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Bericht von Josef Josefowitsch Scheck

Josef Josewfowitsch Scheck wurde 1939 im Gebiet Saratow, Dorf Wiesenmiller (Wiesenmüller), Kanton Seelmann, geboren. Der Vater hieß Julius Friedrichowitsch Scheck, die Mutter Emma Fjodorowna Schekel. Die Mutter war in der Bäckerei tätig, der Vater arbeitete in der Mühle. Sie hatten zwei Kinder. Es gab Schweine Kühe, gut mit Getreide gefüllte Speicher, einen Garten, ein Melonenfeld; sie führten ein gutes Leben, ein Leben im Wohlstand. Die meisten im Dorf waren Deutsche, es gab dort auch eine Kirche. Die Nachricht von der Umsiedlung kam für sie völlig überraschend.

Die Fahrt zum neuen Siedlungsort erfolgte zunächst auf Fuhrwerken, anschließend in Viehwaggons. J.J. fällt es schwer sich an alles zu erinnern, denn der weiß alles nur aus den Erzählungen der Mutter; er selber war damals noch zu klein – er war gerade zwei Jahre alt.

Den Vater, die Mutter und die beiden Kinder brachten sie in den Daursker Bezirk in der Nähe von Krasnojarsk (heute der Balachtinsker Bezirk). Sie nahmen nur die allerwichtigsten Dinge mit – Kissen, eine Decke, Kinder-Unterwäsche und Fleisch, das sie zuvor mit Fett übergossen hatten. Das gesamte Vieh mussten sie zurücklassen; es lief über den Hof und brüllte nach seinem Herrn. Alles blieb bei denen, die das Kommando über die Fuhrwerke innehatten, und die befahlen ihnen auch, sich nicht umzuschauen. J.J. erinnert sich, dass einige Deutsche als Ersatz für das verlorene Vieh in Sibirien neues erhielten.

Mit dem Wohnen war es einigermaßen erträglich. Das ganze Elend begann, als sie den Vater in die Arbeitsarmee holten. „Und die Mama fuhr mit ihren Verwandten (Brüdern und Schwestern) in den Bezirk Turuchansk. Unsere Mutter hatte damals zwei Kinder. Der Vater befand sich in der Arbeitsarmee an der Bahnstation „Taiga“. Sie entließen ihn 1945. Dort waren die Häftlinge nach den Worten des Onkels gehörig misshandelt worden: einmal hatten sie sogar den Kopf eines Mannes ins Abort-Loch gesteckt und ihn hin und her geschüttelt“. (Über den Vater sagt er: Er kam gegen Ende des Krieges aus der Arbeitsarmee nach Hause. Er kam her, aß sich satt und starb am nächsten Tag“).

Die Mutter fuhr ganz in den Norden – 20 km von Turuchansk entfernt. Das Dorf hieß Jakuty, die Kolchose „Komsomolze“. Sie wurden am Ufer abgesetzt, und man sagte ihnen: „Hier werdet ihr jetzt leben“. Dabei gab es im Dorf lediglich drei Häuser. Da stand eine Baracke, und es gab noch eine ortsansässige Bewohnerin. Der Winter hatte eingesetzt, und sie wussten nicht wohin. Vor Kummer und Gram bauten sie sich Erd-Hütten, und darin hausten sie dann. Die Mutter arbeitete in der Fischfang-Genossenschaft. Der Lohn war nicht mehr als ein Krümelchen, und dann kam auch noch jemand an und zwang sie, den Erwerb von Obligationen zu unterzeichnen. Auf dem Tisch lag eine Nagan-Pistole – wie hätte man da nicht unterschrieben. Zu allem Unglück waren sie auch noch Analphabeten, verstanden absolut nichts. Später zog man ihnen die Kosten ab und sie bekamen weder Geld noch sonst irgendetwas. Später, Ende der 1950er Jahre – 10 bis 15 Rubel. Die höchste Summe, die ich erinnere, waren 30 Rubel.

Obwohl die Mutter beim Fischfang beschäftigt war, durfte sie keinen einzigen mit nach Hause nehmen. Der Brigadeführer, ein Bursche von etwa 18 Jahren, bewachte uns mit einem Automatikgewehr, obwohl wir überhaupt nicht fliehen konnten: im Sommer der Fluss, im Winter Schnee und nichts als Frost. Wenn jemand entkräftet zu Boden sank, trat er heran und fing an, mit dem Gewehrkolben zu schlagen, damit derjenigen wieder aufstand. Die Fische mussten mindestens zehn Zentimeter groß sein, die kleineren musste man zurück ins Wasser oder ans Ufer werfen, aber auch das kleinste Stückchen durfte man nicht mitnehmen. Es kam vor, dass jemand der versuchte doch etwas zu verstecken, vom Brigadier mit dem Gewehrkolben verprügelt wurde.

Während des Krieges wurden wir sehr geschunden. Wenn wir im Winter morgens erwachten, waren die Fenster zugefroren. Mit den Fingern kratzten wir die Eisschicht ab, um etwas sehen zu können. Auf der Straße wehte ein eisiger Wind, es war schrecklich. (Als unser Gesprächspartner kurz in ein anderes Zimmer ging, erzählte seine Frau: „Josef hat berichtet, dass es dermaßen kalt war, dass am Morgen sein Urin an den Pritschenbrettern festgefroren war“).

Später brachte man uns in einer Baracke unter; in jeder Ecke drei Bretter – das waren die Pritschen, auf denen wir familienweise niederließen.

Im Sommer krochen wir jungen Burschen über die Felder und knabberten dort schmackhafte Kräuter. In der Siedlung gab es eine Schule. Zuerst verhielten sich die anderen Kinder uns gegenüber ängstlich. Es kam alles Mögliche vor – sie beschimpften und verprügelten uns auch. Aber wir ließen uns nicht unterkriegen, doch mit der Zeit kam alles in Ordnung. Im Winter erlernten wir die russische Sprache. Die Lehrerin hieß mit Nachnamen Lebedewa; sie war eine gute Frau und gab uns sogar auf ihre Kosten etwas zu essen. Die Schule befand sich gleich nebenan, sogar im Winter gingen wir zu Fuß dorthin – wir besaßen ja keine Schuhe.

Wir lebten in großer Armut, es gab nichts zu beißen, nichts zu essen; aber einmal bereiteten sie zu Neujahr in der Kolchose Pfefferkuchen zu und gaben sie den Kindern. Nach der Schule spielten wir Würfelspiele, zwölf Stöckchen und andere. Aus Brettern bauten wir uns selber Schlitten.

Die Eltern mussten sich einmal im Monat bei der Kommandantur melden; der Kommandant kam dazu in die Siedlung. Ohne ausdrückliche Erlaubnis durfte niemand das Dorf verlassen.

Und wenn jemand starb, wurde er bis zum Frühling im Schnee verscharrt – wie sollte man ihn auch sonst im ewigen Frost begraben? So lagen die Menschen in ganze Stapeln und Haufen.

Nach dem Krieg wurde das Leben etwas leichter – man fing an den Boden zu roden und Gemüsegärten anzulegen. (Die Bemerkung des von uns Befragten bestätigt, dass Kartoffeln und Gemüse angebaut wurden). Man ersetzte den Vorsitzenden und brachte stattdessen den Deutschen Werner; er war vor der Umsiedlung Staatsanwalt gewesen, und hier in Jakutien wurde er nun Kolchos-Vorsitzender. Unter seiner Leitung ließ es sich leichter leben: es gab Landstücke – sie wurden gerodet. Die Kolchose umfasste insgesamt 4 Hektar Land.

Damals war dort alles viel besser gediehen als hier. Für das Vieh wurden Rüben angebaut, sie schmeckten süßlich, und man hatte Marmelade daraus gekocht. Aber so oft man sie hier auch probierte – sie waren immer von der Wurzel an verfault. Sie wurden gedämpft, gebraten oder gekocht.

Im Laufe der Unterhaltung mit dem von uns Befragten kam das Gespräch auch auf Stalin. Traditionsgemäß fragten wir nach Stalins Todestag, dem 5. März 1953. „Ein Tag wie jeder andere, - sagt J. J., - alle standen in einer Reihe, alle weinten, sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder.

„Aber als Führer habe ich keinen besseren gefunden. Er hat den Krieg gewonnen – und das ist eine große Ehre. Nein, ich bin nicht böse auf ihn. Ich habe so viele Staatschefs gesehen, aber keinen hätte ich anfeuern mögen. Seit Stalins Tod gab es immer mehr Preisaufschläge. ASbr Während Stalins Regierungszeit freuten die Menschen sich darüber, dass jedes Jahr alles billiger und billiger wurde. Kaum war er tot, da erhöhten sich die Preise Jahr für Jahr“.

J. J. hat folgende Einstellung zur Deportierung der Eltern: sie haben sich nicht darüber empört. Jeder begriff, dass das Land im Krieg war und dass so verfahren werden musste. Man sagte ihnen, dass es auch nicht für lange Zeit wäre.

„1956 zogen wir in den Kasatschinsker Bezirk, in das Dorf Sacharowka; dort wohnte die Schwester der Mutter. Mein Onkel reiste an die Wolga, seine alte Heimat. Man ließ ihn nicht einmal ins Elternhaus. Es soll deswegen sogar zahlreiche Selbstmorde gegeben haben. Wir haben Angehörige in Deutschland. Aber wohin soll ich fahren: hier lebt meine kranke Mutter, die Kinder sind herangewachsen… Mein Arbeitsleben beträgt 40 Jahre. Die Wolga habe ich schon ganz vergessen.

Heute ist die Familie ganz und gar international finden die Eheleute Scheck: die Tochter ist mit einem Russen verheiratet, ein Sohn hat eine deutsche Frau, die anderen beiden – eine Ukrainerin und eine Polin.

Welche Merkmale sind ihrer Nation, den Deutschen, Ihrer Meinung nach zu Eigen? – fragten wir J. J.

- Das sind wohl Fleiß, Kultur, Gesetzestreue, Reinlichkeit. Aber das ist eigentlich alles. Es gibt keine schlechten oder guten Nationen!

Das Interview wurde aufgezeichnet von Kristina Fomina und Kristina Batschina, Studentinnen des ersten Semesters der Kunst- und Graphik-Abteilung des Pädagogischen Kollege

11. folkloristisch-historisch-ethnographische Forschungsreise des Pädagogischen Kollege in Jenisseisk

 


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