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Viktor Astafjew. Aufzeichnungen aus verschiedenen Jahren

DER STURM

(Aus dem Roman „Der Diebstahl“)

Im Jahre 1939 brach auf dem Jenissej ein Sturm los und zwar derart, daß die Schiffskarawane, die nach Dudinka unterwegs war, auf den Nebenfluß Igarka ausweichen mußte.

Dieser Nebenarm endet an einem Kap auf der Insel Poljarnij (Samojedskij), und an der Stadtseite befindet sich ein Vorgebirge mit dem Namen „Budelennij“, den ihm die Zwangsumsiedler gegeben haben. Auf diesem Kap, etwas weiter entfernt von der Stadt, aber näher zum Wasser und Sand hin, standen auf den Steinen riesengroße Tanks mit Kraftstoff – und das hieß allgemein die Erdölstation.

Bei Sturm schwammen, getrieben von den Wellen, dem tosenden Wasser, Fische in die hinter dem Kap gelegenen gewundenen Fjorde, und dann sammelten sich dort die kleinen Kinder mit Angeln und fischten herrliche Renken heraus.

Und so sind wir beim Kinderfischfang, und der Schleppdampfer, der dichte Rauchwolken aus dem Schornstein bläst, strengt sich an, den Schiffskonvoi an einen windstillen Ort zu schleppen. In dieser Karawane fahren so ungefähr zwanzig schwimmende Einheiten: Leichter, Lastkähne, Schlepper. Sie sind alle miteinander verbunden, fahren im Geleit, in einer Reihe. Damals hat man solche Geleitzüge aus Schiffen noch nicht gebaut. Sie wurden von sachkundige Schiffsleuten geführt, aber diesen Riesenkoloß in so einen engen Flußne-benarm zu geleiten, war sehr schwierig.

Zuerst wurde der hintere Teil des Lastkahns auf das Kap hinaufgeworfen, Ladung brach in Stücke, und dann der alte, bauchige Schlepper; er wird auf die Seite geworfen, von Wassermassen und Sturm gerüttelt. Auf dem Lastkahn laufen Schützen hin und her und schießen in die Luft. Ihnen antwortet im Baßton beunruhigt und unaufhörlich der Schleppdampfer. Kleine Dampfer, die an der Stelle angelegt haben, alle möglichen kleinen und kühnen Frachter werfen Taue zum Festmachen und versuchen den Lastkahn von den Steinen wegzuziehen. Aber wie denn? Das ist doch eine Naturkatastrophe!

Ein Krachen und Bersten! Zuerst begann der Lastkahn auseinander zu brechen, wie ein trockener, zersplitternder Holzbalken, mit Dübeln, mit Haken – in den Rumpf drang rasend schnell Wasser ein und spülte von dort Fässer, Bretter und Menschen hinaus. Schreie, Panik. Von diesem Kahn springen die Schützen mit ihren Gewehren in die Wellen, der Kapitän lädt seine Kinder, seine Frau und seine Habseligkeiten auf ein Boot; die versinkenden Menschen klammerten sich an das Boot und brachten es zum Kentern.

Wagemutige Burschen aus einer Stadt im Norden halfen den Ertrinkenden und zogen sie aus dem Wasser, womit sie gerade konnten: irgendwo hatten sie ein kleines Floß ausfindig gemacht, irgendwelche Balken, Kreuzhölzer von alten Barken, Bretter, alte Schaluppen – alles konnten sie zum Helfen gebrauchen.

Und aus dem Lastkahn, der in der Mitte auseinandergebrochen war, wurden, wie aus einem Faß ohne Boden, kahlgeschorene Männer herausgeschwemmt, und unter ihnen, am Fallreep, auf den hölzernen Pritschen, schwamm eine Frau, die ihren Säugling an die Brust drückte und am lautesten von allen schrie – bis zum Himmel ...

Jungs aus dem Kinderheim, aus den Umsiedlerbaracken und dem Kommandantur-Häuschen, sie alle, die sie keine Angst vor dem kalten Wasser hatten, beteiligten sich zusammen an der Rettung der Menschen, ohne sich selbst zu schonen. Und vom Kap, von der Erdölstation, kam eine Frau in Uniform herangeeilt. Im Laufen zog sie aus der Revolvertasche eine Nagan-Pistole, hinter ihr zwei Männer mit umgehängten Gewehren, den Hahn bereits gespannt, die mit den Händen Zeichen gaben und schrien: „Zurück! Zurück! Hierher dürft Ihr nicht! Hier ist die Erdölstation!“

Wir Kinder und Erwachsene, Retter und Gerettete verstehen, daß wir nicht dorthin dürfen – dort ist die Erdölstation. Aber wohin sollen wir denn zurück? Dort reichen die Wellen bis zum Himmel, die Schiffskarawane geht unter, der Dampfer brüllt schon mit allerletzter Kraft, und die Leute ertrinken. Denen ist nicht mehr nach Gemeinheiten zumute. Sie würden doch nicht die Erdölstation anzünden. Ihre Streichhölzer, falls überhaupt jemand welche hat, sind naß geworden. Womit sollen sie denn etwas anzünden? Sie sind wahnsinnig vor Angst, hilflos, naß und mitleiderregend; wenn auch einer aus dem Wasser herausgezogen wird, dann kriecht er auf allen Vieren, winselt, zittert, klappert mit den Zähnen – es ist schrecklich und erbärm-lich das alles mit anzusehen.

Und jene aufmerksamen Wachen sind erschrocken und durch Agitationen in Bezug auf die Volksfeinde ganz durcheinander; eben diese Volksfeinde werden hierher gebracht, um die Stadt Norilsk aufzubauen – es ist ja schon zur Gewohnheit geworden und allen bekannt, daß sie alle kahlgeschoren sind, runzelig, bleich und überhaupt nicht den Feinden ähneln, die alles in die Luft gejagt haben. Und trotzdem ist das ein hinterlistiges Volk, das wohl nur so erbärm-lich tut, als ob es nichts sprengen oder anzünden wollte. Was will man schon von denen ver-langen? Sie sind eben verzweifelt, gehen einfach drauflos und stellen irgendetwas an ...

Die Wachen schossen, sie schossen in die Luft, brüllten und brüllten, warnten und warnten, gerieten in Wut und fingen an, auf die zu schießen, die ans Ufer gelangt und in panischer Angst auf die Steine geklettert waren – wie ich mich jetzt erinnere, hatte ich mich umgedreht und auf der gelblichen Sandbank einen gähnenden Mann gesehen, der von den Wellen ange-spült worden war, und mit jedem Wellenschlag kam aus ihm eine rote Wolke heraus – wie Rauch ...

Die Jungs fingen, zusammen mit den Heimkindern, von denen zwei oder drei wie übliche ihre Anfälle bekamen, an zu schreien. Unter uns gab es einen Burschen auf Krücken. Er ging als erster auf diese Gruppe von Menschen los, prügelte mit einer Krücke auf eine Frau ein, und wir bewarfen zwei Dummköpfe mit Steinen und Stöcken; das sah aus wie in einem bolschewistischen Film – mit der Brust voran gegen die Ungeheuer, die auf uns mit den verräucherten, weißen Mündungen ihrer Gewehre losstießen und dabei schrien: „Wir werden schießen! Wir werden schießen! Lümmel!“ Aber sie hatten Angst und schossen nicht auf uns. Wir jagten sie hinter die Tanks, und der Junge mit den Krücken drängte die Frau, die mit der Nagan-Pistole bewaffnet war, bis an das Häuschen zurück, und dort hat sie sich eingeriegelt ...

Wir haben viele der unglücklichen Menschen damals durch unseren Einsatz gerettet. Als ob wir damals schon gewußt hätten, daß wir bald unsere Heimat verteidigen und unser unglück-liches Volk retten mußten. Da haben wir eine gute Schule durchgemacht.

Wieviele Male habe ich diese Szene in meine früheren Geschichten eingefügt. Aber immer wieder nehmen sie es heraus. Noch lange vor der eigentlichen Zensur wird es herausge-strichen. Vielleicht wird es wenigstens in heutiger Zeit gedruckt? Sonst werden die Unseren immer wieder geschlagen und geschlagen; wir haben, wie Sie sehen, aber auch geschlagen; wir konnten damals schon als Kinder unseren Mann stehen ... 

ÜBER DEN GENOSSEN STALIN

(Aus der Erzählung „Der sehende Stock“)

... Einmal, lachend wie immer, sagte Alexander Nikolajewitsch mir, ohne mich zu beleidigen und in freundschaftlicher Weise, daß die von mir in der neuen Erzählung ausgesprochene Theorie oder der Glaube daran, daß das Böse und die Bösen immer gestraft werden, eine sehr schöne Theorie ist - wenn auch nicht immer die Lebendigen ihre Strafe gefunden haben, so zumindest doch die toten Bösen.

„Ach, Vik Petrowitsch, Vik Petrowitsch“, sagte er traurig, „wenn das nur so wäre“.

„Ist es denn etwa nicht so? Und Stalin? Der war schon ein Gott, aber Nikita – der Dummkopf hat ihn an den Füßen gepackt und auf den Müllhaufen geworfen. Aber das ist eine Einzelheit. Er ist gar kein Gott. Sein Tod hat bestätigt, daß er genauso ist wie jeder andere auch, ein Mensch – und als Toter „stinkt“ er eben“ ...

Ich denke, daß die ganze Menschheit, wenn sie sich nicht besinnt und weiter so lebt wie früher, ihre Strafe bekommen wird für ihr böses Verhalten zueinander, zur Natur und zur Moral, und letztendlich wird sie davon umkommen, was sie selber verursacht hat, von der ganzen unvernünftigen Boshaftigkeit.

„Haben Sie sich das im Wald ausgedacht oder zuhause?“

„Im Wald. Von unseren, und nicht von amerikanischen, Waldarbeitern gefällt und liegengelassen. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen von einem tschussowsker Diakon erzählen. Oder lieber von Stalin?“

„Von dem Diakon, von Stalin. Das hab ich von Ihnen noch nicht gehört! Na dann mal los! Erzählen Sie mir dieses Märchen.“

Alexander Nikolajewitsch schwieg, legte irgendein Büchlein auf seinem Tisch von einer Stelle an eine andere und sagte nicht zu mir, sondern so, als wenn er zu sich selber sprach: „Ich hätte nicht gedacht, daß die Natur soviele Gedanken und Widersprüche hervorbringt“.

Er hob seinen Kopf und lächelte ganz traurig: „Es muß ja sehr schwer fallen, Vik Petrowitsch, mit Ihrer Einstellung zur Moral zu leben, mit dem, was sie gesehen haben und was sie wissen“.

„Die Literatur hat Kolja alles Tröstliche ersetzt – Glaube und Kirche; demzufolge muß sie auch trösten und nicht den Menschen böse machen. Es ist leicht, jemanden böse zu machen, zu ärgern oder auf seine Wunden Salz zu streuen, weil es auch von Jahr zu Jahr mehr Wunden gibt, aber helfen ..."

„Sie Seelentröster! Sie Schimpfwort-Benutzer, Bastschuh-Träger aus einem heruntergekom-menen Dorf – und Sie wollen auch mitreden. Na, nun suchen Sie mal nicht das Beil unter der Bank. Kommen Sie lieber mit; wir trinken einen Tee, und vielleicht wird Ihnen ja dazu auch etwas zum Essen gereicht. Vielleicht kriege ich ja auch was ab. Was meinen Sie?“

„Sie kriegen einen an den Hals, dafür, daß Sie heimlich rauchen!“

„Doch nicht gleich an den Hals! Ich teile ja auch selber Schläge aus, schließlich bin ich ein Kritiker!“

Dem Krieg begegnete ich in dem berühmten Ort Kurejka am Jenissej. In demselben Kurejka, in dem Stalin seine Verbannung verbrachte, da, wo zu meiner Zeit das kleine Häuschen mit einem großen Glashaus umbaut wurde, in dem immer eine konstante Temperatur herrschte, wo in der Nähe keine Explosionen und Schießübungen durchgeführt wurden, wo man sogar nicht laut furzen durfte – um Gottes willen! Damit dieses legendäre Häuschen bloß nicht wackelt, nicht feucht wird und nicht zerfällt. Jeder Dampfer, ob für Passagiere oder Güter-transporte, mußte am Kurejsker Ufer anlegen, sonst gab es eine Bestrafung, und noch am Wasser haben die Menschen ihre Schirmmützen abgenommen und durften erst dann zu dem Häuschen hinaufgehen; ohne zu atmen sind sie hineingegangen und haben es besichtigt.

In dem Häuschen stand eine Pritsche, auf der eine graue Soldatendecke lag, grobe Küchenutensilien, ein schlecht gebauter Ofen, eine Vitrine mit Büchern, Fotos und Dokumenten; an den Wänden hingen Köder, mit denen Herr Stalin angeblich Fische geangelt haben soll, darunter auch Angeln, die erst im letzten Jahr hergestellt wurden, und noch ein paar andere unechte Gegenstände, ohne die kein einziges Museum, besonders kein Revolutionsmuseum, auskommen konnte.

Die Verbannung nach Kurejka, und noch dazu die eines Südländers, wenn auch eines sehr großheldenhaften, war in der Tat kein Zuckerschlecken, um so mehr als der kleinen Gruppe von Ortsbewohner gesagt wurde, daß zu ihnen ein schrecklicher Dieb, ein Strafgefangener, mit der Bezeichnung „der Schwarze“, in die Verbannung kommen würde. Er hatte auch tatsächlich einen schwarzen Stoppelbart, obwohl auf dem Kopf rötliches Haar wuchs, und wenn er auf der Straße ging, dann riegelten sich die halbwilden Leute mit allen verfügbaren Schlössern ein.

Einmal hörte er in einem kleinen Häuschen einen heiseren Kinderschrei. Er hob die Tür aus den Angeln, trat ins Haus ein und sah auf einer blanken Pritsche ein sterbendes Mädchen liegen. Der Vater des Mädchens schlief friedlich auf der nackten Ofenbank. Die Mutter war dabei, irgendetwas auf der Herdstelle zu kochen und drehte sich bei den Schreien noch nicht einmal um. Die Kinder, die noch im Haus waren, verkrochen sich vor diesem schwarzen, entsetzlichen Menschen unter die Pritschen und Bänke.

Der Schwarze schob die Frau, die vor Angst wie gelähmt war, beiseite, blickte in den Ofen und sah dort einen gußeisernen Topf mit kochendem Wasser; er wusch sich die Hände, kochte einen Löffel in dem Wasser ab und öffnete mit dem Stiel den Mund des kranken Mädchens.

Dann befahl er der Frau, ihm mit einer Kerze aus Fischöl zu leuchten, untersuchte das Mädchen und schob ihr den Löffel in den Hals. Es schrie auf, und aus seinem Mund floß Eiter. Er suchte im Haus nach Medikamenten, fand aber keine. Da rieb er dem Mädchen den Rachen mit Fischtran ein, verband den Hals mit einem sauberen Lappen und ging fort.

Am nächsten Tag, das heißt in der Dunkelheit der Polarnacht, besuchte er das Mädchen. Sie spielte schon mit den Kindern, lächelte den Schwarzen an, und die anderen Kinder versteckten sich auch nicht mehr vor ihm.

Das war bis jetzt die erste und einzige Familie und das erste und einzige Haus gewesen, in das Stalin hineingelassen wurde und wo der Vater, der Herr des Hauses Sidorow, den Verbannten so zu verehren begann, daß er ihm beibrachte, wie man die Angelgeräte unter das Eis gleiten ließ, um Aalquappen, und er schenkte ihm sogar seinen alten Eispickel. Obwohl er ein genialer Führer war, war Herr Stalin nicht in der Lage, die Reuse selbst ins Wasser hinabzu-lassen; wenn er das auch nur versucht hätte, wäre er sofort auf den Grund des Flusses gesunken, und dort hätte ihn die Fische gefressen und ausgesaugt, besonders den Aalquappen würde das Kadaverfressen gefallen – un d schon hätten wir den besten Führer, Vater und Lehrer der Welt verloren.

Es gab, wenn auch nicht für lange Zeit, noch einen Verbannten in Kurejka, den Genossen Swerdlow; er wohnte nur zwei Häuser von Stalin entfernt. Aber sie haben miteinander weder gesprochen, noch sich gegenseitg besucht, geschweige denn gegrüßt. Unsere revolutionäre Geschichte verschweigt diese Tatsache und sucht auch nicht nach den Gründen.

Genosse Stalin spielte aus Langeweile mit dem Wachtmeister der Landpolizei Karten, der nur selten die in seiner Obhut befindlichen Verbannten besuchte. Er kam aus Turuchansk, und die Söhne des Sozialrealismus stellten ihn immer mit einem bösen, brennenden Blick dar, der, während eines schrecklichen Schneesturms aus dem Fenster geschaut hatte, hinter dem der Genosse Stalin beim Schein einer kleinen Öllampe konzentriert etwas geschrieben hatte. Es war gewiß etwas ganz Geniales, ganz „Geheimnisvolles“ und Revolutionäres.

Daß er im buchstäblichen Sinne des Wortes vor Hunger fast gestorben war, weil in Kureijka kein Getreide wuchs und man es auch nicht kaufen konnte. Zu jener Zeit wuchsen dort nur wässrige Kartoffeln, manchmal Hafer und Karotten, und der zukünftige Führer, wie auch die anderen Bewohner von Kurejka, aßen Aalquappen und erhielten sich ihre Sehkraft mit Lebertran – damit haben sich irgendwie die Historiographen, die Künstler mit Wort und Pinsel, die sich scharenweise um dieses „gewinnbringende“ Thema gedreht haben, nicht beschäftigt. Die „Künstler“ und „Denker“ waren alle irgendwelche Halunken, begeistert-frech, wahre Übeltäter, die sich auf dem Feld der Kultur amüsierten.

Diese Halunken haben versucht, auch Barija Sidorowa auf eine Exkursion zu „historischen Plätzen“ mitzuschleifen, die damals von dem Führer gerettet worden war. Sie, die vom Führer gerettet worden war: kaum hatte sie angefangen zu sprechen, war sie in Tränen aufgelöst immer wieder nur das Gleiche: „Er hat mir das Leben gerettet! Er hat mir das Leben gerettet!... Genosse Stalin ... Jossif Wissarjonowitsch ... mein Leben ...“

Weggelaufen ist Genosse Stalin aus Kurejka Mitte April, und das wurde seiner Genialität und seinem Erfindungsreichtum zugeschrieben. Aber Mitte April gibt es hier soviel Sturm und Schnee, daß die Hunde im Haus sich unter die Bänke verkriechen, und bis zum nächsten Ort, Goroschiki, sind es 20 Werst, und Wege gibt es nicht.

Es muß wohl so gewesen sein, daß der Genosse Stalin - in seiner Jugend tatsächlich ein Mann mit einem sehr starken Charakter und großem Organisationstalent - mit eben jenem Wacht-meister der Landpolizei so lange gespielt und geredet hat, bis der Kern der Sache geklärt war; und dieser Wachtmeister, es gab ja keinen anderen, organisierte Stalins Flucht aus Kurejka, womit er dem Ort den Ruhm des ganzen Vaterlandes einbrachte, wenn auch nicht für lange.

Heute gibt es dieses Häuschen des Genossin Stalin in Kurejka nicht mehr; man hat es bis auf die Grundmauern abgerissen, und das Denkmal, das noch ohne mich vor dem Krieg oder während des Krieges aufgestellt worden war, wurde nach dem Personenkult von denselben Dampfern und Kuttern, die früher beim Anlegen ehrfürchtig getutet, und den Mannschaften, die voller Ehrfurcht die Tränen hinuntergeschluckt hatten, mit Trossen in den Jenissej hinab-gezogen, auf den Grund des Flusses – und bei normalem Wasserstand konnte man den großen Führer und Lehrmeister jahrelang sehen, wie er aus den Wassermassen herausschaute. Und ein Jenissej-Flußschiffer, ein Mann, der keine Angst hatte, etwas zu sagen, erzählt mir: „Weißt du, wenn man so über ihn hin weggeschwommen ist, war es ganz furchtbar, die Schauer sind einem den Rücken hinuntergelaufen; so schrecklich war das...“

Ich habe noch verschiedene Geschichten über Stalin gehört, aber sie vermittelten alle den Eindruck, als wären sie ausgedacht, so eine Art hochtrabender Gedichte und Zeilen, die aus den Seiten der Sammlungen hervorstachen, geschrieben von einem durch Trunksucht verwilderten Kasimir Lissowskij und meinem Schullehrer Ignatij Roschdjestwenskij. Man will ja nichts von den größeren Dichtern sagen, die es einfach für unwürdig halten würden, diese Gedichtsammlungen herauszugeben, in denen nicht einmal die Hälfte „über ihn“ war.

Zwei von mir sehr hoch geschätzte Dichter, die in Würde ihr Leben gelebt haben, wurden von der Extase der Kultagonie miterfaßt und haben soviel geschrieben, soviele Zeilen „zutage gefördert“ – davon hätte kein einziger am Zarenhof auch nur träumen können: „Wir haben so an dich geglaubt, geliebter Stalin, wie wir vielleicht uns selber nicht geglaubt haben!...“

Und somit liegt dieser Geliebte, Große und Strahlende auf dem Grund eines großen Flusses und denkt über sein Benehmen nach.

Und die Siedlung Kurejka wurde von ihrem ursprünglichen Ort ganz leise und unmerklich, wie von einer schweren, ansteckenden Krankheit, in eine Sowchose verlagert, 2 km von der ehemaligen Station Kurejka entfernt.

Nun, in eben diesem Kurejka habe ich, nachdem ich aufgrund meines Alters aus dem Kinderheim in Igarka entlassen worden war, im Dorfsowjet gleichzeitig als Schriftführer, Pferdeknecht und Fahrer für die Wasserversorgung gearbeitet und auch die Pferdeställe ausgemistet. Ich mußte den Gemüsegarten des Dorfratsvorsitzenden einzäunen und andere Zäune reparieren. Am Morgen eines sonnigen Tages, noch im Nebel, fuhr ich in den Wald, schlug dort einen ganzen Wagen voll Zweige, band sie am Wagen fest, setzte mich seitwärts auf das Pferd des Dorfrates, und auf der Heimfahrt singe ich Lieder, bewundere den Jenissej, verscheuche die Vögel und verjage die Mücken mit kleinen Ästen. Als ich nach Kurejka hineinkomme, steht dort beim Dorfsowjet eine kleine Gruppe von Leuten. Und auf einem selbstgezimmerten Podest, die Mütze in der Faust zusammendrückend, steht der 1. Vorsit-zende und hält eine Rede.

Ich verspürte ein Pochen in der Brust, Übelkeit stieg in mir auf – der Krieg! Seit jener Zeit, wenn ich mich aufrege oder nervös bin, kommt dieser Klumpen in mir hoch – hier ist er, in der linken Hälfte meines Körpers. Nach meiner Quetsch-Verletzung rückte es in die Mitte der Brust, und manchmal drückt es so stark, daß ich die Welt gar nicht mehr sehen möchte.

So vielseitig ist das Leben.

LEIDENSCHAFTLICHE ARBEIT

(aus den Romannotizen zu „Verdammt und umgebracht“)

Nachdem Schora Schapowalow denunziert worden war, wurde ihm das „Tagebuch“ fortge-nommen, und in dem stand: „Schlechtes Wetter“, „Sonnenschein“, „Karamyschew verwundet“, „Nachschub an Tabak eingetroffen“, „dritten Tag auf dem Marsch, fast nichts gegessen“, „das Wetter ist wieder schlecht“ ...

Ach, wie unruhig lief nun der OSO-Mann hin und her, der sonst nichts zu tun hatte, und jetzt hatte er glücklicherweise von der Arbeit der Abteilung etwas abbekommen: keine Orden, kein Karriereaufstieg – und jetzt dieses Büchlein! Und noch dazu ein Tagebuch! Hat denn nicht noch jemand eins? Keiner hatte auch nur ein einziges Buch, nicht einmal Papier zum Rau-chen.

Es waren ein Ausweis entdeckt worden – was für ein Skandal! Daraus kann man Profit schlagen!

Und wer zieht in den Krieg? Wer arbeitet? Wenn man die „Gesetzesbrecher“ in Straflager schickt? Und der OSO-Mann selbst? Der muß ja mit dem „inneren“ Feind kämpfen. Was für ein Pech! Dann geht ja wieder eine Medaille, geht wieder ein Orden an ihm vorbei. Da mußte der OSO-Mann also eine „prophylaktische Arbeit“ mit uns durchführen, das heißt wenn man den Ausweis zweimal faltet und er durch das Falten in der Mitte ein Loch bekommt – dann ist er ungültig. Und der Besitzer des Scheines benutzte ihn zum Drehen von Zigaretten, und er wollte gar nicht in die Gefangenschaft gehen, aber wenn man ihn nicht vom Weg abbringt: „Kuck mal bei mir!“ Und der Kämpfer ist schon verdächtig. Er muß schon vor allem Angst haben und keine „riskanten“ Sachen machen.

Der Familienname war Skorik. Er kam in der West-Ukraine ums Leben. Er spielte mit den Frauen Karten, ohne Vorhänge vor den Fenstern, und unser kleines Flugzeug warf in den Lichtschein eine Bombe. Im Totenschein stand: „Genosse Skorik ist als tapferer Kämpfer gestorben“, er wurde posthum ausgezeichnet und in die Ehrenlisten der an der Front gefallenen NKWD-Leute eingetragen. Man mußte ja irgendwie ein paar Helden aus dem Nichts zusammenbekommen; und seine Familie ist jetzt versorgt mit einer Rente, nicht von jenen, die Skorik bewacht hat, denen er Angst gemacht und die er verfolgt hat.

Veröffentlicht in: "Tag und Nacht", Ausgabe 4 und 5, 1998


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