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Bericht von Iraida/Irma/Irina Iwanowna/Johannowna Schustowa (Paul)

Vor der Deportation nach Sibirien lebte Iraida Iwanownas (geb. 1938) Familie in Marxstadt. Mutter Ella Johannowna (geb. 1914) konnte Lesen und Schreiben, sprach Deutsch und Russisch. Nach ihrer Ausbildung in Moskau arbeitete sie als Telegrafistin. Der Vater – Johann Johannowitsch (geb. 1911) – arbeitete als Tischler und Tür-Bauer der höchsten Kategorie. Die ältere Schwester hieß Olga (geb. 1936). Di Familie führte ein gutes Leben: sie besaß ein eigenes Haus mit großem Hof. Der Großvater war Händler und hatte einen eigenen Laden. Iraida Iwanowna erinnert sich an die Puppen, die in dem Geschäft verkauft wurden. Es lag auf der anderen Straßenseite, dem Haus direkt gegenüber.

Im Herbst 1941 wurden sie, ebenso wie die anderen Deutschen, deportiert. Im Dorf Jelowka wurden mehrere Familien ausgeladen, „ausgekippt“. Es gab Plakate mit Abbildungen von Deutschen, die Helme mit Teufelshörnern trugen, und viele dachten, dass die Deutschen gehörnte Wesen seien. Die Ortsbevölkerung kam herbei gelaufen, um sich diese deutschen Familien anzuschauen. Es stellte sich heraus, dass es ebensolche Menschen waren wie sie selber; alle wurden auf die Häuser verteilt, man beheizte die Öfen und gab ihnen zu essen. Die Mutter war schwanger, ein Junge wurde geboren – Wowa, der noch als ganz kleines Kind verstarb.

Onkel Karl (der jüngere Bruder des Vaters) machte eine Ausbildung in der Fliegerschule, und als der Krieg begann, flog er bereits. Die Fluglizenz wurde ihm entzogen.

Als der Vater den Einberufungsbescheid zur Arbeitsarmee erhielt, beunruhigte er sich und war in Sorge um seine Frau und die drei Kinder, die er zurücklassen musste. Ella Iwanowna hat keine Ahnung von Viehhaltung und weiß nicht, wie man die anderen notwendigen landwirtschaftlichen Arbeiten verrichtet; Johann Johannowitsch wendet sich deshalb an das Bezirkskomitee der Partei in der Ortschaft Karatuskoje und bittet darum die Familie umzusiedeln. Sie machten dort Zugeständnisse und gab ihnen als Wohnung eine Keller-Unterkunft.

Die Mutter fand zunächst Arbeit im Kombinat für Bedarfsgüter, wo Wolle gekämmt und Filzstiefel gewalzt wurden. Gearbeitet wurde in Nahtschichten. Die Kinder brachte sie im Kindergarten unter, wo sie auch über Nacht bleiben mussten. Im Kindergarten lebte und arbeitete „Baba Schenja“; sie hatte keine eigenen Kinder. Sie half Ella Johannowna, holte die Kinder zu sich und gab auf sie Acht, bis die Mutter von der Arbeit zurückkehrte: „Lena, wenn du zur Arbeit gehst, passe ich auf die Kinder auf“.

Ella Johannowna hatte bis zur Deportation in der Stadt gelebt und war nicht in der Lage, die wirtschaftlich notwendigen Arbeiten auf dem Lande zu verrichten. So wurde sie einmal von der Hauswirtin, bei der sie mit ihren Töchtern wohnte, bei Kälte zum Brennholzholen in den Wald geschickt. Die Hausherrin kam nicht auf die Idee, dass man ihr vielleicht hätte erklären müssen, was sie genau tun sollte und wie. Ella Johannowna nahm den Schlitten und ging los, um Holz zu suchen, aber sie vergaß die Axt. So sammelte sie Ruten und Gerten. Später glaubte sie kleine Feuerchen zu sehen; sie war der Meinung, dass irgendwer Lagerfeuer entfacht hätte. Wie sich herausstellte waren es aber Wölfe, die angefangen hatten sie zu umzingeln. Nur gut, dass ein Förster mit seinem Schlitten vorbeikam, durch dessen Geräusch die Wölfe aufgescheucht wurden. Der Förster nahm sie zu seinem Häuschen mit. Sie versuchte ihm die Situation zu erklären; er brachte sie zur Miliz, denn er hatte begriffen, dass sie eine deportierte Deutsche war. Und zu Hause machte sich indessen die Hauswirtin Sorgen, weil sie ihr nicht ausreichend erklärt hatte, was sie tun sollte. Sie bat Ella Johannowna später um Verzeihung.

Viele Male wechselten sie ihr Quartier (ungefähr 27 Wohnungen): mal nahmen andere Leute sie bei sich auf, mal fanden sie selber eine Zufluchtsstätte. Einmal lebten sie bei einer Frau mit einem fünfjährigen Sohn. Die Mutter wusch dort die Wäsche, hängte sie zum Trocknen auf und – sie wurde gestohlen. Es gab nichts zu essen. Um sich irgendwie durchzubringen, sammelten sie Kartoffelschalen, Beeren und Kräuter. Mit Müh und Not legten sie sich einen eigenen Gemüsegarten an und bauten eine Zeit lang Mais an.

Nach der Rückkehr des Vaters aus der Arbeitsarmee (Holzfällerei) im Jahre 1945 bekam die Familie eine Wohnung zugewiesen. Der Vater erzählte ein bisschen darüber, wie es in der Arbeitsarmee gewesen war: die Arbeit dort war gefährlich und schwer, unter anderem deswegen, weil es dort viele Verbrecher gab, welche die anderen misshandelten. Dort verkühlte der Vater sich die Lungen, was ständige Folgen für seine Gesundheit mit sich brachte. Aufgrund seines Gesundheitszustands hatten sie ihn auch nach Hause geschickt. Er fand Arbeit in der Waldwirtschaft und als Pferdepfleger. Später arbeitete er als Tischler. In Alma-Ata verzierte er den Kongress-Palast mit Schnitzereien; im Gebäude hing ein Porträt von Johann Johannowitsch. Er hatte Schüler, die er das Handwerk lehrte. Sie fertigten Möbel für Klubs und andere öffentliche Einrichtungen und Organisationen an.

Nachdem der Vater aus der Arbeitsarmee zurückgekehrt war, wurde noch ein Sohn geboren – Witja.

Die Eltern sprachen untereinander Deutsch, mit den Kindern Russisch. Als man sie in der Schule beleidigte und hänselte, baten die Töchter ihre Eltern darum, kein Deutsch mehr zu sprechen, wenn Gäste da waren: „Sie machen sich schon so genug über uns lustig, aber wenn sie Deutsch hören, wird es noch schlimmer werden“. Die Eltern trafen sich mit den Mädchen. Ein paar Worte verstanden die Mädchen, aber Deutsch war für sie bereits eine Fremdsprache.

Wenn die Mädchen in der Schule waren, fühlte sich Iraida Iwanowna immer wie „die allerletzte Sorte Menschen“, denn sie wurde als „Faschistin“ beschimpft. Sie erinnert sich daran, dass sie, wenn man sie im Unterricht etwas auf Deutsch fragte, aufstand und keinen Ton von sich gab, obwohl sie die Antwort wusste. Es war ihr peinlich. Sie wollte nicht unnütz Anlass dafür geben, dass man sie erneut beschimpfte. Später, als man anfing zu sagen, sie seien Russland-Deutsche, konnte sie etwas leichter durchatmen.

Iraida Iwanowna konnte sich an einen Fall erinnern – sie geht mit ihrer Freundin am Flüsschen entlang, es herrscht Frühlingshochwasser. Auf dem Weg von der Schule nach Hause müssen sie eine Brücke überqueren. Plötzlich schreit die Freundin wie aus heiterem Himmel: „Faschistin!“ und rennt davon. Sie lief und lief und – stürzte plötzlich ins Flüsschen. Sie schaffte es selber wieder an Land zu kommen. Zu Hause erzählte Iraida Iwanowna, was geschehen war. Die Mutter des Mädchens (Tante Lipa) kommt zu ihnen und will wissen, was passiert ist. Offensichtlich hatte ihre Tochter berichtet, dass Iraida Iwanowna sie geschubst hätte und sie deswegen in den Fluss gefallen wäre. Nach dem sie erfahren hatte, wie sich alles tatsächlich ereignet hatte, bestrafte Tante Lipa ihre Tochter. Am nächsten Tag gingen die Mädchen wieder gemeinsam zur Schule, als ob nichts geschehen wäre. Trotz dieses Zwischenfalls hatten die Mädchen auch weiterhin Umgang miteinander.

In Alma-Ata lebten die Brüder der Großmutter (der Mutter des Vaters). Nach und nach zog die Großmutter mit ihren Sachen dorthin um. Später begab sich auch die ältere Schwester ins Altai-Gebiet. Damals fingen die Deutschen an, von dort fortzureisen – unter anderem auch nach Deutschland. Olga Iwanowna konnte nur mit Mühe ein wenig Geld für ihre Behausung bekommen (die Ortsansässigen verhinderten das) und reiste mit ihren Töchtern ebenfalls nach Deutschland aus – zu ihrer Kusine zweiten Grades. Dort lebt sie heute noch. Sie hat es nicht bedauert.

Lange Zeit konnte Iraida Johannowna sich nicht zu einer Reise zur Schwester entschließen. Aber vor kurzem machte sie dort einen Besuch.

Das Interview wurde geführt von Darja Swirina.

 


Geburtsurkunde von Iraida Johannowna (Iwanowna) Schustowa (Paul)


Iraida Johannownas Vater Johann Johannowitsch


Iraida Johannownas Mutter Ella Johannowna. Foto aus der Zeit der Ausbildung in Moskau


Familien-Foto. Sitzend – die Mutter, Bruder Wassilij, der Vater; stehend – Iraida und Schwester Olga


Ganz rechts sitzt Johann Johannowitsch; stehend – Ella Johannowns. Neben Ella Johannowna der Bruder von Johann Johannowitsch

 

Forschungsreise der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität Krasnojarsk und der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation zum Projekt „Anthropologische Wende in den sozial-humanitären Wissenschaften: die Methodik der Feld-Forschung und Praxis der Verwirklichung narrativer Interviews“ (gefördert durch den Michail-Prochorow-Fond).


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