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Norilsker „Memorial“, Ausgabe 4, Oktober 1998

Die Lage der Frauen im totalitären Staat

Julia Denker, Mehrprofil-Gymnasium, 10. Klasse, 1997

Das Thema Frau, ihre Situation in Familie und Gesellschaft sowie ihre „Befreiung“ wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem der führenden in Publizistik und Literatur. Sowjetische Historiker bewiesen, dass die Lage der Frauen vor der sozialistischen Revolution im Jahre 1917 äußerst schwierig war, und dass einzig und allein die Revolution sie retten konnte. In der Geschichte der Frauen nach der Oktober-Revolution gab es mehrere Etappen, doch hauptsächlich waren es drei:

Die erste umfasste den Zeitraum zwischen September 1917 und dem Beginn der 1930er Jahre; man kann sie als „Jahre des großen Experiments“ bezeichnen. Es ist bekannt, dass vor der Revolution im Jahre 1917 Frauenarbeit in den Fabriken äußerst unbedeutend war. Nach der Revolution wurde die Bewilligung einer großen Anzahl von Arbeitsplätzen für Frauen ausgelöst durch die historisch-ökonomisch bedingte Situation, als das große Land unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Isolation zur extensiven Entwicklung der Industrie Zuflucht nehmen sollte – durch den Massen-Einsatz billiger, unqualifizierter Arbeitskräfte, unter ihnen auch Frauen. Die Zahl der in der Produktion arbeitenden Frauen stieg rasant an: nicht arbeiten gab es nicht, denn 1921 herrschte das Prinzip „wer nicht arbeitet – der soll auch nicht essen“, d.h. keine Lebensmittelkarten erhalten. Gegen Mitte der 1920er Jahre übertraf die Zahl der arbeitenden Frauen sogar die der Männer.

Die zweite spielt sich Ende der 1920er bis in die 1930er Jahre ab, als sich die Diktatur J.W. Stalins in Russland festigte und es eine große Wende in den Schicksalen der russischen Frauen gab. Erst jetzt öffnen sich die Archive, anhand derer sich das Lebensbild der Frauen in der Epoche des totalitären Regimes wiederherstellen lässt. Die Frauen arbeiteten in jenen Jahren in Betrieben und Kolchosen genauso wie die Männer. „Die Heranziehung von Frauen in den Bereich der allgemeinen Produktion“ verwandelte sich in den Jahren des ersten Fünfjahresplans in ihre Heranziehung in Bereiche ganz untypischer Frauenarbeit. Sie arbeiteten auf dem Lande mit Mähdreschern, als Bauarbeiterinnen und Eisenbahnerinnen in der Stadt, als Fahrzeug-Führerinnen… eine Unmenge Frauen kam zum Arbeiten in Produktionszweige, die ihrer Gesundheit schadeten.

Die dritte Etappe umfasst den Zeitraum zwischen 1941 und 1950. Darüber, wie sich der Große Vaterländische Krieg von 1941-1945 auf die Frauen auswirkte, dessen ganze Schwere sie genau wie die Wiederaufbau-Phase Ende der 1940er und in den 1950er Jahren, gleichermaßen wie die Männer, durchmachen mussten, wurde eine Menge geschrieben. Man weiß, dass 26.000 Frauen in Partisanen-Trupps kämpften, dass an den Fronten 3 Frauen-Bataillone Krieg führten, dass es weibliche Piloten, Flugzeugführer, Scharfschützen gab …

Über die Frauen, die unter den Repressionsmaßnahmen zu leiden hatten, gibt es praktisch keinerlei statistischen Angaben, aber von ihren Schicksalen kann man aus den wenigen vorhandenen Memoiren erfahren.

… Sofort nach dem Oktober-Umsturz im Jahre 1917 füllen die Bolschewiken die Gefängnisse mit jenen, die sie für ihre Feinde halten, und unter ihnen befinden sich zahlreiche Frauen: Ehefrauen von Weiß-Gardisten, d.h. Frauen von Militär-Personen, die während des Bürgerkriegs von 1918 - 1921 gegen die Bolschewiken kämpften; die Ehefrauen von Weiß-Polen – von Polen, die der Sowjetmacht nicht genehm waren; Betschwestern – gläubige Frauen, die wegen ihres Glaubens eingesperrt wurden; adelige Frauen; Nonnen; Frauen, die wertvolle Familienstücke und Reliquien versteckt hielten; Frauen, die nicht bereit waren ihre Ehemänner, Verwandten, Freunde zu „denunzieren“; Schwarzhändlerinnen und Spekulantinnen (jede beliebige Frau, bei der die Sowjet-Organe auch nur die geringste Menge Lebensmittel und Waren entdeckten, wurden wegen illegalen Handelns bestraft); Ehefrauen von Sozial-Revolutionären sowie Sozialrevolutionärinnen selber: Verräterinnen des Sozialismus, ehemalige Genossinnen im revolutionären Kampf gegen die Selbstherrscher.

In den 1930er Jahren fand man immer mehr Gründe, Frauen in ungesetzlicher Weise anzuklagen, und auch das Strafmaß erhöhte sich auf bis zu 10 Jahre. In den Gefängnissen und Lagern tauchten Frauen von Volksfeinden auf; Komsomolzinnen – weil sie Ansichten und Meinungen geäußert hatten, die sich von den offiziellen unterschieden; Kulakinnen, die der Sowjetmacht nicht genehm waren; schulische Mitarbeiterinnen, Lehrerinnen, die mit der offiziell eingeführten Methode des „Brigaden-Unterrichts“ nicht einverstanden waren; Frauen, die nach dem Gesetz vom 7. August 1932 „Über den Schutz des Eigentums von staatlichen Betrieben, Kolchosen und Kooperativen sowie die Festigung des gemeinsamen sozialistischen Eigentums“ verurteilt worden waren, ein Gesetz, welches im Volksmund als „sieben-acht“ bezeichnet wurde (Mütter und Frauen, die hungerten und alles versuchten, um nur irgendwie ihre Kinder durchzubringen, die schon tagelang nichts mehr gegessen hatten) – dieses Gesetz sah den Tod durch Erschießen vor, und im Falle mildernder Umstände – 10 Jahre Lager; Frauen, die keinen Ausweis besaßen; Frauen, die eine Schwangerschaft abgebrochen hatten; polnische Staatsbürgerinnen – Bewohnerinnen des von der UdSSR 1939 annektierten polnischen Ost-Teils, die zu den „antisowjetischen Elementen“ gezählt wurden.

In den 1940er Jahren trat unter den inhaftierten Frauen eine neue Kategorie in Erscheinung – die Zwangsarbeiterinnen, bei denen sich die Haftstrafe auf 25 Jahre erhöhte. Verurteilt wurde(n): Ehefrauen von Banderow-Anhängern; Ehefrauen von Vaterlandsverrätern; Ehefrauen baltischer Offiziere; wegen Spionage; wegen Zugehörigkeit zu einer Nationalität; Staatsbürgerinnen – Militär- oder auch Zivilpersonen, die sich während des Weltkriegs in einem Gebiet aufhielten, welches vom Gegner besetzt oder von der Okkupation bedroht war; ehemalige Gefangene faschistischer Konzentrationslager; wegen Bummelei oder Zuspätkommens zur Arbeit, auch wenn es sich lediglich um fünf Minuten handelte; Frauen, die mit dem großrussischen Chauvinismus in der Kulturpolitik nicht einiggingen; Vertreterinnen der sowjetischen Intelligenz.

In den 1950er Jahren hatte eine große Anzahl weiblicher Ärzte, vor allem jüdischer Nationalität, unter den Verfolgungen zu leiden. In diesen Jahren wurden praktisch alle Frauen, die schon früher verurteilt und Häftlinge in einem Lager gewesen waren, in die Verbannung geschickt – in entlegene Gebiete Sibiriens, des Urals und Kasachstans.

Zur Vermeidung der Verletzung der Lager- und Arbeitsdisziplin infolge der Nachbarschaft von Männer- und Frauenzonen, wurden separate Lager für Frauen geschaffen: Jaja – eines der ersten Frauenlager, 180 km östlich von Nowosibirsk gelegen, wird Anfang der 1930er Jahre eröffnet; das Alschir, das Aktjubinsker Lager für Frauen von Vaterlandsverrätern geht in den Steppen Nord-West-Kasachstans 1939 in Betrieb; Elgen – das Frauenlager an der Kolyma; Arsenalnaja – das Frauengefängnis in Leningrad.

Im Norilsker Lager sind Frauen seit den ersten Tagen seiner Existenz zu verzeichnen; es handelte sich um Frauen, die nach sämtlichen oben genannten Paragraphen verurteilt worden waren. Die Anzahl Frauen wuchs ständig an. Es ist bekannt, dass im Jahre 1939 bei einer Gesamt-Häftlingszahl von 13.824 der Frauenanteil 235 betrug*. Die größte Anzahl Frauen im Norilsker Besserungs-/Arbeitslager herrschte 1951 vor – 9.353.

1944 wurden im Norillag mehrere Zwangsarbeiter-Abteilungen organisiert, daran wurden Frauen gehalten; 1953 betrug ihre Anzahl 203 Personen**, 1944 waren es 67.

1948 entstand auf Norilsker Territorium das Sonderlager des MWD (Ministerium für innere Angelegenheiten; Anm. d. Übers.) N° 2, das Berglager, in dem nur politische Häftlinge gehalten wurden, unter ihnen mehr als 3000 Frauen.

Mit Schwerstarbeit verdienten sich die Frauen ihre Lagerration, wobei sie 8 bis 12 Stunden täglich schuften mussten. Sie arbeiteten in Bergwerken, schoben schwere, mit Erz gefüllte Loren, verluden Gesteinsbrocken, bauten den Flughafen „Nadeschda“ („Hoffnung“; Anm. d. Übers.), Eisenbahnlinien, Industrie-Unternehmen sowie die Stadt selbst; außerdem waren sie in der Landwirtschaft und bei Be- und Entlade-Arbeiten in den Häfen eingesetzt, befassten sich aber auch mit wissenschaftlichen Forschungstätigkeiten.

Unerträgliche Existenzbedingungen, Zwangsarbeit, sexuelle Belästigungen seitens der Lagerleitung, Verhöhnung und Beleidigungen durch die Lagerwachen zwangen die Frauen zum Selbstmord; so warf sich die Gefangene des Norillag Maria Wladirmirowna Owtschinnikowa 1937 unter einen Zug*** - der jungen Frau (sie war 21 Jahre alt) wurde der Kopf abgetrennt. Die Dokumente schweigen über den Grund ihrer Verzweiflungstat. Die Norilsker Ärzte bewahrten viele Frauen vor dem Versuch den Freitod zu wählen.

Vom Lagerleben berichtet Galina Aleksandrowna Skopjuk:
„Sie steckten mich ins Lager als ich 17 Jahre alt war und die 7. Klasse besuchte. Ich wohnte in Polen. Als die „Sowjetmacht kam“, war unsere gesamte Klasse gegen die Kolchosen und die Aussiedlung. 1945 wurde in der Schule eine antisowjetische Gruppe organisiert. Ich half dabei die Flugblättern zu schreiben und an Pfählen zu aufzuhängen. Deswegen wurde ich auch zu 10 Jahren verurteilt. Am 2. August 1945 traf ich im Lager Nagornij am Fuße des Schmidticha-Berges ein. Man setzte mich sogleich bei Arbeiten ein, die alle Kräfte überstiegen: ich und andere Mädchen hoben Baugruben aus, arbeiteten in Werkstätten an den Werkbänken, schleppten Bretter, stellten Rahmen, Türen und andere Erzeugnisse aus Holz her. Die ganze Zeit über befanden wir uns unter der Aufsicht von Wachen.

Wir wurden schlecht verpflegt. Es gab lediglich Frühstück und Abendessen. Für den ganzen Tag 600 g Brot. Wir arbeiteten von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends. Wir lebten in Baracken – auf Pritschen. Wir schliefen auf Matratzen, die mit Holzwolle gestopft waren, und deckten uns mit Decken aus Baumwollgewebe zu. Unsere Kleidung bestand aus: Unterwäsche (Hemd und lange Unterhosen). Sommerbekleidung (sie wurde für ein Jahr ausgegeben) – Kleid, Schnürschuhe aus grobem Schweineleder, Kopftuch; Wintersachen (bekamen wir für 2 Jahre) – Mütze, wattierte Jacke, wattierte Hose, Filzstiefel.

1948 entstand das MWD-Lager. Mich verlegten sie in die 6. Zone (für Politische), d.h. sie trennten die politischen Gefangenen von den Kriminellen; bis zu dem Zeitpunkt hatten sie sich alle gemeinsam in einem Lager befunden. Einerseits wurde es nun etwas leichter, andererseits wurde die Haftordnung verschärft: um 10 Uhr abends - Zapfenstreich, vor den Fenstern – Gitter, in der Baracke – ein Kübel für die Notdurft. Um 6 Uhr morgens gingen wir zur Arbeit, wurden in Brigaden zu jeweils 25 Mann eingeteilt. In der 6. Lagerzone gab es nur Frauen. Zusammenkünfte mit den Männern waren strengstens verboten. Wenn man bei einer Frau von irgendeinem Mann ein Notiz-Zettelchen fand, wurde sie in den Karzer gesteckt. Die Frauen wurden auch dafür bestraft, dass sie sich nicht rechtzeitig schlafen legten, dass sie Nadeln oder Haken bei sich hatten oder ein Lied sangen.

Am Morgen bekam man ein Stück halbgaren Kabeljaus. Wir Mädchen rösteten ihn auf einem Spaten, den sie mit dem Papier eines Zementsackes umwickelt hatten – das war unser Mittagessen. Pro Monat erhielten wir 200 g Seife. Geld bekamen wir für unsere Arbeit nicht. Der Empfang von Paketen war verboten, lediglich einen einzigen Brief durften wir pro Jahr erhalten und auch selber schreiben. In den Umschlägen mitgeschickte Fotos wurden beschlagnahmt, und wenn es sonst irgendetwas darin gab, was die Zensur verbot, dann bekam man den Brief überhaupt nicht ausgehändigt. Jeden Monat veranstalteten die Arbeitsanweiser in der Baracke eine Durchsuchung; wenn sie etwas Verbotenes entdeckten, konfiszierten sie es, und man wurde bestraft. Ich versteckte meine Familienfotos im Schnee, um sie mir auf diese Weise zu erhalten.

1953 starb Stalin. Zu der Zeit setzte unter den Politischen ein großer Streik ein. Die Frauen erklärten den Hungerstreik, hungerten eine ganze Woche lang und gingen nicht zur Arbeit. Eine Kommission aus Moskau versprach all unsere Forderungen zu erfüllen; wir glaubten ihr und fingen wieder an zu arbeiten, doch alles blieb beim Alten.

Am 7. Juli 1953 verließen alle inhaftierten Frauen ihre Baracken, versammelten sich in der Mitte des Lagers, fassten einander bei den Händen und umzingelten die Lagerzone. Ein Teil der Frauen fing an ein großes Grab auszuheben, um dort die Leichen hinein zu legen, falls die Wachsoldaten schießen würden. So verbrachten wir dort stehend die ganze Nacht. Um 6 Uhr morgens begann die Wachmannschaft die Zäune einzureißen und auf die Häftlinge einzuschlagen; Feuerwehr-Fahrzeuge trafen ein und bespritzten uns mit Wasser. Die Kolonne wurde zurückgedrängt, splitterte auseinander, die Frauen fingen an fort zu rennen. Einige schafften es nicht, wurden verwundet, von einem Fahrzeug aufgenommen und weggefahren. Meiner Freundin zerschlag ein Wachmann die Stirn, ich hob sie hoch und trug sie auf meinen Armen.

Nach dem Streik sortierten sie uns in Schuldige und Nicht-Schuldige. Ich kam in die Gruppe der Schuldigen. Ich und weitere 250 Personen wurden in ein Lager mit erschwerten Haftbedingungen geschickt. In diesem Lager blieben wir bis zum Winter. Man verlieh uns neue Häftlingsnummern – die auf den wattierten Jacken und Hosen getragen werden mussten. Die Gefangenen hatten kein Recht ihren Nachnamen zu nennen.

Im Frühjahr 1954 kehrten alle wieder in das allgemeine Lager zurück. Man begann mit dern Freilassungen …

Insgesamt saß ich 9 Jahre und 3 Monate.

Am 24. November rief mich der Bevollmächtigte zu sich und sagte mir, dass ich nun frei käme. Er händige mir Geld aus, übergab mir die Briefe und Fotos von meinen Eltern. 1961 bekam ich einen Ausweis, Anfang der 1990er Jahre wurde ich rehabilitiert. Meine Familie wurde nicht verfolgt, denn der Vater war Frontsoldat gewesen; die Schwester hatten sie nach Deutschland vertrieben, sie kehrte in die Heimat zurück, der Bruder war während der Verschickung durch die Faschisten aus dem Zug geflohen, ging zur Armee und gelangte bis nach Berlin.

Jetzt arbeite ich als Aufseherin im Museum, und jedes Mal, wenn ich der Führung über das Norillag lausche, fange ich an zu weinen – es ist so schwer, sich an all das zu erinnern, was mit mir damals geschah, aber ich werde es auch niemals vergessen können…“

Während ich Galina Aleksandrownas Erinnerungen anhörte, begriff ich, dass sie noch nicht einmal die Hälfte von dem erzählt hatte, was sie tatsächlich hatte durchmachen müssen. Aber auch das Wenige reichte schon aus, um die ganze Seele, das ganze Herz zum Beben zu bringen und sich vor all den Frauen zu verneigen, die durch diese Hölle, diese Abscheulichkeiten und Erniedrigungen gegangen sind und es dennoch verstanden haben ihre Würde zu wahren, nicht zu verbittern und in sich die unausrottbare Liebe zum Leben und die große Trauer zu tragen.

Foto:
G.A. Skopjuk, 1950er Jahre

Norilsker Memorial 4, Oktober 1998
Ausgabe des Museums der Geschichte der Erschließung und Entwicklung des Norilsker Industriegebiets und der Norilsker Gesellschaft „Memorial“

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* Archiv des Inforationszentrums der Behörde für innere Angelegenheiten der Region Krasnojarsk, Verz. 3, Akte 83, Bd. 1

** Ebenda, Verz. 3, Akte 127, Bd.1

*** Ebenda, Kartothek des Norillag


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