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Bericht von Erma (Irma, Erna) Christianowna Schekk (Scheck?)

Nachname, Vorname, Vatersname: Schekk, Erma Christianowna
Mädchenname: Kepp
Geburtsdatum: 19.09.1942
Geburtsort: Dorf Schirokowo, Kasatschinsker Bezirk
Wohnort: Ortschaft Galanino, Kasatschinsker Bezirk, Region Krasnojarsk, Russland

Schekk, Erma Christianowna (Mädchenname Kepp) wurde am 19. September 1942 im Dorf Schirokowo geboren. Zuerst nannte man sie Irma; als die Dokumente geändert wurden, welche die Person beurkundeten, verglichen sie mit den alten Papieren, auf denen der Vorname ausradiert und sie als Erna registriert worden war. Mit der neuen Dokumentenänderung verzeichnete man sie als Erma, und dieser Name ist bis heute so geblieben. Die Mutter, Jekaterina Andrejewna Kepp, arbeitete in der Kolchose, wo sie ungelernte Arbeiten verrichtete. Über den Vater weiß die Befragte nichts, außer dass er Traktorfahrer war. Die Familie Kepp besaß eine große Hofwirtschaft: Kühe, Schweine, Schafe, Hühner. Unterschiedliches Federvieh. Die Familie baute ein gediegenes Holzhaus in der Ortschaft Knanfeld (Gnadenfeld) im Gebiet Saratow. Nach den Worten von Erma Christianownas Mutter lebten sie in einem Großdorf, und es gab dort sogar eine Kirche. Ind er Familie gab es vier Kinder.

Ein Fuhrwerk näherte sich dem Haus, und der Familie wurde verkündet, dass sie abzufahren hätte, weil der Einmarsch der deutschen „Faschisten“ bevorstand; auf die Frage der Mutter, ob wir zurückkehren und für wie lange wir fort sein würden, antworteten sie ihr: „Verratet uns nicht, dient im Krieg der Heimat und kehrt heim“. Zu der Zeit befand sich der Vater auf der Arbeit; dort teilte man ihm die unheimliche, schreckliche Nachricht mit und schickte ihn nach Hause. Zuhause erwarteten ihn die Mutter, drei Kinder und die Schwiegermutter. „Als Vater nach Hause kam, konnte er nur noch seine Arbeitskleidung ausziehen und ging dann nach draußen, um seine Frau und die Kinder bis zum Fuhrwerk zu begleiten. Die Männer gingen zu Fuß bis zum Bahnhof, bis zum Zug“ – sagte Emma Christianownas Mutter. Für unterwegs nahm die Mutter einen Eimer Koteletts und 2-3 Brotlaibe mit. Sehr schwer fiel es der Mutter, das ganze Vieh zurücklassen zu müssen. Daran ist noch eine ganz besondere Erinnerung geblieben. Es gab eine Kuh, die viel Milch gab, und als sie nun abfahren mussten, sah die Kuh die Hausfrau an und muhte erbärmlich. Die Mutter weinte und sah sich immer wieder nach der Kuh um, während sie zum Fuhrwerk ging. Der Kutscher sagte ihr, sie solle sich abwenden und mit dem Schluchzen aufhören; wenn sie dem Befehl nicht folgte, bekäme sie eine Kugel in den Kopf.

Nach Sibirien gelangten sie mit Fuhrwerken und in Viehwaggons. Ein Viehwaggon hat keine Abteile; sie schliefen auf Pritschen mit Stroh, und es gab keine Toilette. Einen Abort richteten sie sich selber ein: ein Eimer, eingefasst mit 3-4 zusammengenagelten Brettern. Im Viehwaggon waren Männer und Frauen zusammen untergebracht; die Menschen infizierten sich mit Haut- und anderen Infektionskrankheiten, es herrschten vollkommen unhygienische Zustände. Unterwegs starben Leute; ihre Leichen wurden direkt während der Fahrt aus dem Waggon geworfen. Zwei Menschen starben, erzählte die Mutter der Befragten. Rasant schnell breitete sich Pedikulose (Läusebefall; Anm. d. Übers.) aus. Um dieser Erkrankung zu entgehen, wurden sie kahl geschoren, und als sie in der Ortschaft eintrafen, kochte man die Kleidung aus, um die Parasiten endgültig los zu werden. Unterwegs aßen sie das, was sie mitgenommen hatten, aber auch Grütze, mit denen man sie an den Bahnstationen versorgte. Bis nach Sibirien brauchten sie 5-6 Tage.

Die Familie Schekk wurde mit folgenden Angehörigen abtransportiert: Mutter, Vater, zwei Großmütter, Schwester Emma, Bruder Jascha. Als die Deutschen in Sibirien eintrafen, wurden sie von den Einheimischen mit großem Interesse begutachtet. Auslöser dieser Neugier waren Gerüchte darüber, dass die Deutschen Schwänze, Mähnen und Hörner hätten.

Die Familie wurde ins Dorf Schirokowo gebracht; dort kamen sie in eine Baracke außerhalb des Dorfes – und mit ihnen noch sieben weitere Familien. Die Lebensbedingungen waren schrecklich; es gab keine Zwischenwände, um Zimmer abzuteilen; alle lebten in einem einzigen Raum. Die Menschen hungerten, tauschten ihre Sachen, die sie aus der Heimat hatten mitbringen können, bei den Ortsansässigen gegen Lebensmittel ein. Erma Christianownas Mutter berichtete: „Wir hatten große Kissen; für ein Kissen gaben die Russen uns einen Fünflitereimer Kartoffeln und etwa zwei Kilo Mehl. Das Mehl war nicht gereinigt, es enthielt Kleie, aber wir freuten uns trotzdem“. Vera Karpowa war es, die ihrer Familie half, war den Deutschen gegenüber von Anfang an freundlich gestimmt. „Sie sind doch auch Menschen, sprechen nur eine andere Sprache“, meinte Oma Vera, die von den Kindern der Einfachheit halber so genannt wurde. Sie teilte ihre Lebensmittel und auch das Garn mit ihnen, welches sie selber spann.

Die Eltern bekamen Arbeit. Die Mutter fing als ungelernte Arbeiterin in der Kolchose an, der Vater als Traktorfahrer. Lange arbeitete er dort aber nicht, insgesamt nur eine Woche – dann holten sie ihn in die Arbeitsarmee in den Kasatschinsker Bezirk, wo er erkrankte. Man brachte ihn ins Krankenhaus, wo er innerhalb von drei Tagen verstarb. Den Angehörigen schickte man eine Benachrichtigung über den Tod des Vaters, und die Mutter schluchzte in großem Schmerz. Man schickte sie zur Heumahd, tagelang kam sie nicht nach Hause. Die Großmutter sah nach den Kindern – die Mutter des Vaters der von uns Befragten. Zuhause hungerten die Kinder, einschließlich der kleinen Erma, unserer Gesprächspartnerin. Als der Brigadeführer das erfuhr, gab er der Mutter einen Liter Milch mit, damit sie diese ihren Kindern geben konnte. Allerdings war es keine gute Milch, sondern bereits separierte. Separierte Milch ist bereits mittels Rahmabscheider bearbeitete Milch.

Wenig später erkrankte die Großmutter und starb; zu dem Zeitpinkt war Erma Christianowna zehn Jahre alt. Sie erinnert sich, wie sie die Großmutter beerdigten. Die Menschen lebten in so großer Armut, dass sie nicht wussten, worin sie die durch Krankheit gepeinigte Tote bestatten sollten. Die Mutter ging zum Krankenhaus, wo man ihr Mull aushändigte. Daraus nähten Oma Jelisaweta (die Mutter der Mutter der von uns Befragten) einen Schlafrock für die Verstorbene. In der Nacht entwendete die Mutter ein paar Kisten, aber sie ergaben noch keinen Sarg; die legten sie mit Zeitungen aus und legten die Mutter hinein. Mit Ochsen brachten sie sie fort. Es gab keinen Leichenschmaus, weil es nichts zu essen gab. Zur Schule gingen sie vom Frühjahr bis in den Herbst. Der Grund dafür, dass sie im Winter nicht die Schule besuchten war, dass es an geeigneter Kleidung mangelte. Zeitweise besaßen sie überhaupt nichts zum Anziehen, sondern gingen, wie es heißt, „so, wie die Mutter sie geboren hatte“. Erma Christianowna erinnert sich: „ Nachbarn gaben mir ein schwarzes Tuch mit weißer Kante; daraus nähte Mutter mir ein Hemd“. „Einmal gaben die Leute mir ein Trikothemd, das ich unten mit einer Stecknadel zusammenfügte (ich besaß keine Unterhose) – und darin lief ich dann herum. Weil sie so häufig fehlte, konnte sie nicht eine einzige Schulklasse beenden, sie hat keine Ausbildung.

Wir baten unsere Gesprächspartnerin über Erinnerungen an ihre Kindheit zu sprechen. Sie wusste noch, wie man ihr an Neujahr Süßigkeiten gegeben hatte – ein glücklicher Moment in ihrem Leben. Sie erinnert sich an einen Tannenbaum, der bei ihnen stand, und dass die Kinder einen Chorgesang mit Kreistanz aufführten. Einmal gab es einen Vorfall, bei dem Erma Christianowna sich schrecklich fürchtete und um ein Haar ertrunken wäre. „Im Sommer ging ich mit Freundinnen zum Baden an das kleine Flüsschen neben der Baracke. Ich tauchte unter; direkt über mir meine Freundin Galka Lytkina. Ich dachte ich müsste ertrinken – da zogen die Mädchen mich heraus, bevor ich Wasser geschluckt hatte“.

Als die Familie Schekk ins Dorf Sacharowka umzog, war Erma Christianowna 16 Jahre alt. Die Jugendlichen gingen damals ins Haus der Kultur zum Singen und Tanzen. Man tanzte Walzer – den Lieblingstanz der jungen Leute, Krakowiak und Polka. Es war verboten, mit 16 Jahren in Betrieben zu arbeiten; deswegen arbeiteten die jungen Burschen und Mädchen illegal. Bei der Kontrolle durch eine Kommission wurden alle unrechtmäßigen jungen Arbeitskräfte nach Hause geschickt. In diesen jungen Jahren hatte Erma Christianowna bereits in der Eisenbahn-Schwellen-Fabrik und in einer Bäckerei gearbeitet, wo sie auch ihren zukünftigen Ehemann kennenlernte. Die Bekanntschaft kam folgendermaßen zu Stande: „An einem ganz gewöhnlichen Arbeitstag knetete ich wie gewohnt den Teig; da kamen ein paar junge Männer zu uns in die Bäckerei; einer der Burschen sah mich an und meinte scherzhaft zu den anderen: „Das ist meine zukünftige Frau!“. Ich warf eine Handvoll Teig nach ihm. Sie lachten und verließen die Bäckerei, und das war das erste Mal, dass ich meinem späteren Mann begegnet war“. Nach diesem Vorfall trafen sie sich regelmäßig, gingen spazieren und zum Tanzen. Der junge Bursche und zukünftige Ehemann hieß Jusow (Josef) Jusowowitsch Schekk. Als sie heiratete, war sie 18 Jahre alt. Es war eine ärmliche Hochzeit. Die Braut besaß kein besonders festliches Kleid. Erma Christianowna sagte dazu: „In den Sachen, in denen ich zur Arbeit ging, heiratete ich auch meinen Mann“. Zum Festmahl gabe s Kartoffeln, Brot, gekochtes Fleisch. Gäste kamen, und sie brachten von zu Hause mit, was sie konnten – Gurken, Getränke … Sie sangen russische Lieder und tanzten. Erma Christianowna bekam vier Kinder – eine Tochter und drei Söhne. Von Sacharowka zogen sie 1969 nach Galanino, wo sie heute noch leben.

Wir fragten: „Was in Ihnen ist noch deutsch geblieben?“ Darauf antwortete sie: „In mir fließt deutsches Blut!“ Uns interessierten die deutschen Traditionen und Gerichte. Über die Traditionen konnte sie uns nichts sagen, denn sie wurde auf dem Höhepunkt des Krieges geboren; da war den Menschen nicht nach Einhaltung der Traditionen zumute gewesen. Jede Familie versuchte in dieser für das ganze Land schwierigen Zeit zu überleben. Aber sie erzählte recht aufschlussreich von einigen deutschen Gerichten. Strudel – darunter Fleisch, und wenn es kein Fleisch gab, legten sie Fett auf rohe Kartoffeln, und auf die Kartoffeln Kohl. Dann rollten sie den Teig aus und bedeckten ihn mit einer Füllung. Das wurde gebacken und dann wie Brot geschnitten. Riwwel-Suppe, Schnitz-Suppe, Krepel (von den Russen Grabli) genannt, eine Mehlspeise, die gebacken wird. Erma Christianowna kann sich an ihre Muttersprache nicht mehr erinnern.

Wir fragten Erma Christianowna: „Wenn man sie fragt, welcher Nationalität Sie angehören – was antworten Sie dann?“ – Sie meinte: „Der deutschen!“

Das Interview wurde geführt von Kristina Fomina und Kristina Batschina,
Schülerinnen der Kunst- und Graphik-Abteilung des Pädagogischen Instituts..

11. volkskundlich-historische-ethnografische Forschungsreise des Pädagogischen Colleges in Jenisseisk


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