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Verbannungs- / Lagerhaftbericht von Aleksander Jakowlewitsch Schleining

Geb. 1935.

Die Familie Schleining lebte an der Wolga, im Bezirk Engels, Gebiet Saratow, im Dorf Knaduselsk (? Gnadendorf?). 10 – 15 km von ihrem Dorf entfernt gab es russische Dörfer. In der Familie lebten drei Brüder. Die Mutter hieß Jekaterina Filippowna; der Vater starb noch an der Wolga. Außerdem gab es noch eine 99-jährige Großmutter.

Im September 1941 wurden sie deportiert. Das Dorf wurde von Soldaten mit Maschinenpistolen (?, wohl eher Gewehren – AB) umstellt, und man teilte ihnen mit, wieviel Zeit sie zum Packen ihrer Sachen hatten. Das Vieh trieben sie hinter die Einzäunung des Schulgeländes, wo sie eine Quittung über die abgegebenen Tiere erhielten. Man versprach ihnen, daß sie am neuen Siedlungsort ebensolches Vieh bekommen würden. (Tatsächlich bekamen sie es in der Region Krasnojarsk auch, aber die Kuh erwies sich als Ausschuß, sie blutete stark, doch gab sie zumindest ein wenig Milch).

Alles, was sie mitnehmen wollten, verstauten sie auf Leiterwagen, spannten dann Kamele, Ochsen oder Pferde davor und fuhren so, bis sie die Schmalspurbahn erreicht hatten. Sie hatten nur wenige Sachen eingepackt.

Dann mußten sie in Viehwaggons umsteigen. Am allerwichtigsten war es, daß man im Waggon ein Eckchen für sich fand. Während sie im Zug saßen, starb niemand von ihnen. Mama hatte einen Eimer Koteletts mitgenommen (sie hatten vorher noch einen Bullen geschlachtet) und das Fleisch reichlich mit Fett übergossen, damit es nicht verdarb. Eine Woche waren sie unterwegs.

In Galanino trafen sie im September ein. Insgesamt wurden dort 40-50 Familien abgeladen. Die nächste Partei Ausgesiedelter kam nach Sotino. Der erste Schnee war bereits gefallen. Das war ungewöhnlich für all diejenigen, die ihr Leben lang an der Wolga gelebt hatten. Sie weinten und fragten: „Wohin hat man uns hier nur gebracht?!“

Die Ortsansässigen nahmen sie bei sich auf. Die Familie Schleining wurde von einer Witwe ins Haus geholt (deren Mann war an der Front gefallen), aber die Todesnachricht war gefälscht: der Mann kehrte nach dem Krieg nach Hause zurück.

Den Winter über lebten sie dort; dann begannen sie für sich Erdhütten auszuheben. Material gab es genug. Den ältesten Bruder holten sie gleich in die Trudarmee, der mittlere wurde zur Traktoristenschule geschickt (er war für die Arbeitsarmee noch viel zu jung). Auch den Onkel holten sie in die Trudarmee; er kam dort ums Leben: jemand hatte ihm heimlich einen Laib Brot unter das Kissen gelegt, die Häftlinge nahmen eine Durchsuchung vor und fanden es, und dann schlugen sie den Onkel so lange, bis er tot war.

Drei-vier Jahre lang gab es die Hoffnung, daß man sie vielleicht verhaften und zurückschicken würde, aber dann wurde klar, daß dies nicht geschehen würde. 1949 wurden sie nach Momotowo verlegt. Dort arbeitete die Mutter in der Kolchose und mähte mit der Hand den Weizen. Sie war eine gute Arbeiterin und bekam deswegen zusätzlich 5 kg Haferkleie pro Woche. Daraus kochten sie Kissel (süßsaure, meist mit Fruchtsaft und Mehl gekochte Speise; Anm. d. Übers.). Es schmeckte wunderbar (wahrscheinlich deswegen, weil sie so hungrig waren). Brot erhielten sie nicht: es gab ein Gesetz, daß man 80-100 Tage pro Jahr in der Kolchose arbeiten mußte, und dann gab man einem für eine Tagesarbeitseinheit 300 Gramm Getreide. Die Kolchose hatte ihren Betrieb gerade erst aufgenommen, deswegen bekamen sie so wenig.

Die Mutter arbeitete auch noch bei einigen Ortsansässigen – sie bauten Flachs und Hanf an, drehten Bindfäden, arbeiteten an Webstühlen und nähten Leinenhemden. Von der Wolga hatten sie auch eine zweigewichtige, große Uhr mitgebracht; die tauschten sie gegen Lebensmittel ein. Aber es war sehr wenig, was man ihnen dafür gab; die Mutter weinte herzzerreißend.

Sie besaßen nichts zum Anziehen, und so mußte er im April barfuß zur Schule gehen. Seine eisigen Füße wärmte er im warmen Stalldung auf – sie brannten vor Kälte wie Feuer. Innerhalb von 5 Minuten erreichte er die Schule – so schnell war er gerannt. Schulhefte gab es nicht; die Kinder schrieben auf Blankoformularen, von denen es in der Kolchose genug gab. Irgendwie gelang es ihm, zwei Klassen zu absolvieren; die Mutter bestand nicht darauf, daß er weiterlernte, denn die Lebensbedingungen waren sehr schlecht. Später lernte er an der Betriebsfachschule, wo er auch Kleidung und Verpflegung erhielt. 33 Jahre war er als Schlosser tätig.

Die Mutter starb 1958 in Momotowo an Leberzirrhose.

Zwei Brüder reisten nach der Perstrojka nach Deutschland aus; sie sind dort bereits gestorben. A.J. fuhr zu Besuch dorthin; sie sagten, er solle dorthin umziehen, aber das tat er nicht.

Er heiratete eine Wolgadeutsche mit dem Mädchennamen Gaun. Er hat 5 Kinder, 12 Enkel, 7 Urenkelinnen und 1 Urenkel.

Die Befragung erfolgte durch Alsu Achmadejewa, Maria Pitschujewa und Sergej Kilin.

(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“
Sechste Expedition für Geschichte und Menschenrechte, Momotowo 2009


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