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Nina Dsjubenko: Das ITL (Besserungs-/Arbeitslager) starb über mehrere Jahre

Seit langem wollte ich die Dynamik der Häftlingszahlen im NorilLag verfolgen. Sobald die Archive geöffnet wurden, machte ich mich mit Schriftsücken des Zentralen Staatsarchivs der Oktober-Revolution (ZGAOR) und des MWD-Archivs vertraut.

Was war das NorilLag für eine Einrichtung? Gemäß dem vorliegenden Lagerveraltungs-schema umfasste das Norilsker GULAG-Imperium von Süden nach Norden 4613 Kilometer, einschließlich Schuschenskoje und Kurejka. Der allernördlichste Punkt mit der Lagerabteilung Biruli befand sich 2000 Kilometer nördlich von Norilsk – am Ufer der Kara-See. 1953 bestand das ITL aus 35 Lagerabteilungen und 14 Lageraußenstellen sowie 6 Lagerabteilungen des Gornaja- (Berg-) Lagers. Die Zahl der Häftlinge belief sich in jenem Jahr auf 100.000.

Das NorilLag existierte insgesamt 21 Jahre. Nachdem es am 25. Juni 1935 geboren worden war, begann es seine Belegschaft bereits 1953, nach Stalins Tod, zu kürzen. Den Nachweis darüber erbringt der Befehl der Abwasser-Kontroll-Behörde N° 186 vom 14. August 1953: „Im Zusammenhang mit dem Wechsel des Kontors für Wohnbelange zu einer Belegschaft aus freien Mitarbeitern und der Absicht, die Kontrolle bei der Abwasserentsorgung über vereinzelte Entsorger zu verschärfen ….“.

Der Tod des ITL zog sich über mehrere Jahre hin. 1954 wurde ein Lager- Liquidations-komitee gegründet. Dort hatte man auch ein eigenes Parteikomitee – na, wie sollte es auch ohne gehen? Nachdem man alle Sachen der Gefangenen durchgezählt hatte – Pritschen, Filzstiefel u.a., wurde das Lager gemäß Befehl N° 361 VOM 16. Mai 1957 (Bestände des GULAG, ZGAOR) aufgelöst. Wie viele menschliche Leben hat diese erbarmungslose Repressionsmaschinerie in den 21 Jahren, in denen das NorilLag existierte, vernichtet und zerbrochen? In den Archiven fand ich Zahlen, welche den zahlenmäßigen Bestand im Norilsker ITL bezeugen. Aber diese Angaben wären noch genauer und aussagekräftiger, wenn wir dazu auch die Anzahl der Gefangenentransporte und die jeweilige Anzahl der Häftlinge pro Transport gefunden hätten. Dies ist uns jedoch nicht gelungen.

Hier nun das, was die Archivdokumente berichten:

1935, Juli-Oktober (ich führe die Monate an, denn sie tauchen in den Rechenschaftsberichten auf), - 1200 Häftlinge im NorilLag. Diese Anzahl der Ersterbauer wird in Erinnerungen vielfach bestätigt. Die Zahl ist, ebenso wie die meisten nachfolgenden, dem Jahresbericht des NorilLag im Archiv des MWD entnommen.

1936, Januar – 1251 Gefangene. Die Zunahme ist unbedeutend, die Sache mit der Aufstockung der Vernichtungslager war noch nicht angelaufen, und die Transportwege waren noch nicht hinreichend ausgefeilt. Aber M.W. Samoilo zählte zum Beispiel laut Karthotek des Krasnojarsker MWD-Informationszentrums ab Februar 1935 zu den Häftlingen des NorilLag. „Das Imperium des Bösen“ gab es noch nicht, doch die Untertanen waren bereits vorhanden.

Ich erinnere daran, dass das Jahr 1935 in der Geschichte des Landes der Sowjets das Jahr mit den meisten Verhaftungen nach dem Schuss Leonid Nikolajewitschs im Smolnij-Institut (Ermordung Kirows; Anm. d. Übers.) am 1. Dezember 1934. Am 07.04.1935 erging die Anordnung über die Verhängung der Todesstrafe über die Erbauer des Sozialismus ab dem Alter von 12 Jahren. Die Verschärfung der Repressionspolitik der Partei musste sich auf das Häftlingskontingent im Allgemeinen, aber ganz besonders im NorilLag, auswirken.

1937, Januar – 9138 Häftlinge. Die Etappen des Jahres 1936 brachten eine Ergänzung um 8000 Mann. Diese Zahl wird durch die Erinnerungen von G.G. Starizkij, W.W. Jocheles, I.J. Busmakow, W.S. Tschuchman bekräftigt.

Die meisten Angaben entfallen auf das Jahr 1938. Damals begann die dreijährige Amtszeit Sawenjagins, und das Lager bewegte sich mit großen Schritten aus der Pionierkinderzeit ins Erwachsenenleben.

1938, Januar – 7929 Gefangene, im 2. Quartal – 7682, im dritten – 10332, im vierten – 12440.

1937 und 1938 gingen überall im NorilLag Massen-Erschießungen von Häftlingen vor sich (es sind etwa dreihundert Namen bekannt), die auf Fern-Urteilen sogenannter „Trojkas“ des Krasnojarsker NKWD basierte.

Obwohl ich das Risiko eingehe, den Leser zu ermüden, werde ich dennoch die sehr lange Liste jener GULAG-Behörden anführen, aus denen 1938, zusammen mit den Gefangenen selber, auch deren persönliches Geld ins NorilLag geriet. Die Angaben sind dem „Jährlichen Rechenschaftsbericht der Buchhaltung des Kombinats über die wichtigsten Aktivitäten im Jahre 1938“ entnommen. So also aus den Abakansker, Atschinsker, Sujewsker Kolonien, dem Gebiet Charkow und Minderla; aus den Balaschewsker, Bijsker, Jenisejsker, Krasnojarsker, Kansker, Kamensker Gefängnissen, der Mariinsker Abteilung des SibLag, dem Mitschurinsker, Minusinsker, Nowosibirsker, Oirotsker, Taganrogsker Gefängnis, dem Gefängnis N° 3 in Moskau, den Gefängnissen der Stadt Kotelnitschi und der Kemerowsker, Batumsker, Jaransker, Kirowsker Gebiete. Außerdem aus dem KuloiLag, der Abteilung für Haftverbüßungsorte der Region Krasnojarsk, der Abteilung für Haftverbüßungsorte des Gebietes Rostow, der Streschninsker Besserungs-/Arbeitskolonie, dem TaischetLag, UchtomLag, dem BelBalt-Kombinat (Weißmeerkanal) …

Und dann waren da auch noch Häftlinge, denen man während des Ermittlungs- und Gerichtsverfahrens im Gefängnis kein Geld übermittelt wurde.

Solche Metastasen des „Archipels“ gab es also, wenn man die Terminologie des Begründers der GULAG-Lenkung verwenden will. Und dabei war das NorilLag doch noch so weit entfernt von seiner maximal möglichen Kapazität.

1939, im Januar – 11560 Häftlinge, im April – 10858

Abraamij Pawlowitsch hatte bereits damit begonnen, die Fehler seines Vorgängers W.S. Matwejew auf dem Posten des Leiters der Norilsker Bau- und Lagerverwaltung zu korrigieren, unter dem, nach den Worten Sawenjagins, „nicht das gebührende Regime herrschte und es auch keine Einschränkungen gab“. Matwejew wurde nach dem Urteil des Militärgerichts im Moskauer Gebiet der inneren Truppen des NKWD vom 7.-9. April 1939 nach § 58, Abs. 7, 8, 11, zu 15 Jahren Gefängnishaft und 5 Jahren Entzug aller Rechte verurteilt.

Aus Erinnerungen ist bekannt, dass sich das Sonderkontingent im Jahre 1939 auf 10.000 erhöhte. Die Solowkis (Gefangeneninsel im Weißen Meer; Anm. d. Übers.) wurden geschlossen, und der Nordmeer-Seeweg erwies sich ebenfalls als für die Zustellung von Häftlingen in den Hafen von Dudinka geeignet.

Angaben über die Häftlingszahlen im Jahre 1940 liegen nicht vor. Wir machen uns die Zeugnisse zunutze, die von M.J. Waschnowij veröffentlicht wurden: „… bestätigter Personalbestand bei den Wachmannschaften, 1000 Mann, das sind 5% der 20.000 Köpfe zählenden Lager-Bevölkerung“.
Und dies wird auch durch die im MWD-Archiv vorliegenden Angaben bestätigt:

1941, 1. Quartal – 18.773 Häftlinge, 2. Quartal – 17.685 Häftlinge.

Die ersten zwei Jahr der „verhängnisvollen 1940er Jahre“ erweiterten in erheblichem Maße die Geografie der Orte, aus denen neue Häftlingsetappen herangebracht wurden: dem Baltikum, der West-Ukraine, Weißrussland, Bessarabien; ferner gab es Etappen mit finnischen Kriegsgefangenen, Deutschen, Koreanern (der ersten Nation, die der gewaltsamen Umsiedlung aus dem Fernen Osten nach Mittel-Asien und Kasachstan ausgesetzt war).

Des Weiteren stieg ab dieser Zeit unter der Lager-Bevölkerung die Zahl der sogenannten Ukas-Verurteilten, die wegen Bummelei am Arbeitsplatz oder unwesentlichen Zuspätkommens verhaftet worden waren, jäh an.

Die Jahresdurchschnittszahl der Häftlinge im Jahr 1942 betrug 26.421 Personen.

Auf die Jahre 1942-1943 entfällt des Ende der fünfjährigen Strafen nach den größten Massenverhaftungen von 1937-1938. Aber die Mehrheit der Gefangenen, die aus dem Lager freigelassen wurde, besaß nicht das Recht aus Norilsk abzufahren. Am 19. April 1942kam die geheime Direktive N° 185 über die Einbehaltung der Gefangenen, die nach dem § 58 verurteilt worden waren, bis zur weiteren Verfügung heraus.

Obwohl das alles schon viel früher begonnen hatte. Folgendes schreibt D.A. Wolkogonow in seinem Buch „Triumph und Tragödie“: „Wie aus den Dokumenten klar hervorgeht, war es gerade Stalin der Initiator für die Umwandlung der Gefangenen in eine ständige sprudelnde Quelle rechtloser und billiger Arbeitskräfte. Ich erinnere an die Rede Stalins auf der Sitzung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR am 25.08.38, in der er dazu anspornte, die Häftlinge auch nach Ablauf ihrer Haftstrafen weiter in den Lagern festzuhalten; und so wurde ein entsprechender juristischer Akt mit offizieller Rechtsgültigkeit daraus gemacht“.

Die Anlieferung von Gefangenen mit Flugzeugen in Norilsk erfolgte ausschließlich auf „Sonderanweisung“ des GULAG; so traf beispielsweise N.N. Urwanzew im Dezember 1942 auf diese Weise dort ein.

Der Nordmeer-Seeweg erforderte eine Eisbrecher-„Eskorte“; deswegen stellte der Jenisej all die Jahre hindurch in der schiffbaren Jahreszeit die Hauptroute für die Etappen von Slobino bis Dudinka dar. Dieser Weg des Leids und der Tränen ist vielfach beschrieben worden. Nachfolgend die dokumentarische Prosa in der Ausführung des stellvertretenden Leiters des Norilsker Kombinats (NK) – Leutnant der Sicherheit W.S. Jeljan. Adressat dieses Berichts – der Leiter des NK und des Besserungs-/Arbeitslagers des NKWD A.A. Panjukow.

„Über die Gesamtbilanz der Beförderung von Frachten des Norilsker Kombinats während der schiffbaren Zeit 1942 auf dem Jenisej“ (Archiv-Trophäe von A.B. Makarowa). „Zwei Lastkähnen folgend, schleppte der Dampfer „Papanin“, auf dem der Leiter der Jenissej-Flussschiffahrtsverwaltung - Genosse Nasarow, der Chef ost-sibirischen Flussschiffahrtsverwaltung Genosse Mjasnikow sowie der Leiter der politischen Abteilung der Jenisej-Flussschiffahrtsverwaltung – Genosse Smoljaninow fuhren, den Lastkahn N° 46 über die Schiwersker Sandbank, demzufolge unter den Gefangenen eine Panik ausbrach (1669 Personen befanden sich im Frachtgutraum dieses Kahns) und sie nun allesamt an Deck stürzten; aber nachdem man festgestellt hatte, dass die Barke nicht leckgeschlagen war, führte man die Häftlinge wieder in den Frachtraum zurück, und der Kahn setzte seinen Weg fort.

Als sie die Pridiwinsker Sandbank überfuhren … wurde der Lastkahn N° 46 am Morgen des 13. Oktober plötzlich von inem heftigen Stoß erschüttert und erlitt durch einen unter Wasser liegenden Stein ein großes Loch um Rumpf, so dass ein Wasserstrahl von 30 cm Durchmesser in den Laderaum strömte.

In völliger Panik kletterten die Gefangenen durch drei vorhandene Luken an Deck, um von dort an Deck der Barke „Norilka“ umzusteigen. welche neben dem Lastkahn N° 46 schwamm. In dieser panischen Situation kamen fast alle Häftlinge ohne Kleidung aus dem Frachtraum, und nachdem man sie durchgezählt hatte, stellte sich heraus, dass 26 von ihnen, denen es nicht gelungen war, ins Freie zu klettern dort unten ertrunken waren, wobei ein Teil von ihnen unmittelbar zuvor durch die eigenen Häftlingskameraden niedergetrampelt worden war.

Als man auf dem Dampfer „Papanin“ bemerkte, dass der Lastkahn zu sinken begann, machte man eine scharfe Wendung und versuchte die Barke N° 46 ans Ufer zu stoßen, aber trotz aller Bemühungen ging sie dann gegenüber der Pridiwinsker Schiffswerft unter…..

Nachdem der Dampfer an Ort und Stelle geeilt war, überzeugte man sich davon, dass es unmöglich war, einen Teil der Gefangenen an Deck der Barke „Norilka“ zu schicken, da sie barfuss und größtenteils ohne Kleidung warn, denn fast ihre gesamten persönlichen und staatseigenen Sachen waren im Frachtraum des sinkenden Lastkahns zurückgeblieben.

Der Dampfer „Papanin“ setzte, zusammen mit der Barke „Norilka“ und den Leitern der Dampfschifffahrtsgesellschaft am 13. Oktober seinen Weg fort, und am 14. Oktober, beim Passieren der Kasatschinsker Stromschnellen, schlug die Barke „Norilka“ in dem steinigen Wasser Leck und ging an Ort und Stelle unter; gerade mal ein halber Meter ragte noch über der Wasseroberfläche hervor. Auf der Barke „Norilka“ wurden von Pridiwinsk noch 200 Gefangene auf den Weg gebracht …“

1943 – die Anzahl der Häftlinge ist nicht bekannt. Im Januar 1944 sind es 34.572 Gefangene. Im Oktober 1945 – 36.984. Für die Jahre 1946-1947 liegen keine Angaben vor.

Und das Sieger-Volk fuhr in immer größer werdender Zahl weiter ins NorilLag:

1948, Februar – 47.922 Personen;
1948, Oktober – 49.822 Personen;
1951, März – 71.331 Personen, und im 2. Quartal – 68.919 Personen.

Die Zahl der Lagerhäftlinge an der Schwelle des Jahres 1953 errechnen wir so. Aus den Worten des Staatsanwalts des NorilLag – J.W. Pawlowskij – ist bekannt, dass die Zahl der Gefangenen des GorLag (Berg-Lager; Anm. d. Übers.) – 30-32 Tausend betrug.
Der Leiter des Norilsker Kombinats und des Lagers des MWD – W.S. Swerew - sagte 1953 auf einer Sitzung des Partei-Wirtschaftsaktivs, dass es im Arbeits- und Besserungslager 3,5-mal mehr Gefangene gebe, als im Berglager. Das ergibt also etwa 120.000 Häftlinge.

Die letzte Etappe traf 1953 im NorilLag ein. Im Lande, in Norilsk begann eine neue Epoche.

Wir haben nicht auf die Frage geantwortet: „Aber wie viele Gefangene durchliefen denn insgesamt in all diesen Jahren das NorilLag?“ Dazu benötigen wir Angaben über den komplexen zahlenmäßigen Bestand aller Eingetroffenen. Denn M.P. Rubeko, er 1939 ankam, erinnert sich, dass er hier Leuten begegnete, die auf ihrer Registrierkarte eine Nummer in den 58000ern stehen hatten… So dass wir also, wenn wir die angeführten Ziffern miteinander vergleichen, daran denken werden, dass die Statistik des GULAG das Ziel hatte, die wahre Lage der Dinge innerhalb seiner Behörde geheim zu halten, zu verbergen.

Und wenn Genosse Stalin noch zwei Jahrzehnte weiter gelebt hätte, wäre er dann auch noch der große Führer Chinas geworden? Wie viele Wachhunde hätte man dann wohl noch benötigt? Schließlich hatte es Pläne gegeben, dem NorilLag Nordwik zu übertragen und das JenisejLag zu organisieren (NorilLag plus die Bauverwaltung 503 Salechard – Igarka).

Und zum Schluss noch: das GULAG – die Hauptverwaltung der Besserungs- / Arbeitslager – wurde ein Jahr vor dem NorilLag gegründet, aber seine „unzweckmäßige weitere Existenz“ wurde 1956 anerkannt, gleichzeitig mit dem NorilLag, gleichzeitig mit dem erklärten vollständigen und endgültigen Sieg des Sozialismus in der UdSSR.

Nordwiks rostige Spuren

Grenzenloser Optimismus zeichnet die Epoche des Sozialismus aus. So wurde in den 1930er Jahren beschlossen, die weiße, lautlose Stille des Hohen Nordens zu erschließen. Einer dieser geografischen Punkte, in die Millionen von Rubel hineinflossen, aber von wo die Menschen später fortgingen und nur rostige Spuren zurückließen – das war Nordwik. 1990 fuhr eine Expedition des Norilsker „Memorial“ dorthin. Es gab in Nordwik zu wenig zu sehen, um auf all die Fragen zu antworten, die an Ort und Stelle aufkamen. Man musste die Antworten im Zentralen Staatlichen Archiv für Volkswirtschaft suchen und sich dabei durch das Verschweigen und Verheimlichen hindurchwühlen, durch Pauschalierungen, Übertreibungen und andere in unserem Vaterland übliche Methoden Rechenschaftsberichte zu verfassen. Als nicht weniger interessant erwiesen sich auch die Berichte der politischen Abteilungen, die im Genre des sozialistischen Realismus abgefasst waren, - Denunziationen, die vor der Neugier der Parteilosen im Zentralen Parteiarchiv sorgsam bewahrt wurden.

Wozu musste man hinter dem Polarkreis „Perlen“, ähnlich wie Norilsk, schaffen?

Das Land brauchte in industrieller und militärischer Hinsicht sowie für den Warenhandel den Nordmeer-Seeweg. Um dort entsprechende Aktivitäten realisieren zu können, war es erforderlich, auf der gesamten Trasse Brennstoff-Stützpunkte einzurichten. Selbstverständlich wurde in dem Zusammenhang dann auch ein Organ ins Leben gerufen, welches diese ganzen Arbeiten lenkte, - 1932 wurde die Hauptverwaltung des Nordmeer-Seewegs (GUSMP) gegründet, an deren Spitze der legendäre O.J. Schmidt stand.

Seit dem vergangenen Jahrhundert war bekannt, dass es im Bereich der Bucht von Nordwik Bodenschätze gibt: Erdöl, Kohle, Salz. Nicht nur eine geologische Expedition befand sich dort zu Erkundungszwecjen: I.P. Tolmatschew, O.O. Baklund, T.M. Jemeljanzew, L.P. Smirnow, A.I. Bersin, J.A. Kolodjaschnij sowie der uns wohlbekannte N.N. Urwanzew. Wenn der Himmel wolkenlos ist, sieht man von der Halbinsel Jurung-Tumus aus die Insel, die von Nikifor Begitschew entdeckt wurde …

Gegen Mitte der 1930er Jahre beschlossen die Kommissare, dass der unterirdische Reichtum gefördert werden müsste. So wurde 1936 der Konzern „Nordwik-Projekt“ gegründet. Zu dessen Leiter wurde B.W. Lawrow ernannt, der anfangs für die Erschließung des Nordens mit dem Lenin-Orden ausgezeichnet wurde und den man später im Gefängnis verkommen ließ.

In dem im Parteiarchiv entdeckten Entwurf der Anordnung des Zentralkomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) „Über das Nordwiker Salz“, der von O.J. Schmidt und S.A. Bergawinow (dem Leiter der politischen Abteilung der GUSMP, der von den ruhmreichen Tschekisten bald nach seiner Rückkehr aus dem Ausland, wo er sich medizinisch hatte behandeln lassen, verhaftet wurde) im Januar 1936 vorbereitet worden war, gab es noch einen weiteren Punkt, der in der Presse für gewöhnlich keinerlei Erwähnung fand:
„Dem Volkskommissar des Innern, dem Genossen Jagoda, den Vorschlag zu machen, für die GUSMP im Sommer 1936 bis zu 1000 Mann aus den Lagern zur Einrichtung von Schachtanlagen in Nordwik bereitzustellen“.

Und die Arbeit lief an – und wie! Von 1933 bis 1941wurden für die Suche nach Salz mehr als 75 Millionen Rubel aufgewendet. Im Rahmen dieser Forschungen konnte ermittelt werden, dass das Salz von äußerst minderwertiger Qualität war und zudem über erhebliche Beimischungen an Gips verfügte.

Was stellte Nordwik in jenen Jahren dar?

Im Bereich der Bucht gab es keine bewohnten Siedlungen. Die nächstgelegenen Ortschaften Saskylach und Chatanga befanden sich 350 und 500 km weit entfernt. Blockhäuser, Bohrtürme in zerlegter Form wurden aus Archangelsk angeliefert – das auf der Karte nur einen Katzensprung entfernt liegt …

Die Kosten für ein Wohnhaus, in dem 20 Personen untergebracht werden konnten, belief sich auf 25.000 Rubel. Die Industrialisierung schritt im Akkordtempo voran. 1937 konstatierte die GUSMP: „Der Nordwik-Konzern hat den Arbeitsplan nicht erfüllt – hauptsächlich als Folge der während der schiffbaren Zeit im Jahre 1936 ausgebliebenen (es herrschten erschwerte Bedingungen wegen Eisgangs) Zulieferung von Arbeitskräften aus dem Westen sowie Materialien und Ausrüstungsgegenständen“.

Im Nordwik-Konzern arbeiteten vor der Ankunft der Leute im Jahre 1937 insgesamt 114 Mann – 96 von ihnen waren spezielle Arbeitskräfte. Aus dieser Gruppe wurden dem Nord-Jenisejsker Bauprojekt im September auf einem Kutter, aufgrund des Fehlens von Lebensmitteln, 23 Personen zugestellt. Mit dem Dampfer „Kusnezkstroi“ sowie mit Flugzeugen trafen im September 84 Leute ein, 65 davon waren Fachkräfte.

Muss man erklären, wer diese speziellen Arbeitskräfte „rekrutierte“? Bis heute kann ich mich daran erinnern, wie eine ausländisch Besucherin im Museum überhaupt nicht begreifen konnte, was solche Denunziationen und falsche Anschuldigungen eigentlich bedeuteten ….

Die Bezwinger des Nordens, unter denen sich auch Freie befanden; sie lebten in der Siedlung außerhalb der Lagerzone, denn irgendwelche sichtbaren Hinweise auf ein Lager in Nordwik wurden von der Expedition nicht gefunden. Konvoi-Wachen und „Stacheln“ wurden durch Entfernung und Klima ersetzt.

In den Archiv-Dokumenten wird sehr häufig der aufgelistete Personalbestand an Arbeitern und Dienstleistenden angeführt, der zu keinem Zeitpunkt mit der tatsächlich vorhandenen Anzahl übereinstimmte…..

Außer in Nordwik wurden auch Arbeiten in den Siedlungen Nordwiksol, Ugolnyj, Koschewnikowo, Kotuj, Tigjan und anderen realisiert.

Kontakte wurde mit Hilfe von Traktoren aufrecht erhalten, die man vor einen Schlitten „gespannt“ hatte. Aus dem jährlichen Rechenschaftsbericht des Konzerns „Nordwik-Projekt“ für das Jahr 1937: „ Es ist beispielsweise bekannt, dass bis zur schiffbaren Zeit im Jahre 1937 der Transport vor Ort mittels zweier Hundegespanne vorgenommenen und alles, was es sonst noch zu befördern gab, von Menschenbrigaden realisiert wurde.

Niemals darf man den Menschen den Flug ihrer Träume, ihre Illusionen, nehmen. In demselben Jahr 1937 wurde ein Seilbahn-Projekt in Nordwik in Angriff genommen!

Die Menschen vom Polarkreis arbeiteten nicht nur, sie ruhten sich auch aus. Über die jeweiligen Interessen lässt sich anhand folgender Dokumente urteilen:

„Ausgaben für kulturelle Dienste im Nordwik-Projekt für das Jahr 1939.
Materialien:
a) kleinkalibrige Patronen, 20.000 Stück – 4.000 Rubel
b) typographisches Material – 1.807 Rubel
c) Materialien für kulturelle Zwecke – Make-up, Farben – 2.494 Rubel
Insgesamt: 9.577 Rubel

Der Leiter der Haupt-Güter- und Transport-Verwaltung
Demidow
In Vertretung des Leiters der Planungsabteilung
Dobler“.

Zum Kader des Nordwik-Projekts gehörte das Moskauer Konzern-Büro, welches die Anwerbung und Verschickung der Arbeitskräfte vornahm, für die Bereitstellung von Einrichtungs- und Ausrüstungsgegenständen sorgte, usw. Spuren der stürmischen Aktivitäten dieses Kontors finden wir im Rechenschaftsbericht des Jahres 1943.

Für die Durchführung der Be- und Entlade-Vorgänge im Hafen benötigte man 600 Mann. „In diesem Zusammenhang wurde vor der GUSMP-Leitung die Frage gestellt, ob man nicht 400 Leute als Saison-Verlade-Arbeiter vor Ort anliefern sollte.

Die GUSMP sicherte der Expedition zu, dass diese mit d3em ersten Dampfer hergebracht würden. In der Tat trafen mit dem ersten Schiff auch 400 Saisonarbeiter ein, aber sie wurden gleich weiter zur Fischfabrik in Chatanga gebracht und bestanden auch ausschließlich aus Minderjährigen und aus Frauen, die in ihrer überwiegenden Mehrheit auch noch schwanger waren“.

Um sich eine allgemeine Vorstellung vom Arbeiterkontingent und der unter den Bedingungen des Hohen Nordens herrschenden, unausweichlichen Fluktuation eben dieser Menschen machen zu können, kann man aus dem Jahresrechenschaftsbericht 1945 folgendes zitieren:

Gesamtzahl der Arbeiter und Dienstleistenden – 1359 Personen. Während der schiffbaren Zeit wurden 796 Menschen angeliefert, von denen 373 (47%) das Sonderkontingent bildeten, das aus dem Norilsker sowie anderen sibirischen Lagern stammte. 314 Personen wurden entlassen, 46 von ihnen wurden durch das Militärgericht verurteilt.

„Die Fernsitzung des Militärtribunals hat große Arbeit geleistet, indem sie die Desorganisatoren der Produktion verurteilt hat; aber Bedingungen für einen normalen Arbeitsablauf im Unternehmen gibt es bis heute nicht, denn die Verurteilten sind immer noch nicht fortgebracht worden, sämtliche Plätze in den Untersuchungs- und Arrestzellen sind überfüllt. Im Zusammenhang damit wurden die rein administrativ laut Vorschrift verhängten Strafen auch noch nicht vollstreckt – es fehlt an Räumlichkeiten, was sich auf die Arbeitsdisziplin negativ auswirkt“. Das heißt, das Kriegstribunal hat gut gearbeitet, indem es die Leute verurteilt hat, nur macht es leider keinen Sinn!

Die ehemalige Mitarbeiterin der GUSMP, Antonina Andrejewna Tschekalowa aus Nowotscherkask, die in Koschewnikowa tätig war, schrieb dazu folgendes: „Staatsanwalt Wasilij Iwanowitsch Serdjukow traf hier ein, um die Erde vom leidigen, minderwertigen Menschenstrom zu säubern, - so eine Einstellung hatten sie damals. Wenn es nur damals so gewesen wäre!

Über die Bedingungen, in denen die Menschen am 74. Breitengrad lebten, kann man auch anhand der Dinge urteilen, die während der Arbeit der Expedition dort vorgefunden wurden. Hosen aus Sackleinen, die dermaßen geflickt waren, dass es praktisch keine „ursprünglichen“ Stoffstellen mehr gab.

Im Salzbergwerk waren noch Rollbretter, ein Haufen Schaufeln und Schubkarren vorhanden. Dass die Schubkarrenfahrer und Schlittenführer hochintellektuelle Menschen waren – darauf bekamen wir durch ein Fundstück den Hinweis, welches wir bereits im Museum entdeckt hatten. Als wir einen selbstgebauten Schlitten umdrehten, stellten wir fest, dass der Unterboden aus einem Schachbrett angefertigt worden war, dass die Leute ebenfalls selber gebaut hatten.

Ich zitiere aus dem medizinischen Teil des Jahresrechenschaftsberichts für das Jahr 1945: „Die charakteristischsten Erkrankungen im Hohen Norden sind lumbosakrale Radikulitis sowie Neuralgien des Hüftnervs, wobei diese vor allem bei Arbeitern auftreten, die bei Außenarbeiten beschäftigt sind. Der Grund für die genannten Erkrankungen ist, neben den Bedingungen des Hohen Nordens, der ungünstige Schnitt der wattierten Hosen. Während der Arbeit, beim Beugen des Rumpfes, rutschen Hemd und Pullover, sofern die Leute überhaupt so einen besitzen, schnell aus dem hinteren Hosenbund herausrutschen, so dass das Kreuz bloßgelegt wird. Es wird durch die viel zu kurz geschnittenen Wattejacken nicht ausreichend bedeckt und schafft somit hervorragende Bedingungen für eine Verkühlung. Eine ungleichmäßige Unterkühlung wird auch während des Schlafs auf den kahlen Bettstellen oder Pritschen gefördert, die an den eis- oder taubedeckten Wänden stehen – eine Folge davon, dass die Behausungen vorwiegend aus Zelten und Holzhütten bestehen.

Aber die Schachtanlagen waren in Betrieb. Ich vermag nicht zu sagen, dass die Schachtarbeiter dort ihre Rücken krumm machten, denn die Stollen am Kap Ilja waren so niedrig, dass die Leute dort im Liegen arbeiten mussten – auf diese Weise wurde das Grubenholz für die Stempel (zum Abstützen der Decke; Anm. d. Übers.) gespart. Und so arbeiteten die Bergarbeiter nach ihrem Nachtlager im Zelt liegend in ihren irrational zugeschnittenen Hosen. Davon berichtete Maria Filippowna Wjetschorko, Mädchenname Lukjanzewa, die heute in Moskau lebt und deren Vater Leiter eben dieses Schachts war. Maria Filippowna erinnerte sich, dass 1949, bei der Evakuierung, die inhaftierten Schachtarbeiter auf Lastkähne verladen wurden. Und dann brachte man sie fort und – versenkte sie.

1949 wurde der Schacht am Kap Ilja geschlossen, in demselben Jahr, im August, folgte der Befehl über die Konservierung des Salzbergwerks.

Und der Leiter der Nordwiker Politabteilung, Michail Lawruschenkow, zieht in seinen Aufzeichnungen an die Hauptverwaltung des Nordmeer-Seeweges und den Ministerrat der UdSSR die Bilanz der Erschließung des Nordens: „Die Förderung ging auf primitive Weise vonstatten, und aufgrund mangelnder Erfahrung, unrichtiger Durchführung der Schachtarbeiten sowie der schwierigen hydrogeologischen Bedingungen stürzten schließlich beide Schächte – erst der vertikale und dann auch der schräg verlaufende – nach mehrfachen Wassereinbrüchen zusammen, wodurch die Fundstätten dann endgültig verdorben wurden.

Später, nachdem man etwas genauerer Daten vorliegen hatte, wurde ein kapitales Salzbergwerk geplant.

Nehmen wir an, dass wir 100 Tausend Tonnen Salz fördern werden.
Um diese 100 Tonnen während der schiffbaren Zeit, also innerhalb von 25-30 Tagen, abfahren zu können, würde man 25-30 Dampfer benötigen. Ihre Beladung würde 45 und mehr Tage in Anspruch nehmen. Wie man sieht, ist das nicht realisierbar, und die Gigantomanie, die als Grundlage für die Entwicklung des Nordwiker Knotenpunktes angenommen wurde, ist schädlich, gefährlich und nicht umsetzbar; auch muss man hinzufügen, dass man zum Geleit all dieser salzbeladenen Schiffe bis nach Kamtschatka die gesamte Eisbrecherflotte der GUSMP benötigen würde, was ebenfalls außerhalb jeder Realität liegt“.

Der Leiter der politischen Abteilung wäre nicht Mitglied der WKP (B) gewesen, wenn seine Vorschläge sich in einem Witz niedergeschlagen hätten.

- Es beginnt eine neue Etappe beim Aufbau des Sozialismus.

- Welche denn?

- Eine Etappe eben (hier ist das Wort im Sinne eines Gefangenen-Transports gemeint; Anm. d. Übers.)! Aufstellung nehmen!

Ich zitiere weiter:

„1. Die Förderung der Nordwiker Vorkommen kann und muss man geschehen, aber in Anbetracht des noch ungelösten Problems bezüglich des Abtransports des Salzes an die Orte, an denen es benötigt wird, und im Hinblick auf die teuren Arbeitskräfte sowie einen gewissen Effekt, den die großen Kapitaleinlagen ausüben, sind diese Kapitaleinlagen zu limitieren, indem sie auf ein Minimum gekürzt werden.

2. Der Aufbau und die Ausbeutung des Salzstocks ist dem Norilsker Kombinat zu übertragen, mit der Maßgabe, an dieser Stelle ein Gefangenen-Lager zu schaffen, um die Häftlinge aus billigste Arbeitskräfte für alle Arbeiten zu nutzen, die mit der Einrichtung des Nordwiker Komplexes und seiner weiteren Ausbeutung zusammenhängen, und diese Aufgaben aus dem Kompetenzbereich der GUSMP zu entfernen“.

Aus den Materialien des Dudinsker Archivs sowie des Archivs der Partei ist bekannt, dass es in Nordwik neben den genannten Bodenschätzen auch Ressourcen für die Gewinnung von Chlor und kaustischem Soda gab. Aber was dort dabei herauskam, ist bislang unklar.

In den vorhandenen Kohlegruben wurde Kohle gefördert, welche aufgrund ihrer Qualität zur Gruppe der Halbgesteine gehört und sich durch einen hohen Gehalt an Feuchtigkeit und Asche auszeichnet. Und abgebaut wurde sie in kleinen Schachtanlagen lediglich für den lokalen Bedarf.

Das Land erhielt weder Salz noch Kohle. Es wurde beschlossen, alle Bemühungen auf die Förderung von Erdöl zu konzentrieren. Man sammelte geologisches Material, welches den Hinweis darauf gab, dass sich die Erdölvorkommen vom Nordwiker Bezirk bis an die Ufer der Lena erstreckten.

Aber dann wurden auch diese Arbeiten eingestellt. In Tigjan sahen wir mehrere Häuser auf der Seite liegen – so hatten die Arbeiter gegen die Schließung der Nordwiker Erdölerkundungsexpedition protestiert, indem sie einfach die Häuser zum Einsturz brachten.

Unsere Expedition fand in diesen Häusern durchnässte Fetzen der Zeitung „Für bolschewistisches Tempo“, die vom Organ der politischen Abteilung der GUSMP herausgebracht worden war …

Der Konvoi ist bereit,
Die Zuteilung geht weiter.
Auf Arbeitskräfte warten
Nordwik und Magadan.
Ich wünsche mir Erfolg bei meiner Flucht,
Dass Hund und Nagan mich nicht einholen.
Und dass sie es den Freunden gestatten,
Meine Leiche unter der nummerierten Wattejacke
Dem Erdboden zu übergeben…..

Der Autor dieser Zeilen ist der Poet Wladimir Bolochow, der aller Wahrscheinlichkeit nach ein ehemaliger Häftling war. Sein „Feierlicher Abschied“ wurde in einer Broschüre veröffentlicht, welche über die Ausstellung „Worüber Nordwik schweigt….“ berichtet, die im Jahre 1991 organisiert wurde – vom Museum für die Geschichte er Erschließung und Entwicklung des Norilsker Industriegebiets.

 


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