie nach KIROW. Das war Ende August.

Im KIROWSKER Gefängnis, in einer großen Zelle, in der sich etwa 20 Häftlinge befanden, saß Anton Josifowitsch den ganzen September des Jahres 1949. Allen wurde erklärt, daß sie in "nördliche Gebiete" verbannt würden, so daß jene, die Verwandte hatten, diesen schreiben konnten, daß sie warme Kleidung schicken sollten. Etwa drei Tage vor der Etappe gaben sie die Erlaubnis zum Lagerkiosk zu gehen, um dort Papirossi, Briefumschläge und dergleichen zu kaufen. Etwa 15 Personen machten sich in Begleitung eines Wachsoldaten auf den Weg. Der Kiosk stand auf einem Platz unweit des Gefängnisses. Zurück gingen sie durch eine andere Querstraße und sahen am Weg einen Gemüsestand. Einer von ihnen fragte: " Wollen wir Möhren kaufen?" Der Begleitsoldat hatte keine Einwände. Die Häftlinge kaufen große Mengen an Wurzeln, Kartoffeln, Kohl und Tomaten, und später, im Gefängnis, beschlossen sie, alles in die Küche zu geben, damit man ihnen dort eine Borschtsch-Suppe kochte. Der Borschtsch wurde dickflüssig, reichte für 2-3 Tage, und das Gemose reichte sogar noch für einen Salat.

Ungefähr 30 Mann wurden auf Etappe geschickt. Am Abend wurden sie zur Station gebracht und in Kälberwaggons untergebracht, die mit zweistöckigen Pritschen ausgestattet waren. Zu dem Zug gehörte noch ein weitere ebensolcher Waggon mit Verbannten, aber er wurde in Krasnojarsk abgehängt. Es gab auch zwei gewöhnliche Waggons, wahrscheinlich ebenfalls mit Gefangenen, sowie einen Waggon für die Wachmannschaften. Bis nach Krasnojarsk benötigte der Zug etwa zwei Wochen. Einige Male wurde er für 1-3 Tage auf ein Abstellgleis gestellt.

In Krasnojarsk kamen sie ins Gefängnis, in den Keller, und am folgenden Morgen brachte man sie zum Bahnhof und transportierte sie dann mit ein oder zwei Begleitpersonen in Passagierwaggons nach Kansk. Von dort kamen sie mit zwei Lastwahen nach DOLGIK MOST (heute ABANSKER Kreis). Einige aus der Etappe, darunter auch KUSNEZOW, wurden von Kansk aus an irgendeinen anderen Ort gebracht.

Dort wurden sie drei Tage festgehalten - es wurde klargestellt, wer über welche spezielle Berufsausbildung verfügte. In DOLGIJ MOST, im Klub, brachten sie den Bajanspieler unter (er hat sein Bajan-Akkordeon mitgebracht), ebenso einen Buchhalter und noch zwei oder drei aus der Etappe. Die übrigen kamen nach PAKATEJEWO, am Fluß BIRJUSSA. Das heißt, sie gingen zufuß, nur die Sachen befanden sich auf einem Fuhrwerk. Zwei Begleitsoldaten gingen mit. Unterwegs übernachteten sie in einem hölzernen Klubhaus; am zweiten Tag erreichten sie PAKATEJEWO (etwa 60 km von DOLGIJ MOST entfernt). Das Dorf selbst steht am linken Ufer der BIrjussa, am rechten standen zwei Baracken für Verbannte. Sie wurden mit einer Fähre übergesetzt.

Zu dieser Zeit lebten hier schon etwa 25 Verbannte. Den Ankömmlingen wurde erklärt, daß sie zur "ewigen Ansiedlung" hierher verbannt worden seien,und am nächsten Tag schickte man sie zusammen mit den "Alteingesessenen" zum Bäumefällen. Unter den Verbannten befand sich auch ein Holzeinschlag-Meister.

Die Verbannten kamen im Oktober 1949 nach PAKATEJEWO. Das Haupt-Waldlager lag in der Siedlung GORODOK am Flüßchen PANAKATSCHET, 15 km von Pakatejewo entfernt. Im Sommer wurde ein Teil des Holzes ans Ufer der Birjussa geschleppt und ins Wasser gelassen, bei einem Teil der Stämme wurde im Mai-Juni die Rinde entfernt und sie dann an Ort und Stelle im Wald aufgestapelt. Irgendwer hat es wohl später abtransportiert. Die Löhne für die Holzfällerarbeiten waren erbärmlich, nicht einmal warme Arbeitskleidung konnte man sich davon kaufen.

Unter den Verbanden war ein Deutscher aus der UKRAINE; er stammte aus einer Bauernfamilie, die 1930 deportiert worden war: Josif Josifowitsch GEK (geb. ca. 1910-1915). Bis zur Verbannung hatte er 10 Jahre nach §58 in einem Lager unweit von PLESEZK gesessen. Anton Josifowitsch sägte mit ihm zusammen Holz.

Ab Juni 1950 begann man ihnen Urlaub zu gewähren. Einer der Verbannten organisierte für die Urlaubszeit eine Fischfang-Brigade. Man gab ihnen Boote und ein 70-Meter-Netz. Anton Josifowitsch und J.J. Gek traten der Brigade ebenfalls bei. Die gefangenen Fische gaben sie im Gechäft ab oder schickten sie in Fässern nach Dolgij Most (die damalige Kreisstadt). Nach einem Monat hatte jeder Fischer sich 1400 Rubel verdient. Damals wimmelte es in der Birjussa nur so von Fischen - Tajmen-Lachse, Renken, Grünlinge. Einmal sahen die Fischer, daß auf der Sandbank ein zwei Meter großer Tajmen-Lachs herumtollte. Sie stürzten los, um ihn zu fangen, aber da verfing sich das Netz auf dem Flußgrund unter einem Stein. Anton Josifowitsch tauchte hinab, um es frei zu bekommen, und blieb darin selber mit seinem Fuß hängen - es gelang ihnen kaum ihn herauszuziehen.

Bald nach dem Urlaub wurden Anton Josifowitsch und J.J. Gek in ein neues Revier am Flüßchen TILITSCHET verlegt, 8 km von Gorodka entfernt. Dort arbeitete Anton Josifowitsch zuerst als Zimmermann, später transportierte er Holz. Hier waren die Löhne besser als in PAKATEJEWO, und es gelang den Menschen, sich nach den Strapazen im Gefängnis und auf der Etappe zu erholen. In dem neuen Revier errichteten sie eine große, dreißig Meter lange Baracke, die in Zimmer aufgeteilt wurde, in denen insgesamt etwa 70 Personen untergebracht werden konnten. Dann bauten sie eine Kantine, einen Pferdestall, ein Badehaus. Außer dem Revierleiter Gruschtschenko waren alle anderen Menschen hier Verbannte. Unter ihnen gab es Polen, Deutsche, Esten, Letten. In GORODOK hatte es viele verbannte Südländer gegeben: Armenier, Georgier, Tschetschenen.

Reviermeister war der Deutsche Karl Adamowitsch GEK (geb. um 1910). Er hatte an der Front gekämpft, war dort der Partei beigetreten, besaß militärische Auszeichnungen. Sein Bruder Adam Adamowitsch GEK (geb. etwa 1915) war Vorarbeiter. Er war nicht an der Front gewesen. Die Brüder befanden sich hier im Status von Sonderzwangsumsiedlern.

Anton Josifowitsch, selber Musikant, organisierte mit Verbannten einen Musikkreis in dem Revier   ist erhalten geblieben). Grischtschenko  brachte aus Kansk eine Geige für den Kreis  mit. Auf dieser Geige spielten zwei Letten: Janis ZIRULIS und Janis SWIKLIS (beide etwa 1910 geboren). Der verbannte Buchhalter Alexej SCHUWALOW (geb. etwa 1910) und die aus Deutschland stammende Deutsche Rosa WAGNER (geb. ca. 1931)

nahmen ebenfalls and em Musikkreis teil. Im Mai 1951 bekam sie die Erlaubnis zur Abreise. Aus Moskau schrieb sie, daß man ihr Geld und Obligationen (Staatsanleihen) umgetauscht hatte und sie nach Deutschland fahren würde. Im November 1951 fuhren die Letten in ihre Heimat zurück.

Vom Lohn wurden 5% für den Erhalt der Kommandantur einbehalten. Einmal im Monat kam der Kommandant ins Revier. Aber ab 1951 tauchte er dort nicht mehr auf und die Verbannten wurden überhaupt nicht mehr registriert.

Anton Josifowitsch erhielt im August 1951 die Genehmigung, sich eine Arbeit entsprechend seiner Berufsausbildung zu suchen, und fuhr in den UDERIJSKER (heute MOTYGINSKER) Kreis, an der unteren Angara gelegen. J.J. GEK blieb in TILITSCHET. Um an die Angara zu gelangen, mußte man über Krasnojarsk fahren. UDEREJSKER Kreisstadt war bis 1956 die Siedlung JUSCHNO-JENISSEJSKIJ. Zu jener Zeit gab es dort fast fünftausend Einwohner. Wahrscheinlich waren mehr als die Hälfte von ihnen Verbannte. Gleich nach seiner Ankunft ließ sich Anton Josifowitsch in der dortigen kommandantur registrieren. Als Kommandant GRJASNOW erfuhr, daß ein Zimmermann eingetroffen war, freute er sich und schickte Anton Josifowitsch in die Kommunalabteilung, damit man ihm dort die notwendigen Papiere ausstellte und ihn damit sofort zurück zur Kommandantur schickte: Grjasnow hatte nämlich gerade darüber nachgedacht sein Kabinett neu auszustatten.

Ein gewisser KANDELAKI arbeitete als Oberarzt im Kreis-Krankenhaus, ein ehemaliger Häftling. Dort, im Krankenhaus, arbeiteten der Hals-Nasen-Ohren-Arzt BUCHGOLZ (oder BUCHHOLZ) aus dem Baltikum und der Chirurg BAGDASARJAN, beide ebenfalls Verbannte und ehemalige Häftlinge. All diese Ärzte waren nicht mehr jung, so um die 60.

In der Siedlung arbeitete im Baubereich der verbannte Bautechniker SCHEREBILOW. Bis zur Verbannung hatte er 20 Jahre gesessen. In JUSCHNO-JENISSEJSK gab es viele ehemalige Soldaten und Offiziere, die nach der Kriegsgefangenschaft in die Verbannung geraten waren: Adam Nikolajewitsch KORSCHANEWSKIJ und TSCHERNOW aus Weißrußland (beide gingen später in die Heimat zurück), FILO (der später auf die heimatliche Krim zurückfuhr), Stepan REJNIKS, Iwan KWASOW, Wladimir GOLOWISNIN, Nikolaj BARINOW, Dmitrij SCHULJOW, Pjotr KOWALKOW, Demjan BOSCHNJAK, Nikolaj KUSNEZOW, MEDWEDEW, BALANDIN, LUBESCHKO.

Der Pianist und Theaterregisseur aus Weißrußland, Iwan Stepanowitsch SLOTNIKOW geriet als "Deserteur" in die Verbannung, aber in Wirklichkeit wahrscheinlich aus dem Grunde, daß er unter Besatzung geblieben war. Dafür, daß sie in Besatzungsgebiet gewesen waren, schickten sie aus der Umgebung von Moskau auch Fjodor NIKONOW und Alexej GOMONOW in die Verbannung.

Der Ungar Viktor BARO (geb. etwa 1915) war anfangs aus der ungarischen Armee desertiert und wurde dann wegen "Desertation" aus der Sowjetarmee verbannt. In der Verbannung heiratete er und fuhr mit seiner Familie Anfang der 1960-er Jahre zurück in die Heimat.

Bereits etwa 1953 mußten die Verbannten in JUSCHNO-JENISSEJSK sich nicht mehr bei der Kommandantur melden und regelmäßig registrieren lassen. Anton Josifowitsch lebte dort mit seiner Familie bis 1979; danach zogen sie nach Krasnojarsk um.

Laut Mitteilung der Dnjepropetrowsker Gebietsstaatsanwaltschaft vom 06.08.1990 wurde Josif Jefimowitsch MIRONOW, geb. 1887, am 02.03.1931 von der BOSCHEDAROWSKER

Kreis-Abteilung der Miliz der GPU der Ukrainischen SSR verhaftet und gemäß Beschluß eines Sonder-Kollegiums der GPU der Ukrainischen SSR vom 30.03.1931 nach § 54-10 des ukrainischen Strafgesetzes zu einer dreijährigen Verbannung ins Nördliche Gebiet verurteilt.

Das Urteil wurde von der Gebietsstaatsanwaltschaft aufgehoben, die Rehabilitationsbescheinigung wurde am 06.08.1990 ausgestellt. Laut Bescheinigung lebte J.J. MIRONOW in dem Dorf WJETROWKA. Nach der ersten Verhaftung saß er ein halbes Jahr und wurde nach seiner Rückkehr erneut verhaftet.

Im Archiv:

Im Fotoarchiv:

29.08.1990, aufgezeichnet von W.S. Birger, Gesellschaft "Memorial", Krasnojarsk


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