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Zwischen Hammer und Amboß



Stalins Repressionsregime brach unmittelbar vor dem Krieg gegen das faschistische Deutschland mit ganzer Macht über das eigene Volk herein. Die nächtlichen Massen-Verhaftungen vollkommen unschuldiger Menschen erreichten ab Oktober 1937 bis November 1938 ein ungeheures Ausmaß. Von den Verhaftungen betroffen waren Militärspezialisten und Wissenschaftler, Bauern und Arbeiter, Mitarbeiter der Sowjets und der Partei, Lehrkräfte, Ärzte, Mitarbeiter aus den Bereichen Kunst und Kultur. Die Festgenommenen verschwanden spurlos, es gab keinerlei Briefwechsel. Die Angehörigen wussten nicht, weshalb man den Vater, Bruder oder Großvater fortgeholt hatte. Die Jahrzehnte vergingen, Menschen schrieben Beschwerdebriefe an Stalin, Woroschilow, Kalinin, Berija und andere hochgestellte Persönlichkeiten, aber sie erhielten keine Antwort. Der seelisch-moralische Druck lastete schwer auf den Menschen. Um ein Zweifaches und Dreifaches schwieriger war es für die Mütter, an deren Rockzipfeln drei, vier oder sogar noch mehr minderjährige Kinder hingen, denn es gab keinerlei Hilfe vom Staat, weil es sich um Kinder von „Volksfeinden“ handelt! Die Verfolgungen wurden erst mit Stalins Tod eingestellt. Und niemand hatte es eilig, die verlogenen Anklagen wegen konterrevolutionärer Aktivitäten, die man aus den Verhafteten herausgeprügelt hatte, sowie das schmachvolle Etikett „Familie eines Volksfeindes“ von ihnen zu nehmen. Die Kinder wuchsen ohne Väter auf, aber auch ihnen legte man alle nur erdenklichen Hindernisse in den Weg. Solchen Kindern war der Weg in einzelne Lehreinrichtungen verwehrt, sie bekamen keinen Zugang zu bestimmten Berufsgruppen und mussten auch noch zahlreiche andere Einschränkungen hinnehmen. Erst nach Stalins Tod und während der Tauwetter-Periode unter Chruschtschow wurde das unheilvolle Geheimnis der Repressionen der 1930er bis 1950er Jahre allmählich enthüllt.

Alle, die am Repressionsapparat beteiligt waren, zimmerten gegenüber den Verhafteten erlogene Anklageschriften zusammen, schrieben ihnen die Mitgliedschaft in überhaupt nicht existierenden Banden, konterrevolutionären Organisationen, Zusammenkünften zu und behaupteten, sie hätten an Handlungen teilgenommen, die auf den bewaffneten Sturz der Sowjetmacht gerichtet gewesen wären. Die Ermittlungsrichter bekamen im Verlauf der Verhöre von den Inhaftierten auf alle nur erdenkliche Art und Weise Geständnisse über Verleumdungen gegen leitende Parteifunktionäre und Regierungsmitglieder, die Lobpreisung faschistischer Regime, Einschmeichelungen vor dem rechtstrotzkistischen Block usw. heraus.
W.G. Sirotinin, Mitglied der regionalen „Memorial“-Organisation, schreibt in seinen Forschungsarbeiten, dass sich für die damalige Zeit in einer fast unglaublichen Weise der Fall des Gehilfen des Leiters des Wärmekraftwerks beim Lokomotiven-Reparaturwerk – W.A. Polonkin – zusammenfügte. Am 3. Oktober 1936 brach im Kraftwerk ein Feuer aus. Wladimir Aleksandrowitsch Polonkin war in der Nähe der Fabrik zu Besuch. Ohne sich etwas überzuziehen rannte er zum Werk, wo er dann auch festgenommen wurde. Anfang Februar 1937 wurde er vom Militärgericht der Krasnojarsker Eisenbahn wegen Schädlingstätigkeit und antisowjetischer Agitation verurteilt. Am 27. Februar 1937 verstarb er im Gefängnis. Den Angehörigen gelang es eine Erlaubnis für die Herausgabe der Leiche zu erhalten, aber es wurde ihnen verboten den Sarg zu öffnen. Dennoch öffneten sie den Sarg zuhause. Die Mutter erkannte ihren Sohn nur mit Mühe aufgrund eines Muttermals – der ganze Körper war übersät mit Prügel- und Folter-Spuren. Bald darauf wurde Wladimirs Vater verhaftet – Aleksandr Stepanowitsch Polonkin, Wirtschafter der Planungsabteilung des Lokomotiven-Reparaturwerks. Er starb am 21. November 1937 während des Ermittlungsverfahrens.

In Erfüllung des politischen Auftrags des Politbüros des ZK der WKP (B) und Stalins persönlich bezichtigten die Untersuchungsrichter vor Ort rücksichtslos und völlig zu Unrecht die Verhafteten, verfassten Verhör-Protokolle ganz nach ihrem Belieben, gaben das Gewünschte als Tatsache an und zwangen dabei die Gefangenen durch Foltern die ihnen gegenüber behaupteten Lügen zu unterschreiben. Vor uns liegt die „Akte des Minusinsker NKWD-Sektors“ mit der Nr. 16495 – Todesstrafe für Kusma Iwanowitsch Arljapow, geboren 1903, der als Bäcker bei der Usinsker Dorfkonsum-Gemeinschaft im Bezirk Jermakowo. Er wurde von den NKWD-Organen am 9. Mai 1938 verhaftet. Man beschuldigte ihn, „seit Mai 1937 Mitglied einer konterrevolutionären, aufständischen Kulaken-Gruppierung gewesen zu sein, an Zusammenkünften teilgenommen zu haben, auf denen praktische Fragen konterrevolutionärer, aufständischer Aktivitäten erörtert wurden, unter den freien Goldsuchern der Usinsker Goldgrube Agitation betrieben, die Leiter der WKP (B) und der Sowjetmacht verleumdet und den faschistischen Aufbau sowie die Volksfeinde Bucharin, Rykow lobgepriesen zu haben. Außerdem klagte man ihn an, minderwertiges Brot gebacken zu haben, in dem man alte Lappen und Abfälle gefunden hätte. Damit hätte er beabsichtigt, unter der Bevölkerung gegenüber der Sowjetmacht Unzufriedenheit hervorzurufen. Er gestand. Man hält ihn im Minusinsker Gefängnis fest. Der Sekretär der Troika – Potapow“. Anordnung der Troika der NKWD-Behörde vom 27. Mai 1938: „K.I. Arljapow ist zu erschießen, der ihm persönlich gehörende Besitz zu konfiszieren“. Alles ist also ganz einfach – gibt es keinen Menschen, dann gibt es auch kein Problem. Seine Ehefrau, Warwara Andrejewna Arljapowa wurde mit 35 Jahren Witwe und blieb mit drei kleinen Söhnen am Rockzipfel und dem Etikett „Ehefrau eines Volksfeindes“ zurück. Der Ermittlungsrichter wusste, dass die Goldsucher fast hundert Kilometer von Usinsk entfernt wohnten, wohin keine Straße führte, sondern nur Bergpfade und eine Winterstraße über den Fluss Us sowie das Flüsschen Solotaja. Hätte Arljapow denn wirklich dorthin laufen und die Arbeiter der Goldgrube gegen die Sowjetmacht aufwiegeln können? Natürlich nicht. Und im Verhörprotokoll gibt es auch keine Zeugen, keine konkreten Dokumente und Akten über irgendeine aufständische Organisation, zu der Arljapow als aktives Mitglied hätte gehört haben können. Diese ganze absurde Lüge wurde als Wahrheit ausgegeben, die Arljapow angeblich gestanden hatte.

Vor uns befindet sich eine weitere Akte des Minusinsker NKWD-Sektors mit der N° 16652. Von einer Troika des NKWD der Region Krasnojarsk wurden mit Protokoll N° 467 vom 27. Mai 1938 zum Tod durch Erschießen verurteilt: I.W. Spirin, geb. 1893, F.S. Spirin, geb. 1901, J.S. Sorin, geb. 1899, P.A. Kucharenko, geb. 1902. Nach Ansicht des Ermittlungsrichters, Leutnant Kotschergin, der die aufgeführten Verhafteten verhörte, wurde unter der Leitung von I.“. Spirin eine Gruppe ins Leben gerufen, die zu einer konterrevolutionären, aufständischen Organisation mit rechtstrotzkistischer Tendenz gehörte, welche auf dem Territorium des Bezirks agierte. Kotschergin wusste, dass er lügt, dass es keine Organisation gegen die Sowjetmacht gab – aber der Erschießungsbefehl musste um jeden Preis ausgeführt werden, um seine eigene Haut zu retten – durch den Preis des Lebens der Verhafteten und mittels seiner Zuführung der Erschossenen an das Minusinsker Gefängnis im Mai 1938. Der Ermittlungsrichter konnte offensichtlich nachts nicht schlafen, weil er am Inhalt der Verhörprotokolle der Festgenommenen herumzauberte. Kotschergin, der den Fragebogen bezüglich des Verhafteten J.S. Sorin ohne jegliche Überprüfung ausfüllte, schreibt, dass er ein Kulak (Großbauer; Anm. d. Übers.) und Ausbeuter sei, dass man ihm die Wahlrechte entzogen hätte und er Mitglied einer Organisation von Volksfeinden se- usw. Nach Auskunft des Dorfrats war R.S. Sorins Haushalt (Foto 4) von ärmlicher Natur, er gehörte selber zu den Arbeitern und beutete niemanden aus, auch hätte man ihm nie die Wahlrechte entzogen. Solche Art von Lügen wurden also über den Köpfen der Verhafteten zurecht gezimmert, denen die Untersuchungsrichter falsche Bezichtigungen nach § 58 „a“ des Strafgesetzes der RSFSR unterschoben, für die die Todesstrafe vorgesehen war. Wie der Ermittlungsrichter weiter schrieb, hatte sich die gesamte Gruppe aus vier Männern an der Ausführung von Verbrechen (die sie gar nicht hatten ausführen können) schuldig bekannt. Die Angeklagten wurden ohne Sanktionen des Staatsanwalts festgenommen und ohne dass bei der NKWD-Verwaltung der Region Krasnojarsk irgendwelche Angaben über ihre antisowjetischen Tätigkeiten vorlagen. Die Anklageschrift basierte einzig und allein auf den Aussagen der Angeklagten, die selber eine Schuldanerkenntnis ihrer Taten abgelegt hatten. Die Aussagen beinhalten keinerlei konkrete Fakten über antisowjetische Handlungen. Im vorläufigen Ermittlungsverfahren wurden diese Aussagen nicht überprüft und durch andere Beweise bekräftigt.

So gestand der Angeklagte Spirin während des einzigen Verhörs vom 8. Mai 1938, ohne dass ihm eine konkrete Anklageschrift vorgelegt wurde, dass er in der Siedlung Ust-Usa eine konterrevolutionäre aufständische Organisation gegründet hätte. Weiter sagte Spirin aus, dass die von ihm geschaffene Organisation aus vier Personen bestand, zu denen auch die von ihm angeworbenen F.S. Spirin, J.S. Sorin und P.A. Kucharenko gehörten. Es ist nicht konkret festzustellen wann genau, unter welchen Umständen und unter wem konkret die Mitglieder der Organisation antisowjetische Agitation betrieben, welche praktischen Maßnahmen sie zur Realisierung ihres verbrecherischen Plans in Bewegung setzten – das alles ist aus den Zeugenaussagen der Angeklagten unmöglich festzustellen. Aus dem Fall ist ersichtlich, dass alle Angeklagten Leute waren, die nicht lesen und schreiben und nur mit Mühe ihre Unterschriften unter das Protokoll setzen konnten. Die in ihrem Namen in den Protokollen gemachten Aussagen waren in der Sprache eines gebildeten Menschen niedergeschrieben. In der Akte gibt es keinerlei objektive Beweise, welche die Schuld der Angeklagten an den begangenen Verbrechen bestätigen, eine Überprüfung des Falls hat praktisch nicht stattgefunden. Das nicht objektive, ambitiöse Herangehen an die Voruntersuchung im Jahre 1938 gibt allen Grund, an der Existenz der genannten konterrevolutionären Organisation zu zweifeln. Das Präsidium des Krasnojarsker Regionsgerichts erklärte mit seiner Anordnung vom 14. Mai 1966 die Anordnung der Troika der NKWD-Behörde in der Region Krasnojarsk vom 27. Mai 1938 für ungültig und verlangte den Fall in Sachen Iwan Wasiljewitsch Spirin, Fjodor Senjonowitsch Spirin, Jakow Saweljewitsch Sorin und Pawel Andrijanowitsch Kucharenko aus Mangel an Tatbeständen zu schließen. Vorsitzender Rudnjew. Alle wurden posthum rehabilitiert.

Heute ist es gelungen, die Vor- und Nachnamen von mehr als dreihundert Personen im Bezirk zu ermitteln, die aufgrund erlogener Anklageschriften in den 1930er bis 1950er Jahren aufgrund politischer Motive erschossen wurden. Die Verhörprotokolle ähneln einander wie zwei Tropfen Wasser. Allen wird die Mitgliedschaft in konterrevolutionären, aufständischen Organisationen zur Last gelegt. Das spiet sich in einer Zeit ab, in der es noch nicht überall Rundfunk und Elektrizität gab, die Mehrheit der Bevölkerung kaum lesen und schreiben konnte, man keine Zeitungen las und die Verhafteten derartige Ausdrücke und Redewendungen mit politischer Richtung überhaupt nicht kannten oder kennen konnten. Jeder dritte Bewohner unseres Bezirks war politisch motivierten Repressionen ausgesetzt, das sind mehr als zehntausend Menschen. Das menschliche Gedächtnis bewahrt die Namen derer, die unschuldig unter die Axt des Stalin-Regimes gerieten.

I. Sorin

Schmerz und Erinnerung. Gewidmet den Opfern der politischen Repressionen der 1930er bis 1950er Jahre im Jermakowsker Bezirk


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