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Flegont Jewlampijewitsch Agapytschew. Erinnerungen

[...] Gelernt habe ich im Selbstunterricht. In der Schule war ich in meiner Kindheit nicht. Mein Schuljahr ist in das Jahr 1917 gefallen, und geboren wurde ich 1908. Ich war für die Schule eingetragen, bin bis November dorthin gegangen, und im November hat die Lehrerin verkündet, daß das "Göttliche Gesetz" abgeschafft worden sei. Als ich nach Hause kam, erzählte ich davon. Darauf hat man Vater gefragt: "Was wollen sie euch denn jetzt beibringen - hüpfen und tanzen?" Und morgens hat er beschlossen, mich nicht zu wecken und nicht zur Schule zu schicken. Dabei gab es zu all dem noch viel anderes Drumherum: er hatte nichts zum Anziehen; der Vater war Analphabet - anstatt zu unterschreiben, hat er ein Kreuz gemacht; er war Invalide 2. Grades - durch viel Kälte Rheuma in allen Gelenken; er ist ganz verkrümmt, seine Finger und Zehen; an den Knien und Ellbogen ist alles verknorpelt. Der Fuß ist wie eine Pfote verkrümmt, so daß er weder in einen Stiefel noch in einen Filzstiefel hinein-kommt. Das beste Schuhwerk sind weite Bastschuhe. Da werden Fußlappen drumgewickelt, alles was man kriegen kann, im Sommer weniger dick, im Winter mehr, die dann mit Schnüren zusammengebunden werden. Er kann sich nicht bewegen. Er ist ganz krumm, und er hat 11 Kinder, die ihm sein Mütterchen geboren hat. Ich war das 9. Kind. Zu meinen Lebzeiten sind drei gestorben, an Hunger, Kälte, Dürre und durch die Revolution, durch Verfall, Malaria, Epidemien, Skorbut. Auch das Vieh kam vor Hunger um. Im Dorf gab es keinen Arzt oder Tierarzt. Zur Dorfversammlung kamen anstatt 40 nur 5-6 Männer zusam-men, um ihre Unzufriedenheit zu äußern, und alle sind sie hilflos. Es gab nicht mal welche, die ein Grab ausheben konnten. Es gibt nirgends Brot, keine Kartoffeln für die nächste Saat. Kein Salz - man ist mit den Pferden 40 Werst weit gefahren, wo eine Salzquelle war; wenn es einem gelang, wohlbehalten zurückzukommen, so brachten sie vielleicht ein halbes Faß mit. Die Pferde waren nur noch Haut und Knochen. Man hat jedem eine Schöpfkelle voll Salz-wasser zugeteilt, auch etwas für sich selbst gelassen, aber man hatte ja gar nichts zum Salzen. Sehr bald wurde eine Lebensmittelabgabe erhoben, eine Getreideablieferungspflicht. Bezahlen konnte niemand; es kamen Aktivisten aus der Fabrik in Nishnij Nowgorod, sie betrieben politische Aufklärung; bezahlt werden mußte. Die Produktion in der Fabrik darf nicht stillstehen - und wir lassen sie nicht stillstehen; wir haben zwar selber keine Kraft zum Überleben, aber irgendwo hinter dem Wolgafluß, so hörte man, soll es Brot geben. Die Männer haben vor, dorthin zu fahren. Von der neuen Kerenskij-Währung konnte man kein Brot kaufen, und die alte Zaren-Währung haben sie nicht angenommen. Jeder machte sich Gedanken darüber, was man zum Tausch an Kleidern finden konnte - Mützen oder irgend-welche Lumpen. Bis 1922 haben wir irgendwie überlebt; Budjonny, Klim Woroschilow haben dann die Macht wiederhergestellt. Zum Säen gab es nichts. Jeder überlebte wie er konnte. Vater und Mutter überlebten auch und haben uns 6 Kinder durchgebracht. Die ältesten wuchsen heran. Was soll man machen? Bastschuhe flechten mußte auch gelernt sein. Unser Urgroßvater hat seinen beiden Söhnen das Schmiedehandwerk beigebracht. Sie haben Nägel für Lastkähne geschmiedet, Bolzen, Metallklammern an die Wolga gebracht, was heute Gorkij ist. Dort hat man diese Lastkähne gebaut. Seit 1900 hat man von der Wolga Metall und Eisen gebracht und auf dem Rückweg Nägel. Ich kann mich daran schon nicht mehr erinnern, aber die Schmiede hat mich noch vor der Schulzeit angezogen. Kaum bin ich wach, mache ich mich fertig für die Schmiede,und meine Mutter sagt wieder: "Gehst da hin und sammelst den ganzen Ruß und Dreck". 1926 habe ich angefangen selbständig zu arbeiten, aber welche Hindernisse mußte ich alle überwinden. Bis 1937 habe ich gearbeitet. Wurde verhaftet, ohne Gerichtsverhandlung und Verhör. Nach dem Gefängnis in Gorkij, nach vier Monaten, kam ich auf Etappe. Am 1. Januar 1938 hat man uns in Güterwaggons verladen. Es gab einen Ofen, aber kein Holz. Wir kamen am 20. Februar im Gebiet D.W., an der Station Magdagatscha, an. Alle waren erkältet, hatten Geschwüre und offene Hautwunden. Wir sind ins Bad getrieben worden, aber genauer gesagt, stand da bis zu den Knien eiskaltes Wasser. Wir wollen nicht gehen. Sie treiben uns vorwärts. Die Kübel, wo man das Wasser hineingoß, warfen wir um, um uns vor diesem eiskalten Wasser zu retten - sonst wären wir umgekommen. Zur gleichen Zeit hat man verkündet "Achtung" - und dann die Listen verlesen, wer wen verurteilt hat. Ich bin im Alphabet bei "A", Agapytschew Flegont Jewlampijewitsch, geboren 1908, verurteilt von der Trojka des NKWD in Gorkij zu 10 Jahren, vom 1. Oktober 1937 bis 1947, nach §58.

"Das ist nur eine vorübergehende Strafe", sagt man uns, "die für Volksfeinde, Schädlinge, Diversanten, solche, die die Staatsmacht untergraben, verhängt wird. Man hätte euch alle erschießen sollen, aber wir gewähren euch Gnade, in der Hoffnung, euch doch noch bessern zu können". Einer aus unserem Waggon sagte darauf: "Unterwegs sind schon 11 Leute umge-kommen". "Ruhe!" Und die Waffen werfen sie auf uns, packen mal den einen, mal den anderen. Wir wehren uns,und sie packen uns. Ein Schrei: "Willkür!" Und alle sind splitter-nackt, sie frieren so sehr, daß die Zähne klappern. Ein Schuß.

Unsere ganze Wäsche wurde verbrannt. Die Läuse sind groß und weiß. Man hat die Kleidung mit großen Heugabeln hochgehoben und zum Feuer gebracht. Aus dem Fenster gaben sie uns neue Kleidung. Die Sachen aus der Glut waren verbrannt; sie hatten nach Läusen und altem Zeug gerochen. Gut, daß sie warm waren. Darüber haben wir uns gefreut wie an der Mutter-brust.

Nahe der Stadt Ruchlow, an der Eisenbahnstation Skoworodino, haben wir mit Spitzhacken und Brecheisen gemeißelt. Es wurde eine Wärmetrasse gebaut und Wasserleitungen, und der Bau eines Kraftwerkes vollendet. Nach der Fertigstellung hat man uns weitergetrieben zur Station Bam an der Baikal-Amur-Magistrale. Mitten im Sumpf bauten wir ein Ziegelwerk. Wir haben Gräben trockengelegt, Wände errichtet mit 20 Millionen Backsteinen pro Jahr, haben Dampflokomotiven hingestellt, je 120 Kilowatt, das sind Kraftwerke, 4 Schuppen für die Trocknung im Sommer, für jeweils 400 Tausend Steine. In den Schuppen waren Brenn-öfen mit einer Kapazität von 400 Tausend und eine Presse. Ein Fließband für die Steine lief Tag und Nacht, im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Man hat ein Gebäude errichtet mit 100 Kammern, 1 Trocknungsanlage für 500 Tausend je Kammer für den Winter und schlechtes Wetter, mit einer Drahtseilbahn; und 200 Handloren wurden in die Kammern gebracht. Dieses Werk wurde den freien Arbeitern gerade vor dem Krieg übergeben. Wir wurden zum ZRW, zum Zement-Reparaturwerk, Verwaltung für Zwangsarbeit, getrieben .

Die ganze Technik wurde hier repariert. Nachts wurden Leute nach Kotlas gejagt, zu eiligen Terminarbeiten, wir als Spezialisten wurden im Werk behalten. Bald wurde die ganze Fabrik umgebaut und für die Militärproduktion erweitert. 3 Tonnen pro Schicht lieferten wir. 3 Tonnen pro Stunde. Geschmolzen wurde rund um die Uhr in zwei Öfen, zwei blieben zum Abkühlen und zum Reparieren unbenutzt. Man schaffte 2000 pro Schicht. d.h. in zwei Schichten Minen vom Typ EM 120. Der ganze Prozeß lief durch meine Hände. Man stellte mich in der Gießerei ein, als Vorarbeiter und Überwacher des Produktionsablaufes. Ich habe für das Gießen von Metall gesorgt; die Gußteile wurden mit Loren abtransportiert. Per Hand hat man sie in die Wärmehalle geschoben. Aus der Wärmehalle in die mechanische Abteilung zur Bearbeitung, usw. Sieben Pferdegespanne haben das Metall herantransportiert und den Müll aus den Schächten weggebracht. Tag und Nacht war ich in beiden Schichten im Einsatz. Unsere Schicht dauerte laut Plan für Häftlinge 10 Stunden, aber die Werkshallen wurden nicht mal für eine Minute leer. Man hat die Gießpfannen von einer Hand in die andere übergeben. Ich mußte, um keinen zu stören, eine Fläche von 1000 qm reinigen und die Schlacke aus den Kurolöfen abfahren. Die Pferde keuchen, gehen nicht in die Werkshallen, fallen um. Man bringt sie auf Schubkarren fort und lädt sie hinter dem Tor auf Lieferwagen. Alles raucht, brennt, wir kriegen keine Luft, sind in Schweiß gebadet. Man hat von irgendwoher Wasserrohre in die Gießerei und die Wärmehalle verlegt. Sodawasser kommt, eiskalt, brennend, ohne Sirup. Die Leute sind zu allem fähig. Es gab keine freien Tage, keine Erholung. Den ganzen Krieg über haben wir unermüdlich gearbeitet. Zu Anfang des Krieges haben die Wachen uns schon mal "Faschisten" beschimpft. Wir haben uns beschwert. Mit der Zeit begann dann aber der Leiter des Werkes, ein freier Arbeiter namens M. Lar. Kutusow, uns höflich gegenüberzutreten. Das Vaterland war in Gefahr. Wir sind alle dafür verantwortlich. Das haben wir auch selber verstanden. Unsere Brüder, Schwestern - alle

an der Front. Viele sind nach dem Kriminellen-Paragraphen an die Front gekommen, aber die nach §58 Verurteilten durften nicht, obwohl viele darum gebeten hatten.

Der Krieg wurde bekanntlich für einen unglaublichen Preis gewonnen. Es gab keine Verwandten in Freiheit. Noch in den vierziger Jahren sind Vater, Mutter, meine älteste Schwester Matrena, 1901 geboren, ihr Mann, 1902 geboren, im Gefängnis von Gorkij an Typhus gestorben - sowie auch Arsentij Jewlampiewitsch Smirnow und seine beiden Kinder. Aber während des Krieges hat man darüber nicht geredet. Die Verwandtschaft war mehr so von der Seite meines Vaters: 3 Brüder, 4 Schwestern. Sie hatten alle so 6-7 Angehörige. Die Mutter hatte 7 Schwestern. Die hatten auch alle Familie. Verwandte 2. Grades, Schwager, Schwägerin. Bis zu 40 Leute waren an der Front, im Troß und in Schützengräben. Der Tod hat keinen verschont, außer die Neffen und 4 meiner Kinder; aus der Verwandtschaft ist sonst niemand am Leben geblieben.

Mich wundert, wer sich da bemüht hat, mir die Familie wegzunehmen; es sind 2 Töchter und meine Frau übriggeblieben, die haben länger gelebt, und die Verleumder sind umgekommen als Deputierte und auch an der Front. Niemanden konnte man für eine Gegenüberstellung heranziehen. Wann und wo habe ich gesagt, daß meine Kameraden S.M.Kirow ermordet haben? Bei wem habe ich Agitation betrieben, damit die Kolchose aufgelöst wird, usw.? Außer einem, der der Hauptanstifter war. Der müßte jetzt für das, was er gemacht hat, zu spüren bekommen, „was ein Pfund Rosinen kostet“. Und ich hätte es besser nur als Denkmal gespürt. In der Zeitung „Krasnojarskij Rabotschij“ und in der „Iswestija“ stand geschrieben: „Wir wollen an die Lebenden denken“. Von ihm müßte man jetzt das Geld für all die Jahre anfordern und an den Fond für Repressionsopfer überweisen. So müßte es beschlossen werden. Deputierte wollen alle mit Gewalt werden, mit dem Ziel sich zu bereichern, an die Macht zu kommen und bei Gelegenheit alle ihm Unbequemen zu beseitigen.

Betrachten wir einmal die heutigen Wahlen. Wieviel Lärm, Kampf wird da verschwendet.

Anfang Herbst haben sie einem Wahlfond angekündigt: freiwillig konnte man einzahlen, um aus den Besten auszuwählen. Und wofür ist das? Um ausgewählt zu werden; man kann einen x-beliebigen mitten in der Nacht als Abgeordneten nehmen, der von einem Kreisstaatsanwalt bevollmächtigt ist, heimlich mit einem operativen Bevollmächtigten eine Untersuchung durchzuführen. So habe ich das zweimal selbst erlebt. Das erste Mal 1937, und dann noch einmal 1949. Am 6. August hat man mich in den Kreis Bolschaja Murta, in die Krasnogorsker Kolchose, gebracht. Heute gehe ich nicht wählen. Der Abgeordnete hat sich noch zu Stalins Zeiten bloßgestellt. Er wurde kein Volksdeputierter, sondern ein Gönner derer, die das Volk zugrunde gehen ließen. Ich denke die werden es fertigbringen, auch heute mit diesem Ziel zur Wahl zu gelangen.

Entschuldigen Sie mich für diese Direktheit, aber anders kann ich nicht. Das ist die Mutter aller Wahrheit. Mir bleibt nicht mehr lange zu leben; das werde ich auch ohne Abgeordneten schaffen, ohne eine bessere Macht; sonst verlierst du auch noch das allerletzte Stück Brot. So eine schlechte Stimmung kommt nicht vom süßen Leben.

Verzeihen Sie mir!


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