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Verbannungs- / Lagerhaftbericht von Lidia Andrejewna Rau

Kurzbiographie

Geboren 1920.

Lebte im Wolgagebiet – in dem Dorf Neuenorg (Nowaja Norgija), im Gebiet Saratow.

Vater: Andrej Andrejewitsch Rau. Kolchosvorsitzender. Er war ein sehr geachteter Mann. 1938 verhaftet, verurteilt zu 5 Jahren Erziehungs- und Arbeitslager wegen „Propaganda gegen die Sowjetmacht“. Damals wurden viele Männer aus dem Dorf weggeholt.

An ihre Mutter kann sie sich nicht erinnern.
Sie hatte eine zwei Jahre ältere Schwester.

Das Hungerjahr 1933

1933 herrschte eine große Hungersnot. Die Familien waren sehr groß, und es kam vor, dass ganze zehnköpfige Familien vom Hunger dahingerafft wurden. Zwei Drittel der Dorfbevölkerung starben. Als erstes starben die Männer. Und auch die Familien, die die Arbeit nicht besonders liebten, sondern faul waren, denn sie hatten in ihrer Wirtschaft nichts, was sie hätten essen können.

Man begrub die Toten selbst, sie wurden auf Leiterwagen abtransportiert. Jeden Tag starben 5-6 Menschen.

Es kam auch vor, dass sie ihre eigenen Kinder aßen. In einer Familie starb der Mann. Es waren drei Kinder da. Eines nachts erstach die Mutetr die jüngste Tochter. Und die ältere Tochter sagt später: Was ist denn das für Fleisch, das sieht ja aus, wie Finger!? Die Mutter antowrtet – so habe ich es gekauft. Später wollte die Mutter auch die mittlere Tochter abschlachten, aber die älteste erwachte, sah, was los war und rannte zur Großmutter, der Mutter väterlicherseits. Sie zittert fürchterlich und sagt – ich geh nicht mehr nach hause, ich werde jetzt bei dir bleiben. Die Großmutter meldete alles dem Dorfrat. Die Mutter des Mädchens wurde dorthin bestellt; in dem Augenblick, als sie zur Tür hereintrat – da brach sie auf der Schwelle tot zusammen.

Andrej Andrejewitsch RauIm Sommer kochten sie Suppe aus Brennesseln und Melde. In der Kolchose erhielten sie täglich pro Person 200 Gramm Brot. Sie versuchten die Kühe ein wenig schneller zu schlachten, damit man sie ihnen nicht fortnahm; nur die Schafe ließen sie bis zum Sommer. Zur Planerfüllung mußten sie die Lebensmittel abgeben. Die Schafe waren schnell gegessen – jeweils vier Familientaten sich zusammen; bei irgendeinem wurde ein Schaf geschlachtet; das aßen sie auf und gingen dann zur nächsten Familie.

Die Lebensmittel wurden ihnen weggenommen. Lidia Andrejewna erinnert sich an einen Vorfall, als bei den Nachbarn eine Lebensmittelrevision stattfand. Der Ehemann war nicht zuhause,und die Frau machte die Haustür nicht auf, denn sie war sich ganz sicher, dass irgendwelche Banditen sich gewaltsam Zutritt verschaffen wollten (im Prinzip war das dann auch so). Einer der Ankömmlinge, er war kein Ortsansässiger, stieß sie mit dem Gewehrkolben heftig beiseite. Dabei löste sich ein Schuß, und die Kugel schlug im vom Kinn aufwärts in den Kopf. Der Mann war auf der Stelle tot (ein Hund soll auch den Hundetod sterben!). Sie zerrten ihn in den Vorratsraum, wo er bis zum Winter liegenblieb. Niemand wollte ihn beerdigen. Im Frühling begann die Leiche aufzutauen, und da riefen sie Leute aus der Bezirksstadt herbei, um ihn begraben zu lassen. Die stellten einen Stock mit einem roten Stern auf. Niemand bedauerte den Mann. Der Vater sagte: „Nun, da hat der junge Mann selbst sein Leben zugrunde gerichtet“. Die Frau wurde zum Dorfrat bestellt, wo sie alles ganz genau erklärte. Es wurde kein Ermittlungsverfahren gegen sie eröffnet.

Sie versuchten aus der Kolchose manches zu stehlen. Ein Mann transportierte einen Sack nach Hause, der bekam dafür fünf Jahre. Ein anderer, Wasilij, deren Frau bereits im Herbst gestorben war, und der zwei Kinder hatte, verlor den Verstand und rannte mit einem ganzen Kessel Kohlsuppe davon. „Wohin rennst du?“ – „Ich weiß nicht, alle rennen doch, ich renne auch...“

Die Schüler (auch Lidia Andrejewna) wurden auf die Felder gejagt; dort versuchten sie zu essen. Sie kochten Mais. Auf dem Feld schafften sie es zu essen, aber etwas mitgehen zu lassen gelang ihnen nicht. Sie kauten Sonnenblumenkerne. Einmal kam der Bevollmöchtigte aus der Bezirksstadt, er sagt: „Die haben aber viele Kerne geknackt!“

Ein Jahr lang arbeitete sie als melkerin in der Kolchose. Lidia Andrejewna und ihre Freundinnen beendeten die Traktorenkurse. Im Winter lernten sie, im Frühjahr kam das Praktikum,und im Sommer – ging es zur Arbeit. Ein ganzes Jahr arbeitete sie als Traktoristen an der Maschinen- und Traktorenstation.

Deportation

1940 wurden die wolgadeutschen Männer noch in die Armee einberufen. Als der Krieg gegen Deutschland ausbrach, hörte das auf.

Im September 1941 wurde befohlen, die Traktoren zur Maschinen- und Traktorenstation zu bringen; es gab eine Erklärung, dass die Menschen drei Tage später ausgesiedelt würden. Sie glaubten das nicht, aber es erwies sich als wahr. Man gestattete ihnen die Mitnahme von Bettzeug, Schuhwerk und Essen.

Das Vieh wurde in ein benachbartes russisches Dorf getrieben.

Eine Woche saßen sie an der Bahnstation fest. Zwei Männer versuchten zu fliehen, aber sie wurden zurückgehalten. Sie fuhren in beheizbaren Waggons, in denen zweistöckige Pritschen standen; und in der Mitte war ein Loch. Der Bereich war überhaupt nicht abgeschirmt, aber dort mußten sie ihre Notdurft verrichten.

Sie nahmen Mehl mit und schlachteten ein Schaf. Unterwegs aßen sie alles, was sie mitgenommen hatten – zu essen bekamen sie sonst nichts. Manchmal hielten sie an, entfachten Lagerfeuer und kochten sich etwas Eßbares.

Die Männer wurden nicht abgetrennt, sondern fuhren zusammen mit ihren Familien. Im Falle der Raus wurden sie, ihre Schwiegermutter, die älteste Schwester und drei kleine Kinder von zuhause weggeholt. Man deportierte sie in die Region Tomsk, Welischansker Bezirk, in die Ortschaft Kanasch. Pro Woche erhielten die, die arbeiteten 4-5 Kilogramm Hafermehl. Nach dem Sieben war nur noch die Hälfte davon übrig.

In Kanasch gab es keine Sonderkommandantur, niemand meldete sich polizeilich an. Aber es rannte auch niemand weg – wohin denn?

Anfangs brachte man sie im Klub unter, später wurden sie auf provisorische Unterkünfte verteilt. Die ortsansässige bevölkerung verhielt sich ihnen gegenüber normal, nur ein Junge wurde „ausfällig“ – er hänselte Lida mit der Bezeichnung „Hitler“. Aber das konnte sie nicht ertragen und schlug ihm dafür heftig ins Gesicht. Er beschwerte sich darüber bei den Erwachsenen, aber die gaben ihm gleich noch eins draud – „warum beschimfst du sie denn auch?!“.

Zum Zeitpunkt der Aussiedlung konnte Lida nur schlecht Russisch, aber sie gewöhnte sich daran (in erster Linie lernte sie Fluchen – ohne Flüche konnte man irgendwie nirgends auskommen). Heute spricht Lidia Andrejewna nichtschlecht Russisch, aber sie baut die Sätze wie im Deutschen auf und von allen Fällen mag sie den Nominativ am liebsten.

Im Herbst 1941 wurden alle Männer in die Trudarmee geholt. Diejenigen, die von dort zurückkamen, berichteten, da viele dort starben; man entkleidete sie, brachte sie in der Nacht fort und stapelte sie auf dem Boden. Im Frühjahr, wenn die Leichen anfingen aufzutauen, übergoß man die Leichen mit Benzin und zündete sie an. Das, was übrigblieb, wurde dann in eine Grube geworfen.

1942, im Winter, begab sich Lida mit noch einer anderen Frau hinaus aufs Feld. Dort standen Ähren aus dem Schnee hervor. Sie schnitten sie ab, säuberten sie, trockneten sie auf dem Ofen und zerrieben sie. Eine Nachbarin sah das und meldete es der Miliz.

In der Untersuchungszelle in der Bezirksstadt gefiel es ihr: in der Kolchose starb man entweder an Hunger oder manmußte stehlen. Aber in der Arrestzelle gaben sie einem einen Laib Brot. Sonst hatte sie seit ihrer Ankunft aus Rußland (Sibirien gehörte für sie nicht zu Rußland) kein Brot mehr gesehen.

Drei Tage später die Gerichtsverhandlung. Waren sie dorthin gegangen? Ja, das waren sie. Hatten sie Ähren abgeschnitten? Ja. Sie bekamen bis zu zwei Jahre aufgebrummt.

Aus der Arrestzelle mußte sie zufuß nach Tjumen gehen. 4 Wachsoldaten begleiteten sie. Lidia Andrejewna sah zum ersten Mal in ihrem Leben einen Sumpf und wunderte sich: so ein riesiges Feld! Warum säen sie hier nichts an?

Ihre Strafe verbüßte sie in Omsk.

Im Lager

Im Lager mußten sie zuerst Kohle ausladen, dann wurden 8 Frauen zum Bau geschickt. Die Brigadeleiterin, Schenja, war Russin, alle übrigen – Deutsche. Sie wurden von einem einzigen Wachsoldaten begleitet. Die Tagesnorm für zwei Personen lautete – Fertigstellung eines Raumes. Das Mittagessen wurde in der Arbeiterkantine ausgegeben, wo die Verpflegung merklich besser war, als im Lager. Im Lager gab es Wassersuppe aus irgendwelchen Därmen gekocht, aber hier aßen sie – Gulasch. Übrigens erhielten sie bei Planerfüllung im Lager einen
Essenszuschlag, eine Prämie – mal geräucherten Fisch, mal 300 Gramm Tafelbutter und manchmal sogar Wurst. Einmal im Monat bekamen sie 50 Rubel, ein halbes Kilo Zucker, ein Achtel Machorka, zwei Schachteln Streichhölzer und ein Päckchen Aufgußtee.

Als man sie zum Getreideabladen trieb, trugen die Frauen manchmal bis zu einem Kilogramm an ihrer verborgensten Stelle nach Hause (richtiger gesagt: „sie trugen es in sich“). Ein halbes Kilo verkauften sie (eine halbe Dose voll kostete acht Rubel), die andere Hälfte kochten sie.

In den Baracken standen durchgehende Pritschen.

Der Sonntag war ein freier Tag. Samstags wurden sie brigadenweise ins Badehaus geführt. Pro Monat bekamen sie ein halbes Stück Seife. Mit dem Kämmen gab es Probeleme: die Metallkämme hatte man ihnen weggenommen, und andere gab es nicht. Lange Haare hatte damals fast keine, aber Lidia Andrejewna löste das Problemnoch viel entschiedener. Sie rasierte sich die Haare „unter der Maschine“ ab und behielt diese „Frisur“ bis ihrem Fortgang aus dem Lager – Läuse bekam sie nicht, sie brauchte keine Seife verschwenden und auch mit den Kämmen gab es bei ihre keine Probleme.

Im Lager setzte bei den Frauen aufgrund der schlechten Ernährung und schweren belastungen die monatliche Regel aus, denn der Organismus hatte begonnen, bur noch für das blanke Überleben tätig zu sein.

Anstatt zwei Jahre verbüßte sie nur eine Strafe von einem Jahr und zwei Monaten; dann kam sie im Rahmen der Amnestie vom März 1943 frei. Sie erhielt eine Bescheinigung über ihre Freilassung, aber man schickte sie nicht in die Sonderansiedlung zurück. Sie fuhr in die Region Krasnojarsk; das hatten die anderen Frauen ihr eingeredet. Dort arbeitete sie in einer Sowchose, wo sie buchstäblich alles abfraß (sie aß Gemüse direkt vom Feld), so dass die anderen gefangenen Frauen sie schließlich „Dicke Lida“ nannten. Später zog sie nach Momotowo um; dort arbeitete sie im Ziegelwerk und formte Ziegel.

Momotowo

Lidia Andrejewna Rau und Kondrat (Konrad) Kondratowitsch WeberKondrat (Konrad) Kondratowitsch Weber – geboren am 25. August 1899, lebte als Sondersiedler in Momotowo; er war Deutscher und stammte ebenfalls von der Wolga. 1948 heirateten sie und lebten 38 Jahre zusammen. Die Kinder erhielten den Nachnamen des Vaters.

Er war zwanzig Jahre älter als sie, verheimlichte jedoch sein wahres Alter – Lidia Andrejewna war lange Zeit überzeugt, dass er lediglich 12 Jahre älter war als sie. Pässe besaßen sie nicht (Lidia Andrejewna erhielt ihren erst kurz vor der Rente, in den 1970er Jahren – aber das kam daher, dass ihre Geburtsurkunde im Gebiet Saratow verlorengegangen war), und das richtige Alter ihres Ehemannes erfuhr Lidia Andrejewna ganz zufällig, als sie einmal einen Blick in seinen Militärpaß warf.

Sobald sie verheiratet waren, wurde sie erneut zur Sondersiedlerin erklärt: zusammenmit ihrem Ehemann mußte sie sich regelmäßig in der Sonderkommandantur melden und registrieren lassen. Sie war darüber sehr verwundert: bis zu dem Zeitpunkt hatte sie sich nie melden müssen – nicht einmal in Kanasch.

In Momotowo bekamen die Mänenr eine Brotration von einem Kilogramm, Frauen 800 Gramm, nichtarbeitende Familienmitglieder 200 Gramm. Die Norm war für alle gleich, egal, ob es Sondersiedler oder Ortsansässige waren.

Aus Momotowo erinnert sie noch weitere Deutsche – Wasilj und Jekaterina Kiselman(n), Iwan Schlein.

Die Befragung erfolgte durch Aleksej Babij, Jekaterina Beresnewa und Walerij Zurow

(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft)


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