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Alexej Babij. Untrügliche Symptome des Stalinismus

Zeitschrift des Forschungsverbundes
SED-Staat Ausgabe Nr.l 7/2005

Über die langsame Rückkehr Rußlands zur Sowjetunion und die Arbeit der Bürgerrechtsorganisation „Memorial"
Alexej Babij

Die Internationale Gesellschaft „Memorial" ist eine Bewegung, die es sich zur Aufga¬be gemacht hat, die Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen zu bewahren - Repressionen, von denen die jüngere Vergangenheit unseres Landes ein trauriges Zeugnis ablegt. Im Laufe der Zeit hat sich daraus eine freundschaftliche Zusammenar¬beit Dutzender Organisationen in Rußland, Kasachstan, Lettland, Georgien sowie der Ukraine entwickelt, die sich heute nicht nur mit historischer Forschungsarbeit, sondern ebenso mit konkreten Menschenrechtsfragen und Projekten zur Aufklärung der Bevöl¬kerung beschäftigen.

„Memorial" hat öffentlich zugängliche Museumskollektionen, Dokumentensammlun¬gen und speziell auf die oben erwähnte Thematik ausgerichtete Bibliotheken geschaf¬fen. Auf Initiative von „Memorial" wurde auf dem Platz vor der Ljubjanka, der be¬rüchtigten Geheimdienstzentrale in Moskau, der Solowjezki-Gedenkstein aufgestellt, mit dem den politischen Gefangenen und Opfern der Willkür endlich ein Denkmal ge¬setzt wurde. Auch eine Vielzahl ähnlicher Gedenkstätten in den verschiedenen Lan¬desteilen der ehemaligen Sowjetunion wurden auf Initiative von „Memorial" errichtet. Und es war auch „Memorial", die den Anstoß dazu gab, daß 1991 das Gesetz über die Rehabilitation der Opfer politischer Repressionen verabschiedet wurde. Dieses Gesetz gab Hunderttausenden Menschen ihre Ehre als Bürger zurück, es legte auch den 30. Oktober als offiziellen Gedenktag für die Opfer politischer Repressionen fest. „Memo¬rial" gewährt juristischen Beistand und unterstützt bedürftige alte Menschen, die so¬wjetische Gefängnisse oder politische Lager durchlitten haben, nach Möglichkeit auch materiell. „Memorial" erforscht die Geschichte des GULag, der Allrussischen Tsche- ka, der OGPU, des NKWD, MGB und KGB, befaßt sich mit statistischen Auswertun¬gen politischer Repressionen in der UdSSR und dem Widerstand der Dissidenten in der Chruschtschow-Breschnew-Epoche. Mit Hilfe von Beobachtergruppen sammelt „Memorial" auf dem Territorium der GUS in „heißen Gebieten" Fakten und Beweise, prüft, analysiert und veröffentlicht die gewonnenen Materialien über Menschenrechts-verletzungen. Auf das Konto von „Memorial" gehen zahlreiche Bücher, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Radiosendungen und Ausstellungen. Sie sind in gleichem Maße den Tragödien der vergangenen Jahrzehnte wie den heutigen Versuchen gewidmet, die Freiheit und Menschenwürde der Staatsbürger Rußlands und der Gemeinschaft unab¬hängiger Staaten einzuengen. Am 9. Dezember vergangenen Jahres fand im schwedi¬schen Parlamentsgebäude die feierliche Verleihung des „Alternativen Nobelpreises 2004" statt. Unter den drei Preisträgern befand sich auch die Internationale Gesell¬schaft „Memorial".

Vier Gruppen der Internationalen Gesellschaft „Memorial" haben kürzlich eine ge¬meinsame Resolution verfaßt. Anlaß war die erschreckende Tatsache, daß Rußland sich in den vergangenen Jahren in vielen Dingen wieder in Richtung Sowjetsystem zu¬rückentwickelt - auch wenn dies nicht unter der roten Sowjetflagge geschieht, sondern unter der russischen Trikolore. Einer der ersten „Töne" dieser Art war das Wiederau¬flebenlassen der sowjetischen Nationalhymne, wenn auch ihr Text an einigen Stellen geändert wurde. In der letzten Zeit sind solche Symptome immer häufiger zu beobach¬ten: Es gibt wieder politische Gefangene, wenngleich ihre Anzahl gering ist. General¬staatsanwalt Ustinow ließ die Idee von Korrekturen innerhalb der Gesetzgebung ver¬lauten, die uns zu jener der dreißiger Jahre zurückführen werden - zum Großen Ter¬ror und niemand in der Regierung des Landes hat ihn zurechtgewiesen, von vielen wird er sogar unterstützt.
Hinsichtlich des Rehabilitationsgesetzes ist von den „Korrekturen" besonders der Ar¬tikel 16 (Vergünstigungen und Kompensationen) betroffen. Faktisch hat hier die föde¬rale Ebene jegliche Sorge und Verantwortung für die betroffene Kategorie von Staats¬bürgern, also für die Opfer politischer Repressionen, zurückgewiesen und sie statt des¬sen auf die regionalen Behörden übertragen. Und das war auch die Hauptabsicht, die sich hinter der Gesetzesänderung verbirgt. Es wurden in dem Gesetz jedoch noch zwei weitere, äußerst symptomatische Veränderungen vorgenommen. Erstens: Die Repres-sionsopfer haben nun keine Möglichkeit mehr, vom Staat Entschädigungen für see¬lisch-moralische Schäden zu fordern, sondern nur noch für materielle Verluste. Damit hat der Staat aufgehört, gegenüber den Menschen, die er seinerzeit unterdrückt hat, in irgendeiner Weise eine Schuld zu empfinden. Zweitens ist aus dem Gesetz der Punkt gänzlich verschwunden, der dazu verpflichtet, die Namen derer öffentlich zu nennen, die an den Repressionen maßgeblich beteiligt waren. Auf diese Weise deckt der Staat nun selber die Schuldigen der politischen Verfolgung.

Leider sind nicht nur die Machtorgane bereit, die stalinistische Ordnung zu reanimie¬ren, sondern auch eine ganz erhebliche Anzahl rassischer Bürger. Als beispielsweise kürzlich in Krasnojarsk die Errichtung eines Stalin-Denkmals erörtert wurde (was noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre) und man dazu eigens eine Umfra¬ge unter den Fernsehzuschauern durchführte, da hielten sich die Stimmen für und ge¬gen ein solches Denkmal fast genau die Waage. Das ist ein alarmierendes Zeichen. Vor diesem Hintergrund bedeutet der Auftritt von Boris Gryslow, dem Präsidenten der Staatsduma (vgl. die anschließend wiedergegebene Resolution), daß die Staatsmacht den Weg einer klaren Rückkehr zum Stalinismus eingeschlagen hat. Es war Zufall, daß sich die Vorsitzenden einiger regionaler „Memorial"-Organisationen ausgerechnet an dem Tag in Moskau aufhielten, als Gryslow im Äther zu vernehmen war. Als sie die Sendung gemeinsam anhörten, verstand es sich von selbst, unverzüglich zu reagie¬ren. So beschlossen sie, eine Resolution zu verfassen. Dabei war natürlich klar, daß sie mit der Position der Internationalen Gesellschaft „Memorial" identisch ist. Mit der Verbreitung dieser Resolution in der Öffentlichkeit sieht es nicht sehr gut aus. Natürlich wurde sie auf den verschiedenen Webseiten von „Memorial" veröffentlicht. Die rassische Presse allerdings veröffentlicht solche Texte für gewöhnlich nicht. Und das nicht so sehr deshalb, weil sie Druck von Seiten der Machtorgane befürchtet, son¬dern weil man der Meinung ist, daß sie den Leser gar nicht interessieren. So ist an eine weite Verbreitung dieser Erklärung in Rußland leider nicht zu denken.

Übertragen ins Deutsche von Sibyll Saya

1. Vorsitzender von „Memorial" Rrasnojarsk, deutsche Übersetzung: Sibyll Saya, Mitglied von „Me¬morial" Rrasnojarsk.
2 Benannt nach den Solowjezki-Inseln im Weißen Meer, auf denen 1923 das erste sowjetische Lager errichtet wurde.
3 Neben „Memorial" erhielten die Auszeichnung die Menschenrechtsaktivistin Bianca Jagger und der argentinische Biologe und Umweltschützer Raul Montenegro.


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