Emmanuel Christianowitch Wagner wurde 1935 im Gebiet Saratow, Ortschaft Alt-Urbach, geboren. Sein Vater, Christan Christianowitsch (geb. 1905) und Mutter Sophia Genrichowna (geb. 1907) arbeiteten in der Kolchose im Sommer auf den Feldern und Plantagen und bauten Gemüse an. E.C. berichtet, dass die Eltern sich oft an das angenehme Klima an der Wolga zurückerinnerten, welches so beschaffen war, dass man noch nicht einmal das Getreide trocknen musste: es trocknete ganz von selbst in den Ähren… In der Familie gab es 7 Kinder – den ältesten Bruder Christian, Sophia, Frieda (geb. 1933), Emmanuel (geb. 1935), Andrej (geb. 1937), Wladimir (geb. 1939) und noch ein Mädchen, die jüngste (an deren Vornamen sich der Befragte nicht mehr erinnern kann). Die Familie besaß ein eigenes Haus, eine Hofwirtschaft – Schafe und eine Kuh.
„Ich war damals noch ganz klein, als 1941 der Krieg ausbrach, und zum Herbst transportierten sie uns aus unserem Heimatdorf ab; nur Kleidung und Lebensmittel nahmen wir mit. Bis zur nahegelegenen Bahnstation brachten sie uns auf einem Leiterwagen, vor den Ochsen gespannt waren, und als wir dort ankamen, verfrachteten sie uns auf Güterwaggons, in denen es Holzpritschen gab; zwei Familien kamen darauf unter, die übrigen richteten sich auf dem Fußboden ein und legten oder setzten sich auf ihre Bündel. Unterwegs bekamen wir nichts zu essen; wir verbrauchten das, was wir selber mitgenommen hatten (mit Fett begossenes Schweinefleisch) …“. So kam die Familie Wagner einige Zeit später nach Sibirien, in das entlegene Tatarendorf Timerschik im Pirowsker Bezirk. Es gab keine Behausungen, und deswegen wurden die Neuankömmlinge bei Ortsansässigen untergebracht.
Das Dorf Timerschik war rückständig, die Bewohner hielten ausschließlich Vieh – Kühe, Schafe, Pferde und bauten Kartoffeln an. Aber dann, mit dem Auftauchen der Sondersiedler, gab es im Dorf plötzlich Kohl, Gurken, Tomaten und Mohrrüben. Die Deutschen hatten nicht nur die Samen für diese Gemüsesorten mitgebracht, sondern brachten den Ortsbewohnern auch bei, wie man den Boden verbessert und diese für sie neuen Kulturen aufzieht. Als man damit anfing, Kohl gegen geleistete Tagesarbeitseinheiten auszugeben, herrschte unter den Dorfbewohnern große Freude, als ob man das „Sabantuj“-Fest feiern würde.
Bei der Ankunft wollte man der Familie Wagner eine Kuh und ein Schaf zurückgeben, aber sie lehnte die Tierhaltung ab, denn es gab nichts, womit man das Vieh hätte füttern, keinen Platz, an dem man es hätte unterbringen können, und draußen herrschte Winter, Kälte; so erhielten sie stattdessen eineinhalb Sack Weizenmehl.
Den Vater dieser großen Familie holten sie in demselben Jahr in die Arbeitsarmee; zuerst musste er in Reschoty Bäume fällen, etwas später wurde er in den Ural verlegt, wo er ebenfalls in der Holzfällerei tätig war. Er kehrte erst 1948 zurück. Als Emmanuel Christianowitschs ältester Bruder sein 15. Lebensjahr vollendete, wurde er, ebenso wie sein Vater, in die Trudarmee mobilisiert.
Im ersten und schwierigsten Winter herrschte eine schreckliche Hungersnot, und es kam so weit, dass es im Haus kein einziges Krümelchen Brot und keinen einzigen Schluck Wasser mehr gab. Mutter und Kinder hungerten, bis der ganze Körper von Ödemen angeschwollen war und sie die blau angelaufenen Arme und Beine kaum noch bewegen konnten. Als die Mutter dieses schreckliche Bild vor Augen sah, war sie ganz außer sich; sie wollte doch nicht zusehen, wie ihre Kinder starben. Die älteste Tochter Frieda überlebte den Hungerwinter nicht, und nach ihrer starb auch noch das jüngste Mädchen. Als Sophia Genrichowna die Situation nicht mehr ertragen konnte, beschloss sie zum Arbeiten nach Pirowskoje zu gehen. Dort musste sie mit einer Quer-Säge Holz sägen und bekam dafür 500 Gramm Brot; sie arbeitete sechs Tage die Woche und ging nur an den Sonntagen zu ihren Kindern nach Hause, um ihnen die aufgesparten Krümelchen zu bringen. Aber auch damit konnten sie sich nicht sattessen, denn die tatarische Hauswirtin nahm den Kindern das Brot fort, sobald die Mutter die Tür wieder zugeschlossen hatte. Der kleine sechsjährige Emmanuel und sein etwas älteres Schwesterchen gingen in den Wald und holzten kleine Birken ab und beheizten dann mit dem feuchten Holz den Ofen.
„Manchmal umwickelten sie ihre Füße mit alten Lappen, damit ihnen die Zehen nicht erfroren, und dann gingen sie durch das Dorf und baten um Almosen; manch einer gab ihnen etwas, von anderen wurden sie auch fortgejagt…. „Die Ortsansässigen waren nicht gut zu uns, sie waren böse und beschuldigten uns, dass ihre Söhne an der Front stürben, dabei gab es doch überhaupt niemanden, der den Krieg hatte haben wollen. Hitler und Stalin konnten sich irgendwie nicht einigen, und das gesamte einfache Volk musste es teuer bezahlen….“
Im Sommer sammelten sie alle möglichen Gräser, Pflanzenbüschel, Rüben- und Kartoffelkraut …. Sie versuchten zu überleben so gut es ging…. Die Schule besuchten sie nicht, es gab ja nichts zum Anziehen. Und erst als sie Sophia Genrichowna ein Zimmer gaben, holte sie die Kinder zu sich, und dann gingen sie auch in die Schule. Aber Emmanuel Christianowitsch blieb nicht lange in der 1. Klasse. Als unverhofft der erste Frost kam, war er gezwungen zuhause zu bleiben….. Ein Jahr später ging er erneut in die 1. Klasse; er konnte überhaupt kein Russisch sprechen, verstand es auch sehr schlecht, und die Fragen der Lehrerin übersetzten ihm deutsche Kinder, die schon etwas früher nach Pirowskoje gekommen waren.
Einmal bezahlte man Sophia Genrichowna 1000 Rubel, und für das Geld brachte sie es fertig, ein paar Stoffsäcke anzuschaffen. Sie trennte sie auf und nähte aus dem Sackstoff mit der Hand Hemden und Hosen für alle Kinder. Sie kleidete alle so, wie sie es vermochte. „Unser großer Dank gilt der Mutter, die alle Kräfte aufwandte, um uns zu ernähren und auf den Beinen zu halten … Wir schwollen vor lauter Hunger so auf, dass wir überhaupt nicht mehr gehen konnten. Du gehst ein Stück und musst dich gleich wieder setzen … es muss schmerzlich gewesen sein, ein scheinbar wohlgenährtes Jungchen so zu sehen, das unter seiner Haut nicht als Wasseransammlungen hatte - mit bläulich verfärbtem Körper und einem mühsam schlagenden Herz….“.
1952 wurde Emmanuel Christianowitsch an der Betriebsfachschule in Jenisejsk angenommen. Dort machte er eine Zimmermannslehre, und danach arbeitete er auf der Schiffswerft – dort bauten sie Lastkähne, und dort begegnete er auch seiner zukünftigen besseren Hälfte – Erna Jakowlewna Kirsch (sie war in der Fugendichter-Brigade beschäftigt). Sie lebten in einem Wohnheim (zwei zweigeschossige Baracken; in jeder kamen 150 Personen unter). …
Emmanuel Christianowitsch hat drei Söhne, und heute hält er sich für einen vollwertig gestandenen Menschen, dessen Lebensdevise der Satz ist: „Lass niemals den Mut sinken!“