Wurde am 16. September 1935 an der Wolga, im Gebiet Saratow, Krasnoarmejsker Kreis, Dorf Grimm geboren. Zur Familiegehörten Vater Leonid Klimentewitsch Gelinger, Mutter Jekaterina Jakowlewna Gelinger, die Brüder Klimentij, Arkadij, Wladimir Dmitrij (wurde nach der Deportation geboren) sowie die Großmutter. Im Spätsommer 1941 wurden sie deportiert. Zusammenmit ihnen wurde auch Irma Leonidownas Tante verschleppt, deren Mann bereits 1937 verhaftet worden war. Sie wurden nachts geholt. Vier Kinder blieben zurück (Josif, Iwan, Serafim und Roman). Zur Zeit der Deportation war Irma Leonidowna 6 Jahre alt.
Die Familie hatte ein mittleres Auskommen. Sie besaß eine Wirtschaft mit Schweinen und Schafen, ein kleines Haus und ein privates Hofgrundstück.
Leonid Klementewitsch war ein gebildeter Mann; er arbeitete in der Finanzabteilung. Kommunist. Jekaterina Jakowlewna war als Leiterin des Kindergartens tätig.
Die Familie Gelinger war bereits rechtzeitig von einer möglichen Deportation vorgewarnt worden. Aber sie wurden völlig unerwartet am Tage geholt. Man gewährte ihnen Zeit zum Packen der Sachen. Sie nahmen alles mit, was sie nur irgend konnten (Kleidung, Bettzeug, ein paar Lebensmittel, die Nähmaschine, Teppiche). Auch den Hund und die Katze nahmen sie mit. Der Tante gelang es sogar noch, die Kuh abzugeben. Nach den ihr ausgehändigten Papieren erhielt sie bei Ankunft in der Siedlung Jarkalowo eine neue Kuh.
Mit einem Auto wurden sie bis an die Wolga gebracht. Dort stiegen sie auf einen Dampfer um, später ging es in einem Zug weiter. Mehr als einen Monat verbrachten sie in dem Zug, bis sie endlich in Krasnojarsk ankamen. Dreimal ließ man sie von einem Zug in einen anderen umsteigen. Manchmal hielt der Zug, und man hörte das Kommando „heißes Wasser“,was bedeutete, dass man ihnen zu essen geben würde. Morgens bekamen sie Tee, zum Mittagessen angebranntenWeizenbrei oder Suppe. Es gab wenig Wachpersonal. Mitunter schlossen die Begleitsoldaten alle Fenster und Türen. Auf die Frage „wozu?“ antworteten sie: „wir fahren gleich durch einen Tunnel“. Mit den unterwegs Verstorbenen wurde folgendermaßen verfahren: der Zug hielt irgendwo an einer schäbigen Holzhütte, der Tote wurde angekleidet, mit irgendwelchen Lumpen bedeckt und in die Kate gelegt (? – AB).
Von Krasnojarsk brachte man sie mit dem Schiff nach Jenisejsk, wo man sie neben der Anlegestelle aussteigen ließ. Sie mußten am Ufer warten. Nach einem Tag und einer Nacht kam ein Boot. Neben weiteren sieben Umsiedlerfamilien wurden sie ans andere Ufer des Jenisej gebracht. Dort erwartete man sie mit Pferden und brachte sie in das Dörfchen Jarkalowo. Man schrieb den September 1941.
Anfangs wurden alle im Klub untergebracht, später verlegte man sie in Häuser (jeweils 2-3 Familien). Die vielköpfige Familie Gelinger (11 Personen) kam in ein Einzelhaus. Später hatten sie ihr eigenes Blockhaus: sie tauschten sie gegen 5-6 Porträts von Kalinin, Woroschilow und anderen ein, die sie aus der Heimat mitgebracht hatten. (Diese Porträts werden kaum einen solchen Marktwert besessen haben – wahrscheinlich dienten sie eher als originelle Bezahlung für den Behörden-Vertreter, der das Haus zugeteilt hatte. Und ihm könnten die Bilder tatsächlich nützlich gewesen sein – AB).
Leonid Klimentewitsch und seine Söhne arbeiteten hauptsächlich in der Kolchose und im Waldrevier. Später gab man dem Vater eine Arbeit im Kontor. Ihre Tätigkeit wurde nach erzielten Tageseinheiten bewertet. Für eine Einheit gab es eine Tasse Mehl. Daraus kochte die Großmutter Wassersuppe.
Nach und nach tauschten alle ihre mitgebrachten Sachen gegen Kartoffeln, Salz und Butter ein (für einen neuen Teppich war es möglich, zwei Eimer Kartoffeln zu bekommen). Für Salz und Fett gaben sie den Hund her; die Katze war bereits an der Station Kemerowo fortgelaufen (über einen derartigen Umweg hat man sie transportiert? – AB). Es war ihnen nur noch die Nähmaschine geblieben.
Der Vater und die älteren Brüder wurden 1942 in die Arbeitsarmee einberufen. Leonid Klimentewitsch arbeitete in Reschoty beim Holzeinschlag; er war Brigadeleiter. Die Tante schickte man nach Nischnij Tagil. Ihre Kinder wollte man ins Kinderheim bringen, überließ sie dann aber der Obhut von Irma Leonidownas Mutter. In dieser Zeit hatte die Famioie Gelinger es sehr schwer. In der Kolchose wurden sie benachteiligt, erhielten brachtischkeine Gegenleistung für ihre Arbeit. Die Familie litt großen Hunger. Irma Leonidowna erinnert sich, wie sie Kartoffelschalen rösteten, die ihnen die Nachbarstochter, die aus einer wohlhabenden Familie stammte, durch die Ritzen der Gemüsegarten-Umzäunung zugeschoben hatte – ohne dass die Eltern es wußten. Der Vater kam auf Heimaturlaub nach Hause. Man bat ihn, im Kontor behilflich zu sein, wo er alle Papiere der vergangenen Jahre wieder in Ordnung brachte. Sofort bekam die Familie Gelinger drei große Säcke Weizen, 2 Säcke Roggen, 3 Säcke voll Hafer.
Die Ortsbewohner waren den Umsiedlern gegenüber feindlich gesinnt, empfanden sogar Ekel vor ihnen. Es entstanden Probleme beim Kontakt mit den Russen, weil nur die Großmutter Russisch konnte und der Vater in dieser Sprache auch nur wenige Worte wußte. Weil sie kein Russisch konnte, blieb I.L. Analphabetin: sie wurde einfach nicht in die Schule aufgenommen. Mit sechs Jahren fing sie an zu arbeiten. Sie sägte und hackte zusammen mit Bruder Roman Brennholz. Ab ihrem 11. Lebensjahr arbeitete sie, genau wie die Erwachsenen, in der Kolchose.
Den ersten Winter standen sie ohne warme Kleidung durch. Die Männer gingen in Jacketts und Gummiüberschuhen, die Kinder saßen zuhause. Später fing die Mutter an, Filzstiefel mit Hilfe der Nähmaschine herzustellen.
Einmal im Monat mußten sie sich in der Kommandantur melden. Die Umsiedler hatten kein Recht, sich aus dem Dorf zu entfernen; der Kommandant kam selbst zu ihnen.
Nach dem sie aus dem Status der Sonderansiedlung abgeschrieben worden war, heiratete I.L. Gennadij (Genrich = Heinrich) Wasilewitsch Schuwajew. Sie begab sich 1964 nach Syrjanka (die Jarkalowsker und Potapowsker Kolchosen waren zusammengelegt worden).
Über die Vergünstigungen weiß Irma Leonidowna bescheid; die Vergünstigung für Stromversorgung nimmt sie auch in Anspruch. In die Heimat ist sie nicht ein einziges Mal zurückgekehrt.
Das Interview führten: G. Ponomarewa (Jenisejsker Fachschule für Pädagogik),
Potapowo, Juli 2005
(AB – Anmerkungen von Alexej Babij, Krasnojarsker Gesellschaft „Memorial“)
Zweite Expedition für Geschichte und Menschenrechte, 2005