Alexander Jakowlewitsch Spomer wurde am 14. Oktober 1929 Nowoebasik, Ekensker Bezirk, Gebiet Saratow, geboren. Mutter: Jekaterina (Katharina) Filippowna Spomer (geb. am 19. September 1889.).Vater: Jakob Fjodorowitsch (1. Mai 1879.). Beide arbeiteten in der Kolchose auf einer Gemüse-Plantage. Neben Alexander Jakowlewitsch gab es in der Familie 9 weitere Kinder: Fjodor (1911), Emilia (1915), Maria (1915), Albina (1919), Klara (1921), Elsa (1923), Jakob (1925), Mila (1927), Lida (1932).
Vor der Deportation lebten sie in keineswegs ärmlichen Verhältnissen in einem großen Haus aus Ziegelsteinen – es war 10 x 8 m groß. Sie besaßen eine große Hofwirtschaft (Kühe, Schweine, Truthähne, Gänse), außerdem gehörten ihnen 20 Hundertstel Grund und Boden. In den letzten Jahren pflanzten sie selber nichts mehr an, denn beide Eltern arbeiteten in der Kolchose.
Es gibt nur wenige Dinge, an die A.J. sich aus seiner Kindheit an der Wolga erinnern kann. Er weiß nur noch, wie er zum Angeln ging und dass er im Herbst der Mutter half. Im Sommer sah er seine Eltern so gut wie gar nicht. Sie hinterließen zu Hause nur Notizzettel, auf denen geschrieben stand, wo die Kleidungsstücke lagen, die wir anziehen sollten und welche Arbeiten verrichtet werden mussten. «Ein herrlicher Moment, - erinnert er sich,- war, dass in einem großen Fass Wassermelonen lagen, und davon naschten wir. Um festzustellen, ob die Melonen auch schon reif waren, schnitten wir ein kleines Loch hinein, und wenn die Frucht nicht reif genug war, stopften sie sie wieder zu. Und so ging das immer weiter, bis der Vater ihnen „das Dach über dem Kopf anzündete““. Sehr schwer war es für sie, das Öl aus den Sonnenblumen herauszuschlagen, denn die Mühle befand sich ganz 5 km von ihrem Haus entfernt.
Dass man sie deportieren würde, erfuhren sie am 1. September, als sie in der Schule ankamen und der Schuldirektor zu ihnen sagte: «Heute gibt es keinen Unterricht, ihr könnt nach Hause gehen, denn ihr müsst Vorbereitungen für eine lange Reise treffen». Die Nachricht wurde ruhig aufgenommen: « Was sein muss, muss sein». Und vom 1. Bis 5. September packten sie dann ihre Sachen zusammen. Sie durften jeweils 3 Tonnen Sachen mitnehmen. Das Nötigste waren: Schuster-Werkzeug, Kleidung, Geschirr und Essen (sie schlachteten ein Schwein und buken Brötchen). Am 5. September 1941 wurde die gesamte Familie in die Ortschaft Galanino im Kasatschinsker Bezirk ausgewiesen. Als sie abfuhren, ließen sie eine gesunde Bauernwirtschaft zurück, die sie über viele Jahre aufgebaut hatten.
Schließlich brachte man sie mit dem Zug nach Krasnojarsk. Bei längeren Zughalten verpflegte man sie mit einer warmen Mahlzeit, alle hatten genug zu essen. In den Waggons befanden sich sowohl Männer, als auch Frauen. Da die Zugaufenthalte oft 2-3 Tage dauerten, konnten die Menschen sich in dieser Zeit in Ruhe waschen. In Krasnojarsk ließ man sie anschließend einen Lastkahn besteigen, der sie bis nach Galanino brachte.
Bei ihrer Ankunft wies man ihnen sogleich ein Haus zu, und nach Vorlage der Enteignungsbescheinigung erhielten sie einen Teil der Haushaltsgegenstände und des Getreides zurück. In dem Moment gab es in Galanino 60 Höfe. Die Ortsansässigen verhielten sich ihnen gegenüber sehr freundlich – so freundlich, dass die Nachbarin sogar erlaubte, auf ihrem Stückchen Land ein wenig Gemüse anzupflanzen. Jeder ging zur Arbeit in die Kolchose und arbeitete dort entsprechend seiner Berufsausbildung. Die Ortschaft gefiel ihnen, ringsum gab es nichts als Wald. Bei allen, die verschleppt worden waren, gab es lediglich einen Fall, in der zwei Familien in einer Wohnung untergebracht wurden. Problem in puncto Schule gab es nicht. Obwohl er in seiner Stadt das vierte Schuljahr bereits absolviert hatte, ging er 1944 erneut zur Schule und beendete die 4. Und 5. Klasse. 1951 begann A.J. in einer Schmiede zu arbeiten. 1960 verließ er den Ort, um eine Ausbildung als Fahrer zu machen. Schwierigkeiten bei der Kommunikation gab es nicht, denn ein Teil der Deutschen sprach Russisch, einige Russen konnten Deutsch, im Großen und Ganzen verstanden die Menschen sich untereinander.
Leider weiß A.J. nur wenig über die Arbeitsarmee; lediglich aus Erzählungen des Bruders, der ins Gebiet Kemerowo geschickt wurde, hat er einiges gehört. In seinen Briefen schrieb er darüber, dass er in der Holzflößerei tätig wäre. Wenn sie die Tagesnorm erfüllten, erhielten sie eine Brotration von 800 Gramm. Wenn sie die Norm nicht schafften, erhielten sie entsprechend weniger Brot. Männer und Frauen lebten in getrennten Baracken. Bekleidet waren sie mit gewöhnlichen Arbeitsanzügen, die dort ausgegeben wurden. Seine Briefe trafen nicht immer auf reinem weißem Papier ein: aufgrund des Papiermangels mussten sie manchmal auch auf Zeitungspapier geschrieben werden. Vor dem Versenden eines Briefes aus der Trudarmee musste er auf jeden Fall die Zensur passieren. Pakete von oder nach dort zu schicken war gänzlich verboten. Selbst wenn man es gekonnt hätte – es gab ja nichts, was man hätte versenden können.
In der ersten Zeit war Menjajew der Kommandant, der ihnen keine besondere Aufmerksamkeit schenkte; einige Zeit später kam ein gewisser Gluschkow, um ihn abzulösen – er war ein sehr guter Mensch. Wenn jemand irgendwohin fahren musste, dann ließ er ihn ohne Problem fahren. Von den Ortsansässigen unterschieden sie sich nur wenig; sie waren alle gleich angezogen, und ihre Kleidung nähten sich selber – aus Säcken. Alle pflegten einen freundschaftlichen Umgang miteinander, gingen gemeinsam in den Klub, tanzten verschiedene Volkstänze (Polka, Walzer). Filme gab es noch nicht von Anfang an. Erst 1946 brachte man den ersten Stummfilm, und eine Eintrittskarte dafür kostete 5 Kopeken.
1956 wurde die Sonderkommandantur für alle abgeschafft. Danach änderte sich das Leben für niemanden, wenngleich jeder nun wieder frei seinen Wohnort wählen konnte. Er selber fuhr nicht in die ursprüngliche Heimat zurück, und er weiß auch nicht, was sich dort alles verändert hat und was geblieben ist.
Gegenwärtig hat A.J. seine Meinung nicht geändert; für ihn gilt auch weiterhin: „Was sein muss, muss sein!“ Von sich selber sagt A.J.: „In mir gibt es nichts Deutsches, ich bin ein – Sibirjak“…
Das Interview wurde geführt von Anastasia Dawidowa und Tatjana Milewskaja.
(AB – Anmerkungen von Aleksej Babij, Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft ) Neunte Expedition des Krasnjarsker "Memorial“ und des Pädagogischen College in Jenisseisk, Worokowka-Kasatschinskoje-Roschdestwenskoje 2014 .