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Verbannungs- / Lagerhaft-Bericht von Gotlib (Gottlieb) Gotlibowitsch Roller

geb. 11.09.1924
Geburtsort: Ukraine, Gebiet Odessa, Dorf Großliebenthal.

Der Vater, Gotlieb (Gottlieb) Roller, war Bauer. In der Familie gab es fünf Kinder: drei Wöhne und zwei Töchter. Gottlieb war der kleinste. In diesem Dorf lebte er bis zu seinem 20. Lebensjahr. Er ebendete 10 Klassen an der Mittelschule in Saratow. Dort wurden drei Sprachen gelehrt: Ukrainisch, Französisch und Englisch; bis 1937 war jedoch Deutsch die Unterrichtssprache, und sämtliche Fächer wurden in dieser Sprache unterrichtet (übrigens hat Gotlib Gotlibowitsch einen interessanten deutschen-ukrainischen Akzent: einige Wörte spricht er mit deutlich ukrainischem Akzent aus oder verwendet sogar ukrainische Wörter, andere wiederum sind einwandfrei deutsch. Man merkt, dass Russisch nicht seine Muttersprache ist – A.B.).

Die Mutter starb 1934 an Hunger. Der Vater wurde 1937 wegen eines Briefes verhaftet, der im Ausland geschrieben worden war. Und seit der Zeit hat Gotlieb Gotlibowitsch seinen Vater nicht mehr gesehen; er wurde von seiner Schwester großgezogen. Er war nie Mitglied der kommunistischen Jugebdorganisation. Der Ehemann der älteren Schwester war Russe.

Nach 1937 verließen insgesamt drei Personen das Dorf Großliebenthal, um eine weiterführende Ausbildung zu machen.

Als der Krieg begann war Gottlieb 17 Jahre alt. Den ganzen Krieg hindurch lebte er unter den Besatzungsmächten. Rumänische und deutsche Truppen marschierten bereits am zweiten Tag des Kriegsgeschehens ein. Massen-Erschießungen haben sie im Dorf nicht mitbekommen; es wurden nur einmal ein Mann und eine Frau erschossen, die unter den Sowjets als Denunzianten für den NKWD gearbeitet hatten.

1944 zogen sich die Deutschen zurück. G.G. Roller nahmen sie, wie viele andere „Volksdeutsche“ mit nach Deutschland, in das Örtchen Wartekol (Warthegau?) an der Oder. Man Transporte sie mit dem Zug, zu Pferde, manch einer ging auch zufuß. Sie nahmen Lebensmittel mit, die für eine Woche reichten.

Anschließend vertrieb man sie nach Polen. Dort arbeiteten sie nicht, erhielten jedoch eine Essensration: Konserven, Kompott, Marmelade, 15 Gramm Fleisch, einen Laib Brot für drei Personen, und diejenigen, die Kinder bei sich hatten, bekamen ein wenig mehr. Sie übernachteten bei polnischen Familien.

Als die sowjetischen Truppen in Polen einmarschierten, wurden die „Volksdeutschen“ deportiert. Vor dem Einsteigen in den Zug mußten alle ihre Kleidung zur Entlausung mit Heißdampf geben und sich selber ins Badehaus begeben. Bis nach Krasnojarsk waren sie 40 Tage und Nächte unterwegs. In den Waggons gab es Pritschen, ein Waggon diente als Toilette (? – A.B.). Einmal am Tag kochten sie eine Suppe aus Mehl und irgendwelchen anderen, zufällig verfügbaren Zutaten. Frauen gab es im Zug nicht; man hatte sie bereits im Ural abgesetzt.

In Krasnojarsk war für die Ankunft der Deportierten alles vorbereitet. Als sie eintrafen, kamen sie zunächst in Quarantäne (13 Tage), danach schickte man sie zum Arbeiten ins Lager. G.G. Roller arbeitete als Ladearbeiter bis September 1946. Sie lebten wir Gefangene, schliefen auf zweigeschossigen Pritschen. Morgens fuhren sie zur Arbeit aus. Ihre Essensration brachten sie mit, aber später hieß es dann: so wie die gearbeitet hast, so sieht auch deine Ration aus. Nach dem Krieg durften sie bereits wieder Briefe schreiben.

In Krasnojarsk arbeitete er insgesamt ein Jahr. 1946 wurden sie auf den Dampfer „Feliks“ (Dserschinskij? – A.B.) verladen und nach Jenisejsk gebracht – genau an G.G. Rollers 22. Geburtstag.

Alle Männer wurden im Jenisejsker Männerkloster untergebracht. Dort schliefen sie zwei Nächte und machten sich dann zufuß auf den Weg nach Scharkowo. Ein ganzes Regiment an Deportierten kam dort hin. Das Wetter war an diesem Tag gut. Als die Listen verlesen wurden, wer wohin geschickt werden sollte, stellte es sich heraus, dass Gotlib Gotlibowitsch für Woltschij Bor eingeteilt war. Sie trafen dort an einem völlig kahlen Ort ein. Nirgens gab es für sie eine Unterkunft. Also hoben sie „Schützengräben“ aus, bedeckten sie mit Zweigen und holten sich von den Ortsansässigen Heu. Dort wohnten sie, bis sie sich irgendwann armselige Hütten zusammenzimmerten. Aber ein Wohnen in dieser Art von Unterkünften war auf Dauer unmöglich. Gotlib Gotlibowitsch versuchte von den Kindern, die in Jalan lebten, in Erfahrung zu bringen, ob es dort Deutsche gab. Und es war tatsächlich so. Roller und sein Freund machten sich nach einiger Zeit an eine Frau heran. Sie brachten ihre Eßration mit und teilten sie mit ihr.

Jeden Monat kam der Kommandant nach Woltschij Bor, alle mußten sich versammeln und zum Registrieren gehen. Es kam nicht vor, dass irgendeiner fortlief. Die Namen zweier Kommandanten sind bekannt: Oreshnikow und W.I. Borsin.

In Woltschij Bor mußten sie Bäume fällen und die Stämme später über den Fluß Kem abflößen – bis nach Ust.Kem.

G.G. Roller besaß zu der Zeit keinerlei persönliche Ausweispapiere.

In Ust-Kem arbeitete Gotlieb in einer Fabrik für Eisenbahnschwellen. An alle Deportierten wurde Kleidung ausgegeben: Unterziehjacke, Filzstiefel, Handschuhe, Mützen.

Aber 1950 erhielten sie für ihre Arbeit einen Lohn.

Sein ganzes Leben lang ist G.G. Roller der Arbeit nicht ein einziges mal ferngeblieben. Er hat stets bei der Arbeit auf sein gewissen gehört.

Als wir Gotlib Gotlibowitsch fragten, was für Gefühle er hatte, als er in die Heimat fuhr, sagte er damals ganz selbstsame Empfindungen hatte: denn im Dorf waren praktisch keine Deutschen mehr zurückgeblieben.

Jetzt hat G.G. Roller zwei Töchter, vier Enkel und vier Urenkel.

Die Befragung erfolgte durch Olga Jakutina und Ljubow Schangarajewa

(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“)

Vierte Expedition für Geschichte und Menschenrechte, Ust-Kem 2007


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