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Inoffizieller Bericht. Siebte Expedition für Geschichte und Menschenrechte der Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft und der Pädagogischen Fachschule in Jenisejsk. Podtjosowo, Nowotroizk. 1.-10. Juli 2010

Bis heute wurden auf der Webseite lediglich Foto-Reportagen über die Expeditionen und Texte mit den Zeugenberichten bereits betagter Opfer politischer Repressionen veröffentlicht. Mit Ausnahme der dritten Expeditionsreise, in deren Verlauf wir nicht nur Repressionsopfer befragten, sondern auch versuchten, den Lagerpunkt des SibULON(Sibirisches Lager mit besonderer Bestimmung; Anm. d. Übers.) in der Siedlung Kriwljak zu erforschen, waren es in erster Linie diese Zeugenberichte, die wir als Ergebnisse der Fahrten mitbekamen. Allerdings waren die gewonnen Informationen über das SibULON äußerst bescheiden, so daß sie beim Krasnojarsker „Memorial“ nur intern in die Berichterstattung eingingen.
 

Die siebte Expedition nun war in puncto Forschung und Abenteuer reichhaltiger. Deswegen ist dieser inoffizielle Bericht entstanden. Inoffiziell – weil es darin neben den gesammelten Informationen auch viele Eindrücke und sogar gewisse Intrigen gibt.

Der Bau des Dammes in Podtjosowo

Der Damm wurde in den 1940er Jahren von Häftlingen der dort befindlichen Lageraußenstelle des NorilLag erbaut, um einen Reparaturstandort für die Flotte to schaffen. Die Entscheidung über den Bau eines solchen Damms hatte 1935 O.J. Schmidt gefällt. Etwas ausführlicher kann man darüber in der Arbeit von Andrej Plotnikow nachlesen:

„Im Rahmen der Erschließung des Nordmeer-Seeweges und des Nordens nachte O.J. Schmidt 1935 in der Stadt Jenisejsk halt.

In den zwei Jahren  zuvor, im Spätherbst 1933 schwamm auf dem Fluß dichtes Treibeis, das sich immer schneller zu einer dichten Eisschicht zusammenfügte. Die Schiffskarawane fuhr, um sich vor dem Zufrieren in Sicherheit zu bringen, in einen Nebenarm nahe der Ortschaft Podtjosowo ein.  Zu diesem Schiffszug gehörten auch die Motorschiffe „Tobol“, „Polar“, „K. Woroschilow“, der Dampfer „Turuchansk“ sowie 33 Lastkähne und Leichter. Die „Tobol“ und die „Turuchansk“ begaben sich zur Überwinterung nach Jenisejsk. In den 17 Hütten der kleinen Siedlung mehr als 100 Menschen unterzubringen, erwies sich als annähernd unmöglich; man mußte in aller Eile eine Baracke zusammenbauen. Anschließend kamen noch eine Werkstatt, eine Schmiede und ein kleines Kraftwerk hinzu, indem man einen Generator von der „K. Woroschilow“ aufstellte. Sogar ein Klubhaus wurde errichtet. Der unfreiwillige Schiffsaufenthalt verlief somit erfolgreich.

Danach wurden derartige Überwinterungen wiederholt; der Entschluß war gereift, in diesem Bezirk ständige Überwinterungsmöglichkeiten für Schiffe zu schaffen und an dieser Stelle eine Schiffsreparatur-Werkstatt zu errichten.

Mehrere Vorschläge standen zur Auswahl: einen geschützten Ankerplatz zwei Kilometer weiter flußabwärts von Jenisejsk einzurichten, die Nebenarme der Jenisejsker Stadtinsel zu nutzen, sich am Podtjosowsker Nebenarm niederzulassen.

Im August 1935 traf O.J. Schmidt mit dem Dampfer „Maria Uljanowa“ in Podtjosowo ein.
Die Ortswahl für den mächtigen Überwinterungsplatz fand statt. Otto Julewitsch Schmidt, der Leiter der Dampfschifffahrt – P.M. Meschtscherjakow, A.K. Janson, der Leiter der Reparaturarbeiten in Podtjosowo – Suchow, und der erste Sekretär des Jenisejsker Bezirkskomitees der Partei – I.A. Iskra – begaben sich nach Podtjosowo, durchfuhren die Nebenarme, sahen sich die von den Überwinterern bereits errichteten Gebäude an und legten fest, daß hier ein Damm für den geschützten Winter-Ankerplatz gebaut werden sollte.

Am 27. Februar 1936 wurde der Schiffsreparatur-Stützpunkt in Podtjosowo gegründet, dessen Initiator Otto Julewitsch Schmidt war“.

Der eigentliche Bau des Damms begann jedoch erst 1943. Da die Schiffsreparatur-Station zum Einzugsbereich des Norilsker Unternehemens gehörte, wurde in Podjosowo eine Filiale des NorilLag geschaffen, in dem nicht nur Gefangene, sondern auch Angehörige der Trudarmee arbeiteten. Das Lager befand sich an der gegenwärtigen Einfahrt nach Podtjosowo, wo heute die Kalinin-Straße verläuft (etwas beginnend mit der Hausnummer 20), im Bereich des Bezirks mit dem Geschäft „Hoffnung“. Es gab  Wachen und einen Stacheldrahtzaun. In Jenisejsk wurde eine Sonderkommandantur eingerichtet. Für das Bauprojekt wurden etwa 500 Mann eingesetzt. Moltschanow war dort Ober-Ingenieur, der Lagerleiter hieß Sluzkij; später kam Nikolajew. Alle Spezialisten dieses Bauprojekts waren nach § 58 verurteilte Häftlinge - unter ihnen befanden sich auch Ingenieure und ehemalige Fabrikdirektoren.

Wenn es keinen Bauleiter gegeben hätte, wäre der Damm nie gebaut worden. Wasilij Nikolajewitsch Kaleda, einer der Gefangenen (§ 58) war es, der hier zuerst als Revierleiter und später als Ingenieur tätig war. Man hatte ihm 10 Jahre aufgebrummt, aber tatsächlich saß er 17 Jahre ein – sie fanden genügend Gründe ihn nicht freizulassen, denn er war ein wertvoller Fachmann. Er sorgte sich um das Schicksal der Menschen, er bewirkte, daß sie keine Lebensmittel-Diebstähle begingen und ausreichende Verpflegung erhielten. Es gab eine Kantine. Wer gute Arbeit leistete, konnte unter Umständen ein zusätzliches Mittagessen bekommen. Auf der Insel gab es sogar eine Lager-Hilfswirtschaft. Die Insel wurde umgepflügt and dort Rüben und Kohl angebaut.

Der Damm selbst befand sich etwa vier Kilometer vom Lager entfernt. Die ganze Arbeit dort wurde mit den Händen erledigt. Länge 2800 Meter, Höhe 7 Meter. Während des Dammbaus wurden die Steine aus dem Steinbruch bei Podtjosowo mit Booten herangefahren und in den Jenisej geworfen. Am Fuße des Damms war Sumpfgebiet. Man mußte schmale Gräben zur Trockenlegung ausheben. Übrigens, als ich versuchte den Damm zu fotografieren, geriet ich in eben diesen Sumpf. Und so wurden vom Damm auch keine Fotos gemacht. Viele Einwohner von Podtjosowo berichten, daß die während der Bauarbeiten verstorbenen Häftlinge sofort bestattet wurden – innerhalb der Dammanlage. Das ähnelt eher einer Legende, wenngleich es gut möglich ist, daß es auch vereinzelt deratige Fälle gab. Aber der Lagerleiter untersuchte jeden einzelnen Fall eines verstorbenen Gefangenen.

Die Essensration sah folgendermaßen aus: einmal im Monat 2 kg Fleisch, 1 kg Fisch; es wurde amerikanisches Dosenfleisch ausgegeben. Es gab auch Spezialkleidung, insbesondere amerikanische Schnürschuhe. Aber das Essen reichte nicht, die Menschen litten Hunger.

Es herrschte Frost – bis minus 62°, von der Arbeit freigestellt wurden die Arbeiter ab minus 42°. Gebaut wurde rund um die Uhr. Die Trudarmisten arbeiteten nachts, von ein Uhr bis acht Uhr morgens, denn normalen Gefangenen war es verboten, während der Nacht zu arbeiten. Technische Gerätschaften gab es nicht – nach dem Krieg tauchten allerdings zwölf japanische LKWs auf, aber bis zu diesem Zeitpunkt gab es lediglich zwei LKWs, alles andere mußte in Schubkarren befördert werden.

1944 ereignete sich ein Unglücksfall; am 1., 2. 3. Mai schwammen große Eisschollen auf dem Jenisej, die ganze Arbeit an dem Bauprojekt hätte umsonst gewesen sein können. Alle arbeiteten und füllten Säcke mit Sand auf, um so den Damm zu schützen.

Im Keller des Lagers gabe es eine BUR (Strafbaracke mit verschärftem Regime; Anm. d. Übers.), in die man die politischen Gefangenen wegen verschiedener Vergehen schickte; sie bekamen dort nur schwarzes Brot und eine Wattejacke. Besonders an Feiertagen fürchtete man, daß sie etwas anstellen könnten. Es gab eine gesonderte Wachmannschaft; wenn man einmal in die BUR kam, mußte man dort 5 Tage und Nächte einsitzen. Auch Kaleda wurde dort eingesperrt. Anschließend schickten sie ihn nach Norilsk.

1949 wurde der Damm fertiggestellt und das Lager aufgelöst. Heute ist vom Lager nichts mehr zu sehen. An seiner Stelle sind neue Häuser entstanden – es handelt sich um den Bezirk Koschewyj- und Kalini-Straße (in jenem Teil, welcher der Einfahrt in die Siedlung  am nächsten gelegen ist).


Vermutlich befand sich in dieser Baracke (Straße des 1. Mai N° 3) die Kommandantur

Zu unserer Zeit wurde am Abzweiger der Straße in Richtung Damm (nicht einmal 4 Kilometer von Podtjosowo entfernt) ein Kreuz zu Ehren der Häftlinge aufgestellt, die den Bau des Damms zu Wege gebracht haben.

Aufgestellt auf Initiative von Vater Witalij Suchotin (Kirche des Heiligen Nikolaus, Siedlung Podtjosowo). Befindet sich an der Abzweigung zum Damm, gleich an der Straße Jenisejsk – Podtjosowo (4 km von Podtjosowo entfernt).

Sie auch folgende Befragungen, die in Podtjosowo von Teilnehmern der Expedition durchgeführt wurden:

Auf den Spuren von Ewa-Pawlowna Rosenholz-Lewina

Ewa Pawlowna Rosenholz-Lewina verbrachte die Verbannung im Kasatschinsker (Momotowo, Nowotroizkoje, Roschdestwenskoje) und im Jenisejsker Bezirk (Jenisejsk, Podtjosowo).

Wir versuchten herauszufinden, welche Information es über sie in der vorangegangenen Expedition gegeben hatte, aber in Momotowo kann sich niemand an sie erinnern, nicht einmal diejenigen, die zu der Zeit, genau wie sie, bei der Holzbeschaffung gearbeitet haben. Allerdings war sie in Momotowo auch nicht sehr lange geblieben, sie war verschlossen, lebte zurückgezogen, und es war schon sehr schwierig sie inmitten hunderter Sondersiedler zu bemerken.

Wenngleich Nowotroizkoje sich nur insgesamt 25 km von Momotowo entfernt befindet, gelang es während der vergangenen Forschungsreisen nicht, auch dorthin zu fahren. Diesmal mußten wir von Jenisejsk aus anreisen (etwas über zwei Stunden Fahrt). Die Sache wurde unerwartet dadurch erschwert, dass, wie sich herausstellte, von Kasatschinsk überhaupt keine Busse nach Nowotroizkoje fahren. Man muß sich zuerst mit der Fähre nach Momotowo begeben; von dort kann man dann zweimal die Woche den Bus nehmen: er fährt bis Nowotroizkoje, macht kehrt und fährt den gleichen Weg wieder zurück. Daher bleibt einem nichts anderes übrig, als von Momotowo per Anhalterzu fahren, aber es gibt nur selten Fahrzeuge, die vorbeikommen und zufällig den gleichen Weg haben. Trotzdem hatte ich Glück: auf diese Weise kam ich nicht nur hin und zurück, sondern in dem Fahrzeug befand sich auch eine der alteingesessenen Einwohnerinnen von Nowotroizkoje. Zudem gewannen wir dieses Mal detailliertere Informationen von Ewa Pawlownas Tochter Jelena Borisowna, unter anderem aus Briefen, die Ewa Pawlowna einst aus der Verbannung schrieb. So kamen wir sofort genau an die richtigen Leute. Unsere Aufgabe war es, diese Leute zu finden und zu befragen und den Versuch zu unternehen, die kleinen Teppiche ausfindig zu machen, mit denen Ewa Pawlowna sich in Nowotroizkoje einst ihren Lebensunterhalt verdiente. Körperliche Arbeiten konnte sie nicht verrichten, aber sie bat stets darum ihr Farben zum Malen von Teppichen zu schicken: mit Tigern, mit einem See und Schwänen, mit einem Kasachen, der gerade einer Kasachin einen Liebesantrag machte. Nach diesen Bildern herrschte zu jener Zeit eine große Nachfrage. Außerdem fertigte sie für den Dorfrat eine Kopie des Bildes „Goldener Herbst“ an.

Ewa Pawlownas malerische Beschreibungen passen hundertprozentig zur Natur. Der Ort ist wunderschön, überall sind Hügel, mit Taiga-Vegetation bewachsen; das Dorf selbst steht auf einer Anhöhe und besteht aus etwa einem halben Hundert Häusern, die sich alle entlang der Straße hinziehen. Die Häuser sind zur Hälfte alt, vielleicht aus den 1940er Jahren, die andere Hälfte ist „neu“ – sie mag wol aus den 1960er oder 1970er Jahren stammen.

Auch die Beschreibung der Mückenschwärme stimmt mit dem überein, wie es sich in der Natur tatsächlich verhält. Ich lebe schon mein ganzes Leben lang in Sibirien, aber solche Mückenmassen habe ich nur in meiner Kindheit gesehen, jahrelang lebten wir in einem Sumpfgebiet. Zudem – wenn sich die Insekten für gewöhnlich je nach der Tages- oder Nachtzeit verteilen, so tauchen sie hier urplötzlich alle zusammen auf, stürzen sich auf einen, um den Kopf herum schwirrt eine dichte Wolke Mücken (sogar aus der Ferne ist sie als solche sichtbar), ein kleines Stück entfernt (vielleicht einen halben Meter) hört man ihr Summen und Surren und in etwas entfernteren Sphären gehen die Pferdebremsen auf ihr Ziel los, und all das geschieht gleichzeitig. Dort schmiert man sich schon nicht mehr mit Teer ein (Ewa Pawlowna schrieb davon), und Netzhüte tragen sie auch nicht – verschiedene Mückenmittel tauchten im Verkauf auf, und mit denen reibt man sich auch ein, bevor man nach draußen geht. Ich mag diese ganzen Mittel nicht, sie verätzen die Haut, und deswegen verliehen die Mücken mir eine gewisse Geschwindigkeit, während ich zwischen den Häusern unterwegs war (in den Häusern gibt es keine Kriebelmücken).


Das Haus von Katja Nebyliza, bei der Ewa Pawlowna anfangs wohnte.

Katja Nebylizas Haus wurde von verschiedenen Stellen aus fotografiert. Ich hatte wohl daran gedacht, es auch von innen aufzunehmen, aber dann tat ich es doch nicht – dort ist ja alles ganz anders, und es wohnen auch andere Leute dort; sie heißen zwar auch Nebyliz, aber es handelt sich nicht um Katjas Nachfahren, sondern irgendwelche entfernteren Verwandten. Es ist verwunderlich, daß sich an Vera, von der Ewa Pawlowna schrieb, niemand erinnern kann. In Jenisejsk wohnt Vera Nebyliza, wie Irina Moisejewa herausfand, eine entfernte Verwandte von Katja, aber es handelt sich nicht um dieselbe Vera, denn sie hat nie in Nowotroizkoje gelebt. Katja selbst ist verstorben.

 
Katja Nebylizas Haus aus der Nähe

Danach wohnte Ewa Pawlowna bei einer Frau, die sie Nadjoscha nannte, aber im Dorf hieß sie nur Nadiozha – Nadjeschda Rasja (Charitonowa). Ihr Haus existiert nicht mehr, aber ich habe die Stelle fotografiert, an der es einmal stand (neben dem Dorf-Sowjet).

 

Im Vordergrund – der Dorf-Sowjet. Rechts davon stand Nadiozhas Haus.

Mehr als die Hälfte der Dorfbevölkerung waren Zugezogene. Bis Mitte der 1950er Jahre gab es im Dorf sehr viele Verbannte, darunter auch Deutsche. Es waren vor allem Bauernfamilien, die sich auch in der Sonderansiedlung gut einlebten – sie bauten Häuser, schafften sich Vieh und Gemüsegärten an. Ende der 1950er Jahre fuhren viele in die Heimat zurück, aber eine Menge Leute  (besonders Deutsche) blieben, denn für sie gab es nichts mehr, wohin sie hätten fahren können.

Ewa Pawlowna war vor diesem Hintergrund ein Sonderling. Im Dorf nannte man sie nur „die Arbeitsscheue“ (aber sie benutzen dieses Wort nicht im kränkenden Sinne, sondern wollen damit lediglich unterstreichen, daß sie keine schwere Arbeit leistete – wie beispielsweise auf dem Feld).

An die Stelle der fortgezogenen Verbannten kamen andere, unter anderem aus den umliegenden Dörfern, aber viele reisten auch von weither an. Natürlich fuhren sie mit ihen Sachen und mit ihren eigenen Geschichten im Gepäck; aus diesem Grunde erinnern sie sich nicht nur nicht an Ewa Pawlowna (selbst jenen nicht, bei denen dies altersmäßig noch der Fall sein könnte), sondern sie haben auch Gegenstände aus jener Zeit nicht aufbewahrt (u.a. die Teppiche, die eventuell noch bei denen aufbewahrt worden wären, die aus nahegelegenen Dörfern hergekommen waren).

Insgesamt kannten zwei Personen im Dorf Ewa Pawlowna.

Die erste – Oma Warja, Nadiozhas Schwester.

 
Oma Warja

Sie ist stark schwerhörig und sehr gebrechlich (sie ist über 90 Jahre alt). Vom Aussehen her ist sie eine klassische alte Frau, wie man sie in sowjetischen Zeichentrickfilmen darstellt: klein, gebeugt wie ein Krummholz, beim Gehen auf einen Krückstock gestützt, eine Brille mit dicken Gläsern auf der Nase und fast taub. Sie war sehr wohlwollend und freundlich.

Lange brachte sie Nadiozhas Nachnamen immer wieder durcheinander – zuerst sprach sie von Rasina (aber später stellte sich heraus, daß es sich um den Mädchennamen gehandelt hatte, und daß sie auch nicht Rasina, sondern Rasja, geheißen hatte, dann von Lewanenko oder Charitonowa. Später wurde festgelegt, daß der richtige Name Charitonowa gewesen war. Sie  kann sich gut an Ewa Pawlowna erinnern und erzählt, daß bei Nadiozha eine sehr gutmütige Alte lebte (in den 1950er Jahren war die künftige Oma Warja noch nicht einmal 30 Jahre alt, und deswegen hielt sie die damals 50-jährige Ewa Pawlowna für eine alte Frau). Sie sagt, daß Nadiozha oft mit ihrem Fedja zu ihr gekommen sei, daß sie so eine Zuneigung zu ihm faßte, daß sie ihn mit sich nehmen wollte; als sie fortfuhr, lebte Nadiozha in großer Armut. Mag sein, daß dies auch nur leeres Gerede war – wer hätte ein Verbanntenkind weggegeben, zumal Ewa Pawlowna sich nur mit Müh und Not selber ernähren konnte; wenn Fedja noch da gewesen wäre, dann wäre ihr das wohl kaum gelungen. Aber jedenfalls erzählte man sich solche Dinge.

Und da erwartete mich eine Sensation: Oma Warja war noch im Besitz eines Fotos, auf dem Nadiozha und Fedja – und Ewa Pawlowna zu sehen waren! Hier ist sie:

Oma Warja um die Herausgabe des Bildes bitten wollte ich nicht, aber selbstverständlich fotografierte ich es ab.

Eigentlich gab Oma Warja keinerlei Informationen, außer, daß sie Ewa Pawlowna ständig eine gutherzige Alte nannte, die äußerst reinlich und akkurat gewesen war. Daß Ewa Pawlowna auch Wandbilder gemalt hat – daran kann sie sich nicht erinnern. Sie weiß noch, daß sie genäht hat – und zwar gut (obwohl es hier möglicherweise gar nicht um Nähereien, sondern ums Stricken ging, aber davon später). Ferner sagte sie, daß Fjodor Charitonow in Prediwinsk lebt.

Ein wenig vorweggreifend sage ich, daß, als Jelena Borisowna erfuhr, daß ich von Ewa Pawlownas eine Fotografie ausfindig gemacht hatte, sie mich darum bat, ihre diese zuzuschicken – und zwar nicht per e-mail, sondern in „Papierform“. Das Gespräch fand statt, als ich mich bereits in Jenisejsk befand (in Nowotroizkoje gibt es kein Mobilfunknetz). Nachdem ich Jelena Borisowna das Foto auf elektronischem Wege zugesandt hatte, fuhr ich einen Tag später erneut nach Nowotroizkoje, unter der Bedingung und mit der Maßgabe, daß ich „innerhalb von fünfzig Sekunden“ alles erledigte: mit dem Bus von Jenisejsk nach Kasatschinsk, mit der Fähre bis nach Momotowo, von Momotowo nach Nowotroizkoje mit dem Bus – mit demselben, der zweimal die Woche nach Nowotroizkoje und sofort wieder zurück fährt. Na ja, nicht sofort – etwa 15 Minuten fährt er bis zum Nachbardorf und zurück. Und genau in diesen 15 Minuten rannte ich zu Baba Warja, die zum Glück zuhause war, und bat sie um das Foto (übrigens scannte ich es in Krasnojarsk ein, druckte mehrere Exemplare aus und schickte Oma Warja diese Kopien).

Im Bus erwartete mich schon die nächste Überraschung – einer der Fahrgäste, eine Frau, teilte mir mit, daß die Teppiche, die ich suchte sich noch vollständig im Momotowa befinden könnten! Dorthin war eine der Einwohnerinnen von Nowotroizkoje umgezogen, welche solche Vorleger mit Sicherheit besessen hatte. „Innerhalb von 50 Sekunden – Variante 2“ – innerhalb der einen Stunde, die mir bis zur Fähre noch blieb, rannte ich im Laufschritt durch Momotowo (das Dorf ist zwar nicht sehr groß, aber dafür zienmlich verzweigt) und fand tatsächlich das Haus der Teppichbesitzerin.


Die endlosen Weiten von Momotowo

Allerdings war sie selber nach Ulan-Ude zu ihrer Tochter gefahren und würde erst im Herbst nach Hause zurückkommen – wenn überhaupt.  Das war gleich in doppelter Hinsicht ein Mißerfolg – denn ich erreichte auch die Fähre nicht mehr rechtzeitig.  Aber auch hier kam ein Zufall zur Hilfe: der Fahrer eines vorbeifahrenden „Schiguli“ brachte mich nicht nur zum Fähranleger, sondern teilte mir unterwegs auch mit, daß in Roschdestwenskoje der Sohn der Teppichbesitzerin leben würde. Allerdings, so meinte er, habe er bei ihr keinerlei Teppiche bemerkt.

Auf der Fähre betrachtete mich ein Mann eine ganze Zeit lang, schließlich fragte er: erkennst du mich nicht? Zuerst wußte ich nicht, wer er war, aber dann viel es mir wieder ein –  er war der Sohn von Lydia Andrejewna Rau, die wir im vergangenen Jahr in Momotowo befragt hatten. Wie sich herausstellte, war sie kurz darauf gestorben und hatte somit ihren 90. Geburtstag nicht mehr erleben dürfen. Schade, sie war einen  bemerkenswerte Frau gewesen, mit einem hervorragenden Gedächtnis, klarem Verstand und klangvoller Sprache.

Aber auch damit war der stürmische Tag noch nicht zuende. Sobald ich mich wieder im Empfangsbereich der  örtlichen Telefonverbindungen befand, rief Jelena Borisowna mich an, um ihre Freude mit mir zu teilen – und eine Neuigkeit: sie hatte sich die ihr zugesandte Fotografie angeschaut – darauf war ihre Mutter überhaupt nicht abgebildet!

Ehrlich gesagt, stimme ich in diesem Punkt nicht mit ihr überein. Aber wer, wenn nicht die eigene Tochter, kann schon genau sagen, ob die Mutter auf dem Bild zu sehen ist oder nicht. Aber – die Augen, die Form des Mundes – genau wie Ewa Pawlowna. Schön, die Frau auf dem Foto sieht älter aus – aber schließlich litt auch Ewa Pawlowna an Entkräftung, war stark unterernährt. Später, als sie, bereits aus Podtjosowo,  nach Hause zurückkehrte, wo es ihr ungleich besser ging, als in Momotowo und Nowotroizkoje,  sah sie auch viel wohler aus. Lassen Sie uns die beiden Fotografien vergleichen:
 

   
Podtjosowo, 1953                          Nowotroizkoje, 1951

Aber trotzdem kommt es mir so vor, als wäre dies ein- und dieselbe Person.

Außer Oma Warja kannte in Nowotroizkoje noch Margarita Alexandrowna Erich (Mädchenname Hermoni) Ewa Pawlowna.

Im Dorf nennt man sie aus irgendeinem Grund „Tante Kreida“, und deswegen dachte ich, daß sie aus den Reihen der verbannten Letten stammt. Aber sie war eine verbannte Deutsche, die seit 1941 in Nowotroizkoje wohnt; sie mag ungefähr siebzig Jahre alt sein – vielleicht auch ein wenig älter.

1950 war sie ein noch ziemlich junges Mädchen. An Ewa Pawlowna kann sie sich aus zwei Gründen noch gut erinnern: erstens befand sich das Haus, in dem sie damals wohnte, gleich neben Nadiozhas, am entfernten Ende des Dorfes; zweitens lernte sie bei ihr wunderhübsche Vorleger für den Fußboden zu stricken. Hier lohnt es sich anzumerken, daß M.A. sich ebenfalls nicht darin erinnern kann, daß Ewa Pawlowna Teppiche gemalt hat. Stattdessen weiß sie noch, daß sie aus Lumpen wunderhübsche  Vorleger für den Fußboden strickte. Viele haben sich damals mit dem Anfertigen von kleinen Teppichen durchgeschlagen, aber das waren ganz banale Stücke „mit konzentrischen Ringen“, während Ewa Pawlowna wirklich wunderschöne strickte – mit Sternen und ausgeklügelten Ornamenten.

Margarita Alexandrowna berichtete ebenfalls, daß Ewa Pawlowna keine „schmutzigen“ körperlich schweren, Arbeiten verrichten konnte, und wenn man die ganzen Vorleger nicht mitrechnet, dann bestand ihre Hauptbeschäftigung darin, sich um Fedja zu kümmern. Nadjoscha arbeitete in der Kolchose (oder Sowchose, ich weiß es nicht mehr genau); von dort schleppte sie mitunter Lebensmittel nach Hause ( wie M.A. es ausdrückte: „Ihr Busen war groß, sie versteckt die Kartoffeln darunter und trug sie fort“.). Die Sache war nicht ungefährlich: in ihrem Dorf haben vier Frauen dafür 10 Jahre Freiheitsentzug aufgebrummt bekommen, und M.A. erinnert sich bis heute mit Schaudern an das Gericht, die Frauen, die abtransportiert werden sollten und an deren Kinder, die brüllend hinterherliefen. Trotzdem hat dies auch dazu beigetragen, daß Nadjoscha, Fedja und Ewa Pawlowna überlebt haben.

M.A. sagt, daß Nadjoscha keine sonderlich gute Hausfrau war, und zwar in dem Sinne, daß im Haus keine Ordnung und Sauberkeit herrschten. Ewa Pawlowna schaffte Ordnung, während sie dort war, und in der Zeit war es auch sauber.

Gewissenhaft besuchte ich alle 50 Häuser. Die Fußboden-Vorleger aus jener Zeit waren „aufgrund ihrer Bestimmung“ nicht erhalten geblieben – ihre Lebensdauer ist nur kurz. Auch die Wandteppiche (ebensolche, die auf Wachstuch oder Leinwand gemalt wurden) – existieren nicht mehr, weder die Arbeiten von Ewa Pawlowna, noch irgendwelche anderen. Sie sind längst aus der Mode gekommen. Es heißt, daß bei Oma Katja Ilmenichi ein Teppich mit Schwänen an der Wand hing (möglicherweise eine Anfertigung von Ewa Pawlowna), aber nach Oma Katjas Tod wurde das Haus abgerissen und die Sachen , die sich im Haus befanden, einfach weggeworfen – sie stellten keinerlei Wert für die Bewohner von Nowotroizkoje dar.

Und während ich mit dem Autobus herumfuhr, durchforstete Irina Moisejewa mit Studenten des Jenisejsker College für Pädagogik die Archive des Krankenhauses und der Schiffsreparaturwerft von Podtjosowo. Und, stellen Sie sich vor,  man fand Spuren von Ewa Pawlowna, und nicht nur von ihr, sondern auch von Iwonna Bowar und anderen Verbannten: 

 

Geschichte mit Ortsnamenkunde

Diese Geschichte hängt nicht nur mit Ewa Pawlowna zusammen, wenngleich sie doch mit ihr ihren Anfang nahm. Die Sache verhielt sich nämlich so, daß in den Briefen, die sie aus der Verbannung schrieb, die Adresse für die Rückantwort vermerkt war: in Jenisejsk – Gorkijstraße 23, in Podtjosowo – einfach N° 23, ohne Straßennamen. Wir setzten uns das Ziel diese Häuser ausfindig zu machen, aber alles erwies sich als ziemlich schwierig.

Es stellte sich nämlich folgendes heraus: du suchst eine bestimmte Adresse, fotografierst das Haus; beispielsweise wohnte nach den uns vorliegenden Angaben, in der Arbeiter- und Bauern-Straße N° 138 in Jenisejsk, die verbannte Geigerin Iwonna Bowar. Jeden Tag fuhren wir auf dem Weg nach Podtjosowo an diesem Haus vorbei, und dann irgendwann hielt ich es nicht mehr länger aus, stieg ein paar Haltestellen früher aus – und fotografierte es:

Allerdings sah das Haus verblüffend frisch aus – und tatsächlich, der Hausherr bestätigte mir, daß das Gebäude 1955 erbaut worden war und das alte Haus nicht mehr existierte.

Eine Heldentat schien mir noch nicht ausreichend zu sein – ich ging durch ganz Jenisejsk, bis zum Haus N° 30 in der Fefelow-Straße, wo nach uns vorliegenden Informationen Koltschaks bürgerliche Ehefrau Anna Wasiljewna Kniper-Timirjowa während der Verbannung wohnte:

Erste Zweifel schlichen sich ein, als Irina Moisejewas Mutter, die ihr Leben lang in Jenisejsk gewohnt hat, bestätigte, daß sich in den 1950er Jahren nicht nur das Haus N° 23 an einer ganz anderen Stelle befunden hatte, sondern daß auch die Gorkij-Straße ganz woanders gewesen sei: es war jene Straße, die heute Babkin-Straße heißt. Diese Information fand übrigens später ihre Bestätigung: F.J. Babkin, der bekannte Akteur der Sowjetmacht, roter Partisan und Vorsitzender des Turuchansker Gebietsexekutiv-Komitees, brachte es bis zum Mitglied des Allrussischen Zentral-Exekutivkomitees der Räte- und Arbeiter-, Bauern- und Rotarmistendeputierten; in dieser Eigenschaft wurde er dann auch 1937 in Moskau erschossen. Noch zu seinen Lebzeiten wurde die Straße nach ihm benannt, so wie es bei den Bolschewiken üblich war; aber nach seiner Erschießung bekam die Straße selbstverständlich wieder einen anderen Namen: Gorkij-Straße. Später, im Jahre 1957 wurde Babkin rehabilitiert, und man gab der Straße seinen Namen zurück; zur Gorkij-Straße wurde damals eine ganz andere Straße, so daß das Haus N° 23 in Wirklichkeit in der Babkin-Straße steht, aber es ist nicht sicher, daß es auch diese Nummer trägt. Aber diese Wahrheit eröffnete sich erst, als wir ein anderes Haus – N° 23 in Podjosowo, eingehend erforscht hatten.

Die Straßenbezeichnung war also nicht aus Nachlässigkeit weggelassen worden: wie wir feststellten, gab es bis zu den 1950er Jahren in Podtjosowo überhaupt keine Straßen. Genauer gesagt, es gab wohl Straßen, aber sie waren nicht benannt. Vor der ersten Überwinterung von Schiffen in Podtjosowo gab es dort 17 Häuser – ohne Nummern und Straßen. Der ersten errichteten Baracke gab man die N° 1. Dieses Gebäude ist bis heute erhalten geblieben:


Das erste Haus in der Siedlung Podtjosowo

Später gab es die Häuser  N° 2, N° 3 und so weiter. Es ist bekannt, daß man 1951 Haus N° 25 erbaute. Bereits in den 1950er Jahren kamen dann die Straßen auf, benannt nach Kalinin, dem Ersten Mai, Koschew u.a., aber einige Häuser gab es nur aufgrund ihrer Nummer, jedoch ohne Straßenbezeichnung.

Auf diese Weise kann also niemand sagen, welches Haus damals die N° 23 trug; man weiß es weder bei der Siedlungsverwaltung, noch beim Jenisejsker Büro für technische Informationen. „Wenn sie also fragen, welches Haus es heute, dann können wir Ihnen sagen, welches es in den 1950er Jahren war“. Eine schlimme Vermutung kam in mir auf. „Arbeiter- und Bauern-Straße N° 138 und Fefelow-Straße N° 30“, meinte ich.

Natürlich waren das ganz andere Häuser. Das war eine unerwartete Neuigkeit. Jenisejsk hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so wenig verändert, daß man meinen könnte, die Hausnummern stammten alle noch aus dem 19. Jahrhundert. Aber in Jenisejsk werden Häuser praktisch nicht abgerissen, es ist nicht möglich, zwischen zwei Häusern noch ein drittes zu bauen – infolgedessen kann man, sofern man die alte und neue Nummer des heutigen Hauses N° 138 kennt, ausrechnen, welche Nr. das alte Gebäude trug; man muß nur die Proportionen herstellen. Also:  wir ermitteln die Hausnummer und fotografieren das Haus:


Vielleicht ist dies das Haus, in dem Iwonna Bowar lebte?

Aber nun sind wir Wissenschaftler: von diesem Haus geht’s im Laufschritt zum Büro für technische Informationen, und natürlich trug dieses Haus in den 1950er Jahren gar nicht die N° 138. Du jener Zeit begann die Arbeiter- und Bauernstraße sich rasant zu der Seite des heutigen pädagogischen Colleges hin zu vergrößern, und eine Änderung der Hausnummern wurde fast jedes Jahr einmal vorgenommen, weil vor dem Haus mit der N°.1 weitere Häuser gebaut wurden.
 
Leider ging die Expedition dann zuende, und es gab keine Zeit mehr für weitere Forschungen.  Die Aufgabe konnte nicht in einem einzigen Moment gelöst werden – aber dafür ist es eine bemerkenswerte Lehrgangs- (wenn nicht sogar Diplom-) Arbeit für einen Studenten der Jenisejsker Fachschule für Pädagogik! Olja Kruschinskaja machte sich daran dieses Bilderrätsel zu entschlüsseln und wenigstens die Numerierung der Häuser zu klären, in denen verschiedene Berühntheiten ihre Verbannungszeit verbracht hatten. Und dort werden wir zumindest eine Exkursionsroute organisieren und im Maximalfall an diesen Gebäuden Gedenktafeln anbringen.
 
Die Arbeit wird fortgesetzt …

Aleksej Babij


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