Rosa Danilowna empfing uns an einem warmen Julimorgen an der Schwelle ihres Hauses im Dorf Sagaiskoje, Bezirk Karatus. Ihre Geschichte erzählte sie sehr emotional und interessant.
Im Herbat 1941 wurde die Familie Schwabenland (der Mädchenname der von uns Befragten) aus der Autonomen Republik der Wolgadeutschen ausgesiedelt. Nach Sibirien verschickt wurden der Vater Daniel Augustowitsch (geb. 1908), Mutter Kristina Augustowna (1914, Mädchenname Schmidt), Daniels Mutter Jekaterina Feliksowna (geb. 1978) sowie zwei ihrer kleinen Söhne: Daniel (geb. 1931) und August (geb. 1939). Im Januar 1942 kam ein weiterer Sohn namens Andrej zur Welt. Nach den Erzählungen der Mutter war die Familie arbeitsam (die Mutter arbeitete in der Kolchose, der Vater war Traktorist). Vor der Aussiedlung hatten sie kein schlechtes Leben geführt: an der Wolga hatten sie ihre eigenes Haus, drei Kühe, einen großen Garten, aber sie mussten alles zurücklassen. Zum Packen gab man ihnen nur wenig Zeit. Mitnehmen konnten sie lediglich „einen Koffer, die zwei Kinder – und das wars“.
Viele Dorfbewohner aus der ASSR der Wolgadeutschen gerieten in den Bezirk Karatus. Allerdings verstreute man sie dort ungeachtet ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen in verschiedene Dörfer: die Schwester der Mutter wurde ins Dorf Tscherepanowka geschickt, die Familie Schwabenland und drei weitere deutsche Familien kamen nach Sagaiskoje. Man gab Rosa Danilownas Eltern eine kleine Hütte mit einem einzigen Zimmer.
Die Familie konnte sich in Sagaiskoje noch nicht einmal einleben, als der Vater im Winter 1942 zur Arbeitsarmee eingezogen wurde, in der er acht lange Jahre verbrachte. Nach seiner Rückkehr wurden bei den Schwabenlands noch fünf weitere Kinder geboren: Rosa, Jekaterina, Anna, Maria und Pawel. Das Familienoberhaupt sprach wenig davon, wo und wie er gearbeitet hatte, als er in der Arbeitsarmee war. Glaubwürdig bekannt ist, dass er in einem Schacht eingesetzt wurde, unter Tage: „Für zwei Stunden lassen sie einen nach oben und dann ging es wieder hinunter in den Schacht“. In Sagaisk lag die ganze Last des Familienoberhaupts auf den Schultern von Kristina Augustowna, die drei Söhne und die Mutter des Ehemannes durchbringen musste. Mutter Rosa Danilowna arbeitete in der Kolchose und kümmerte sich danach um den Haushalt. Der älteste Sohn Daniil (etwa 12 Jahre alt) arbeitete im Pferdestall und fuhr die Vorarbeiterin herum. Wie die Mutter sagte – „er verdiente sich schon sein Stückchen Brot“. Es kam nicht dazu, dass er in Sibirien zur Schule ging. Die Verwandten, die im Bezirk Karatus verstreut angesiedelt waren, bemühten sich einander gegenseitig zu helfen, obwohl sie mehr als ein Dutzend Kilometer zu Fuß gehen mussten. In den 1940er Jahren und Anfang der 1950er waren Rosa Danilownas Eltern, wie auch die anderen Deutschen, verpflichtet, sich einmal im Monat in der Kommandantur zu melden.
Nachdem der Vater nach Hause zurückgekehrt war, arbeitete er in der örtlichen Kolchose als Schmied und Traktorfahrer. Die Mutter arbeitete ihr ganzes Leben lang: nach dem Krieg im Hühnerstall, später als Kindergärtnerin.
In der Familie Schwabenland wurde ausschließlich Deutsch gesprochen; „sie verstanden kein Wort Russisch“. Das erschwerte in der ersten Zeit ihre Anpassung in Sibirien ganz erheblich. „Geh‘ arbeiten, hieß es, aber was sie tun sollten, das verstanden sie nicht“. „Man lachte über uns“, - sagte die Mutter, obwohl sie sich an diese schwierige Zeit nicht gern erinnerte. Nach und nach lernten sie ein wenig Russisch. Aber zu Hause wurde weiter Deutsch gesprochen: „Ich wurde oft ausgeschimpft, gesteht Rosa Danilowna, weil ich auf Russisch antwortete“. Die in Sibirien geborenen Kinder nahmen Russisch als Umgangssprache an, aber Deutsch wollten oder konnten sie nicht reden.
Kristina Augustowna war lutherischen Glaubens und bewahrte in Sibirien die Treue zu dieser Konfession. Wie auch andere deutsche Frauen, die in die Ortschaft Sagaiskoje geraten waren, ging sie an den Sonntagen zu ihren inoffiziellen Treffen, wo die deutschen Frauen ihre Lieder sangen.
Rosa Danilowna ging in Sagaiskoje zur Schule. Während der Ferien arbeitete sie stets: „Mutter pflückte Machorka-Tabak und wir bearbeiteten ihn, ich transportierte Wasser für die Brigaden zur Plantage“. Nach Beendigung der achten Klasse fand sie in der Kolchose Arbeit als Melkerin, denn der Vater sagte: „Erstmal verdienst du dir etwas, danach kannst du eine Ausbildung machen“. Anschließend ding sie in Minussinsk in die Schule für Buchhalter und Rechnungsführer, dann absolvierte sie das Atschinsker Technikum und arbeitete im Folgenden vierundvierzig Jahre „in der heimatlichen Kolchose und fuhr an keinen anderen Ort“. 1971 heiratete Rosa Danilowna den deutschen Burschen Alexander Eisner, dessen Familie, ebenso wie Rosas, im Herbst 1941 aus dem Wolgagebiet ausgewiesen worden war. Aus der Ehe zwischen Rosa Danilowna und Alexander Friedrichowitsch entstanden zwei Kinder: eine Tochter und ein Sohn. Rosa Danilownas anderen Geschwister heirateten Russen oder Russinnen. Und auch die Kinder der von uns Befragten leben in Mischehen. Inzwischen hat sie vier Enkelkinder, auf die sie stolz ist.
In ihrer Jugend war Rosa Danilowna ein gesellschaftlich sehr aktiver Mensch: als Sekretärin der Komsomolzen-Organisation; danach trat sie der Partei bei. „Ich glaube auch heute noch an die Partei, dass wir zu Zeiten der Partei immer noch besser lebten, wie es auch gewesen sein mag“. Ihre Verwandten (besonders der Vater) hießen die Aktivitäten der Tochter nicht gut. Aber sie nahm immer an allem teil – auch entgegen der elterlichen Meinung.
Die Kinder von Kristina und Daniel Schwabenland wurden erwachsen und blieben alle im Bezirk Karatus, mit Ausnahme einer der Töchter, die in den Fernen Osten ging.
Die Gesundheit des Vaters wurde durch die Arbeitsarmee zerstört. Er starb 1965, obwohl er noch gar nicht alt war. Nach dem Tod des Ehemannes hielten die ortsansässigen Männer um Kristina Augustownas Hand an, aber sie heiratete nicht wieder. Trotz des schwierigen Lebens wurde sie 92 Jahre alt. Nach deutscher Tradition und dem Vermächtnis der Mutter hielten deutsche Frauen ihre Totenmesse ab und sangen religiöse Lieder: „Den ganzen Abend haben sie gesungen und sind auch am nächsten Morgen noch einmal gekommen“. Allerdings, bemerkt die von uns Befragte, zeigte das Leben unter Russen seine Auswirkungen: die Mutter bat darum, auch die russischen Bräuche einzuhalten und am 9. Und 40. Tag, nach einem halben und einem Jahr der Verstorbenen zu gedenken, obwohl das bei den Deutschen nicht üblich ist. Rosa Danilowna spricht mit großer Dankbarkeit über ihre Mutter: „Ein schweres Leben hat sie gehabt, aber acht Kinder großgezogen“.
Der Wunsch ins heimatliche Wolgagebiet zurückzukehren, kam bei der Familie nicht auf. Bereits zur postsowjetischen Zeit diente Rosa Danilownas Enkel im Gebiet Saratow und sie bat ihn darum, das elterliche Haus an der Wolga einmal aufzusuchen. In den 1990er Jahren, als man im Land über mögliche Kompensationszahlungen an die Ausgesiedelten wegen des zurückgelassenen Besitzes sprach, versuchte Rosa Danilowna Dokumente für den Erhalt einer Entschädigung für den Besitz, den ihre Eltern an der Wolga im Stich lassen mussten, auszufüllen. Aber es gelang ihr, ebenso wie vielen anderen Deutschen, nicht, Geld zu erhalten. Als die Sowjetunion zusammengebrochen war, wollte Rosa Danilowna einen Antrag für die Ausreise nach Deutschland stellen. Damals reisten viele Bekannte aus. Aber ihr Mann gab sein Einverständnis nicht, und so blieb sie in Sagaiskoje.
Rosa Danilowna erinnert sich, dass die Kinder sie in der Schule, bereits Ende der 1950er Jahre, beschimpften und als „Faschistin“ und „Deutsche“ bezeichneten. Sie ist der Ansicht, dass man sich auch heute noch den Repressionsopfern gegenüber mit Voreingenommenheit verhält, obwohl bereits viele Jahre vergangen sind. Die Deutschen haben schließlich keine Schuld daran, dass sie ausgesiedelt wurden – „wozu hat man sie vertrieben, warum haben sie das getan?“ „Sie haben für nichts und wider nichts gelitten. Und wie ist man mit ihnen umgegangen? Wie mit Hunden. Die schmutzigsten Arbeiten mussten sie verrichten“. Natürlich kamen die Beziehungen untereinander mit der Zeit zurecht: „Und es gab Freunde“, „man besuchte sich“, was in mancherlei Hinsicht der Verdienst von Kristina Augustowna ist, der es gelang, die Sympathien der Leute zu erwecken und die sehr umgänglich war. Ganz allmählich lebten sie sich ein…
Rosa Danilowna ist schon lange in Rente, aber sie ist in großer Sorge darüber, was in ihrem Heimatdorf passiert: „Damals war hier eine gesunde Kolchose, nun ist alles verfallen“; „wir haben schon einen Brief an den Gouverneur der Region geschrieben, aber bislang noch keine Antwort bekommen“. Und nach Deutschland will sie auch nicht mehr ausreisen.
Das Interview wurde geführt von Jelena Sberowskaja und Marina Konstantinowa.
Rosa mit Tochter und Mutter
Rosa Danilowna mit Ehemann Alexander Friedrichowitsch Anfang der 1960er Jahre
Deutsche Hochzeit in Sagaiskoje in den 1950er Jahren
Forschungsreise der Staatlichen Pädagogischen W.P. Astafjew-Universität Krasnojarsk und der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation zum Projekt „Anthropologische Wende in den sozial-humanitären Wissenschaften: die Methodik der Feld-Forschung und Praxis der Verwirklichung narrativer Interviews“ (gefördert durch den Michail-Prochorow-Fond).