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Bericht von Anna Andrejewna Staitz/Steitz (Maisner/Meisner)

Anna Andrejewna Staitz (Maisner), geb. 1953 in der Ortschaft Sagaiskoje

Mit den Elternmeines Mannes lebten wir zwölf Jahre unter einem Dach. Dann gab man uns eine Wohnung, und wir wohnten separat. Wir haben immer mit ihnen gesprochen, und sie haben gern ihre Erinnerungen geteilt. Sie sprachen zu Hause Deutsch, wir auch, und meine Kinder kannten später ebenfalls die Muttersprache unserer Familie. Der älteste Sohn wuchs mit den Großeltern auf.

Die Eltern meines Mannes Viktor Augustowitsch Staitz waren aus dem Wolgagebiet hierher verschleppt worden. Im September 1941 wurden August Genrichowitsch Staitz, geb. 1912 und Jelisaweta Genrichowna Staitz (Schefer/Schäfer), geb. 1910, zusammen mit den anderen Bewohnern der Ortschaft Straub im Bezirk Kukkus, Gebiet Saratow, mit einem Lastkahn bis zur Bahnstation gebracht. Was sie noch hatten zusammenpacken können, nahmen sie mit. Natürlich verlief alles viel zu schnell, und vieles blieb in den heimischen Häusern zurück. Anschließend transportierte man sie in Viehwaggons unter menschenunwürdigen Bedingungen bis in die Stadt Ujar, Region Krasnojarsk. Annuschka (die Tochter) war gerade erst einen Monat alt. Frieda und Maria waren etwas größer. Man brachte sie in einer Baracke in einer Sondersiedlung nahe Ujar unter. In den Baracken hausten viele Familien. Den Vater holten sie fast sofort zur Arbeitsarmee, die Mutter bewachte das Getreide. Sie hatten ein schweres Leben und wurden sogar eingesperrt, wenn sie Korn entwendeten. Die Mutter steckten sie auch einmal für eine Woche wegen irgendetwas hinter Schloss und Riegel, dann ließen sie sie wieder frei, denn zu Hause warteten ja kleine Kinder auf sie. Die Bewohner der Sondersiedlung unterlagen einer ständigen Meldepflicht. Die Lebensmittel, für die sie nach Ujar fuhren, gab man ihnen auf Karten aus. Sie konnten nur schlecht Russisch, hauptsächlich sprachen sie Deutsch. Später zwang das Leben sie, die für sie fremde Sprache zu erlernen. Aber es gab ihnen gegenüber keine Feindseligkeit oder aggressives Verhalten. In Ujar gab es viele Verschleppte, nicht nur Deutsche, auch andere.

Sie holten August Genrichowitsch zur Arbeitsarmee ins Swerdlowsker Gebiet, um dort eine Bahnlinie zu bauen; danach schickten sie ihn nach Wjerchnij Kuschebar, wo er im TrestBasStroi arbeiten musste. Als August Genrichowitsch 1949 aus der Arbeitsarmee zurückkehrte, hatte man die Familie aus Ujar in die Sondersiedlung Wjerchnij Amyl, Nezirk Artemowsk, Region Krasnojarsk, verlegt, wo sie bis 1956 unter Aufsicht blieb.

Nach der Rehabilitation zogen sie nach Sagaiskoje.

Die Kinder gingen zur Schule, als sie nach Wjerchnij Amyl umzogen; dort gab es einen Flugplatz, Goldminen. Die älteren Schwestern arbeiteten, sie wuschen Gold. Im Allgemeinen gab es dort viele Verschleppte, die in den Bergwerken, in der Schule arbeiteten. Deswegen herrschte dort auch keine feindliche Gesinnung. In der Siedlung befanden sich zahlreiche Deutsche, so geriet die Muttersprache nicht in Vergessenheit: untereinander sprachen sie praktisch immer Deutsch. Die Mutter des Ehemannes arbeitete in den Badehäusern der Siedlung, der Vater als Pferdepfleger am Flugplatz. Sie standen alle unter Aufsicht. Auch dort lebten sie in Baracken, aber die Lebensbedingungen waren besser als die in Ujar, sie brauchten nicht frieren. Es gab viele Beeren, die sie zum Selberessen, aber auch zum Verkauf sammelten.

August Genrichowitschs Schwester Jelisaweta Genrichowna Gleim (geb. 24.08.1915) wurde ebenfalls aus dem Wolgagebiet verschleppt. Allerdings kam sie in den Bogutschansker Bezirk; später brachte man sie in den Artemowsker Bezirk. Und als sie in Freiheit kamen, fuhr sie zum Bruder und blieb bei ihm wohnen.

Als sie 1956 rehabilitiert wurden, begaben sie sich nach Sagaiskoje, wo sie ein Haus kauften. Die Tochter, Jekaterina Augustowna Gartwig/Hartwig (Staitz/Steitz) heiratete und führte ihr eigenes Leben. Die zweite Tochter, Anna, heiratete ebenfalls. Frieda, die dritte Tochter, blieb bei ihnen wohnen, sie starb im Alter von 24 Jahren an Diabetes. Hier führten sie ein gutes Leben, führten ihre Wirtschaft; um sie herum gab es viele Deutsche. Die Mutter arbeitete auf der Schweinefarm. Katja war ihr Leben lang als Melkerin tätig.

Die Traditionen in der Küche wurden trotz allem gewahrt. Sie kochten gern auf ihre spezielle Art Nudeln, buken Pfannkuchen, Pfefferkuchen, Krebel (Krapfen; Teig auf Basis von Sauermilch, ausgerollt, zerschnitten und in Öl gebraten). Sie kochten Kompott, gaben eine Art Klößchen dazu und schmeckten mit Milch ab. Sie rollten Kartoffeln zu einem Teig aus – so eine Art vegetarischer Pelmeni. Sie mochten unheimlich gern Essen zubereiten.

Sie sangen Lieder in deutscher Sprache, lasen Gebete. Sie besaßen eine deutsche Bibel Auf Beerdigungen sangen sie Kirchenlieder, und bei Tauffeiern auch. Wir nannten das „Eintauchen“. Wir wurden alle eingetaucht, aber unsere Enkel sind schon getauft. Manchmal kamen an den Sonntagen Nachbarn zu uns, zumeist Frauen. Sie sangen gemeinsam, sprachen Gebete und kochten mitunter auch zusammen. Manch eine erzählte von ihrem Kummer, andere von dem, worüber sie sich freuten.

Nach Deutschland ausreisen, so wie viele andere es taten, wollten sie nicht. Der Vater des Ehemannes sagte immer: „Wir stammen aus Russland, von der Wolga. Aber dort, in Deutschland, wartet niemand auf uns“. Einige Verwandte reisten ab, aber dort verhielt man sich in der ersten Zeit ihnen gegenüber nicht sehr freundlich. Sie bekamen zu hören: wer seid ihr denn, wer hat euch denn gesagt, dass ihr herkommen sollt!?

Natürlich waren sie gekränkt, dass man so mit ihnen umging. Schließlich hatten sie doch ihr Leben, ihre Wirtschaft gehabt. Später, als sie ihre Papiere für die Rehabilitation zusammensuchten, zahlte man ihnen eine Entschädigung. Und dann schlossen sie mit ihrem Schicksal auch endgültig Frieden. Sohn Viktor Augustowitsch heiratete ebenfalls und verließ das elterliche Haus. Tochter Maria Staitz lebt in Karatuskoje.
Meine Eltern, Andrej Wilhelmowitsch Maisner/Meisner (geb. am 18.08.1930) und Lidia Christoforowna Maisner(Meisner (Werner, geb. am 25.09.1926) sind auch Wolgadeutsche, die im Bezirk Kukkus in der Ortschaft Straub gelebt haben. Sie wurden ebenfalls im September 1941 verschleppt. Auf Lastkähnen brachte man sie zur Bahnlinie und schickten sie dann nach Abakan. Dort wurden sie mit Pferden abgeholt. Den Vater brachten sie mit seiner Familie nach Sosnowka, die Mutter nach Kop. Damals waren die beiden noch Kinder.

Der Vater und sein Bruder lernten in der Schule und arbeiteten in einer Brigade. Sie gingen in eine Schmiede und lernten, wie man Pferde beschlägt und Leiterwagen repariert. Man gab ihnen Lebensmittelmarken und manchmal auch etwas aus der Kolchose. Anfangs unterhielten sie keine eigene Wirtschaft, später legten sie einen Gemüsegarten an.

Die Mutter hatte fünf Geschwister. Die Mutter arbeitete bei fremden Leuten in den Gemüsegärten oder kümmerte sich um deren Kinder. Meine Mutter ging mit zehn Jahren arbeiten – Kühe melken. Damals war Kostja Filippow der Vorsitzende der Kolchose. Er suchte die kleinen Mädchen aus, die in der Melkerei arbeiten sollten. Sie gingen auch zur Schule. Die Mutter lernte gut, sie wurde später als Rechnungsführerin eingesetzt. Filippow benahm sich gegenüber den verschleppten gut, niemals beleidigte er jemanden; er gab Lebensmittelkarten aus, Naturalien, wenn einer etwas brauchte. Er sagte zu ihnen, sie sollten Milch trinken, wenn sie beim Melken wären; nach Hause dürften sie nichts mitnehmen. Aber ein Brigadier war boshaft veranlagt: als er sah, dass sie aus dem Eimer tranken, schlug er sie mit der Peitsche. Später beschwerte sich jemand über ihn. Der Vorsitzende hörte davon, kam und sagte ihm: wenn du noch ein einziges Mal eines der Mädchen anrührst, wenn sie Milch trinken, werde ich dich mit genau dieser Peitsche nach draußen jagen. Mitnehmen dürfen sie die Milch nicht, sagte er, aber hier können sie davon so viel trinken, wie sie wollen; schließlich müssen sie noch arbeiten. Anfangs lebten sie zur Untermiete, später gab man ihnen ein Haus. In der Ortschaft war das Verhältnis zu den Verbannten ebenfalls normal, niemand kränkte sie, man half ihnen sogar. Danach kamen sie nach Karatuskoje, wo sie sich ein Haus kauften.

Der Vater und die Mutter lernten sich in Karatuskoje kennen, als er dort hinkam, um eine Ausbildung zum Traktorfahrer zu absolvieren. Die beiden heirateten. Bis zur Rente arbeitete er als Schmied. Sie hatten vier Kinder. Ich, Jekaterina Maisner, Alexander Maisner, Maria Maisner.

Mein Vater liebte das Spiel auf der Ziehharmoniks, er sang deutsche Lieder.

Bei uns war es Tradition, am 25. Dezember Weihnachten zu feiern. Wir schmückten den Tannenbaum – das war am Heiligen Abend. Alle fanden sich ein, sangen Lieder, für die Kinder wurden Geschenke vorbereitet; aber zu Neujahr gab es keine Geschenke, obwohl wir das auch feierten. Und Ostern feierten wir ebenfalls, sowohl das deutsche als auch das russische Osterfest. Irgendwie konnten wir uns mit allem nicht so richtig identifizieren, und heute ist alles ganz und gar vermischt, alle in der Verwandtschaft. Da gibt es Mordwinen, Armenier, Russen, Tataren und wen nicht noch alles.

An eine Ausreise nach Deutschland haben wir nicht gedacht; Mutter starb früh, der Vater ist allein. Und wir, die Kinder, wollten nicht.


August Genrichowitsch Staitz


Die Familie Staitz


Jelisaweta Genrichowna Gleim (August Genrichowitsch Staitz‘ Schwester)


Andrej Wilhelmowitsch Maisner und Lidia Christoforowna Maisner (Werner)


Di Bibel der Eltern des Ehemannes in deutscher Sprache, 1905

 

Das Interview wurde geführt von Tatjana Nasarez.

Forschungsreise der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität Krasnojarsk und der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation zum Projekt „Anthropologische Wende in den sozial-humanitären Wissenschaften: die Methodik der Feld-Forschung und Praxis der Verwirklichung narrativer Interviews“ (gefördert durch den Michail-Prochorow-Fond).

 


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