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Die Kindheit verlief nicht friedlich und ungestört

Tamara Aleksandrowna Damkewitsch wurde in der Ortschaft Schalagino, Bezrk Karatus, in die Familie des Sonderumsiedlers Alexander Genrichowitsch Friedrich, einem Deutschen, hineingeboren. Ihre Mutter, Uljana Jegorowna war Russin, aber nachdem sie den Verbannten geheiratet hatte, teilte sie sein Schicksal vollständig. Und das taten auch ihre Kinder – Tamara sowie ihre beiden Brüder Sascha und Wolodja.

Von der Wolga – nach Sibirien

Der Vater, Alexander Genrichowitsch war aus der Ortschaft Warenburg im Bezirk Kukkus, Gebiet Saratow, gebürtig. Geboren wurde er in einer gewöhnlichen Bauernfamilie, in der elf Kinder aufwuchsen. Alle zeichneten sich durch großen Fleiß und geschickte Hände aus. Großvater Heinrich verrichtete Sattler-Arbeiten, konnte schmieden und schlachtete auch auf Bitten der Dorfnachbarn Vieh. All das Wissen gab er an seine Söhne weiter, unter ihnen auch Alexander. Sie lebten in Armut, litten mitunter auch Hunger, und es kam sogar vor, das sie Ziesel-Mäuse aßen.

1941, als der Krieg gerade erst begonnen hatte, wurden alle Deutschen von der Wolga deportiert. Das geschah in grober und grausamer Weise. So wurde der Familie Friedrich befohlen, sich innerhalb von 24 Stunden fertig zu machen und mit ihren persönlichen Sachen an der Anlegestelle zu erscheinen. Verständlich, dass sie nur das mitnahmen, was sie mit den Händen tragen konnten. Zu der Zeit lebten sie in einem baufälligen Haus und hatten gerade erst ein neues Haus für sich fertiggestellt; doch sie schafften es nicht mehr, dorthin umzuziehen, denn die Fußböden waren noch ganz frisch gestrichen. So mussten sie dieses Haus, das Vieh und alles, was sie sich in vielen Jahren angeschafft hatten, zurücklassen. Nur mit Bündeln beladen und mit ihren Kindern machten sie sich auf ins Ungewisse. Als das Schiff vom Ufer ablegte, hörten sie, wie das im Stich gelassene Vieh brüllte. Dieses jammervollen Töne zerrissen ihnen noch lange das Herz.

Die große Familie Friedrich großväterlicherseits wurde in verschiedene Regionen verstreut: in das Gebiet Omsk, die Region Nowosibirsk, in die Gegend um Alma-Ata… Alexander Friedrich, Tamaras Vater, geriet mit seinen Eltern in die Region Krasnojarsk, in die Ortschaft Schalagino, Bezirk Karatus.. Später suchte er jahrelang nach seinen Brüdern und Onkeln. Und er fand sie, obwohl nicht alle aus der Trud-Armee zurückkehrten: manch einer hatte dort mit seinem Leben bezahlt. Als sie sich wiedersahen, weinten sie vor Glück darüber, dass sie einander ausfindig gemacht hatten. Als die Sowjetunion zerfiel, reisten alle Verwandten des Vaters nach Deutschland aus, nur er blieb mit seiner Familie im Bezirk Karatus.

In der Verbannung

Nachdem die deutschen Sonderumsiedler nach Schalygino gebracht worden waren, wohnten sie die erste Zeit in Erd-Hütten. Später brachte man sie in irgendwelchen Holzhütten unter, in denen sie zusammengepfercht miteinander hausten. Einige Zeit später lernte Alexander in Karatus das Mädchen Uljana kennen. Die beiden heirateten, und Alexander zog aus dem Haus der alten Friedrichs aus. In der jungen Familie wurden drei Töchter geboren.

An welche Einzelheiten aus ihrer Kindheit kann Tamara sich noch erinnern? Sie hat noch gut die Baracke in Erinnerung in der sie lebten. Sie war für vier Familien gedacht. Die Wohnung selbst bestand aus zwei nicht sehr großen Zimmern, wo sie mit fünf Personen (zwei Erwachsenen und drei Kindern) hausten. Einmal wurden bei ihnen, trotz der bereits herrschenden Enge, politische Verbannte untergebracht. Und der Vater wurde vorher noch nicht einmal gefragt. Sie bringen sie einfach her und sagen: „Saschka, die wohnen ab jetzt bei dir!“ Und basta.

Und so lastete mal dieser, mal jener Verbannte auf ihren Schultern. Mancher blieb fünf Jahre bei ihnen, andere – länger… Tamara erinnert sich, dass einer von ihnen sehr viel las und die ganze Zeit schrieb. Offensichtlich war er ein gebildeter Mensch. Und scheinbar hatte er eine Familie. Wie ein Heiligtum hütete er ein Kinderspielzeug – eine kleine Ziege. Spielsachen gab es in der damaligen Zeit praktisch überhaupt nicht, so dass Tamara diese Ziege immer wieder anschaute. Während der Dauer-Mitbewohner auf dem Viehhof arbeitete, nimmt sie sie, spielt damit und legt sie wieder an ihren Platz zurück. Als der Mann abreiste, bat die Mutter ihn: „Gib dem Kind doch das Spielzeug“. Er erwiderte: „Das kann ich nicht, es ist für mich eine wertvolle Erinnerung“.

Tamara Alexandrowna erinnert sich auch noch daran, wie der Vater von Zeit zu Zeit die von der Mutter gebügelte Hose und ein sauberes Hemd anzog, sich zurechtmachte und dann in die Bezirksstadt fuhr. Wozu er das tat, wussten die Kinder nicht, aber sie erwarteten ihn immer ungeduldig zurück, denn der Papa brachte ihnen stets Fruchtbonbons in runden Blechschächtelchen mit. Der Zweck seiner Fahrt war, sich in der Kommandantur zu melden.

In der kindlichen Erinnerung sind die ständigen Kontrollen haften geblieben. Sie kamen, schauten sich rücksichtslos in der Scheune um, zählten nach, wieviel Kleinvieh die Verbannten hielten. Es war vorgesehen, dass sie lediglich eine Kuh und ein Kalb besitzen durften, außerdem zwei Schweine. Beim Schlachten der Tiere musste das Fell auf jeden Fall an den Staat abgegeben werden. Der Vater fürchtete diese Überprüfungen sehr, sie machten ihm schwer zu schaffen; vor lauter Angst zitterten sogar seine Hände. An diesem Zittern litt er ein Leben lang.

Der Vater konnte laut Auskunft der Tochter nur wenig lesen und schreiben, war aber ein kluger und guter Mensch und mit seinen Händen ein Alleskönner. Und alles tat er für die Leute ganz uneigennützig – einfach nur, um ihnen zu helfen. Mal drehte er für sie ein Seil, mal fertigte er Ketten oder einen Korb an – alles, was im Haushalt hilfreich sein konnte. Einen Mann mit derart gutem Herzen musste man erst einmal suchen. Im Dorf wurde er hoch geachtet. Sie sprachen dort nur von „Onkel Sascha“. Bis zu seinem Tode half er anderen Menschen. Wer auch immer kam und darum bat, ihm Geld zu borgen, dem gab er etwas, obwohl er selber nur über eine kleine Rente verfügte. Die Mutter macht ihm Vorwürfe: „Was gibst du denn das Letzte, was du hast, anderen Leuten?“ Und er antwortet: „ Sie tun mir so leid, sie haben doch Kinder. Du brauchst keine Sorge haben, sie zahlen das zurück“.

So lange er lebte vernahm niemand auch nur ein grobes Wort oder Geschrei von ihm. Stets lächelte er, machte einen Scherz, lachte. Nie frönte er dem Alkohol, wie viele andere im Dorf. Es war eine ganz besondere Kultur, die in den Genen, in den Traditionen des deutschen Volkes lag. Den Kindern brachten sie zum Beispiel nicht nur bei, morgens ihre Betten zu richten, sondern dies auch ganz akkurat zu tun. So genau, als wäre es mit einem Lineal gemacht worden. Bei der Kleidung zählte Sauberkeit (es gibt noch Fotos, auf denen Alexander Genrichownas Schwestern in Kleidern mit weißen Kragen dastehen). Obwohl sie ärmlich lebten und nur Blechschüsseln besaßen, mussten die Kinder nie aus einer gemeinsamen Schale essen – vor jedem stand ein eigenes Schüsselchen. Vor dem Essen Händewaschen – das war ein heiliges Gesetz für alle.

Tamara ähnelte ihrem Vater, von ihm hatte sie die großen, schönen Augen, die mit keinen anderen vergleichbar waren. „Einmal, - erzählt Tamara Alexandrowna, - als ich Studentin war, fuhr ich mit dem Zug aus Minussinsk nach Hause. Mit mir im Abteil reisten noch zwei Frauen. Sie starrten mich lange Zeit aufmerksam an, dann fragten sie: „Bist du eine Friedrich?“ „Ja. Aber woher wissen Sie das?“ „Du hast Saschkins Augen!“ So waren sie völlig unerwartet ihren Verwandten begegnet. „In Großvaters Geschlecht hatten alle große, runde Augen, - sagt sie. – Auch ich habe diese Augen an meine beiden Kinder weitergegeben“.

Sie waren nicht wie alle

Die Kindheit Tamaras und ihrer Brüder verlief nicht so sorglos, wie die der anderen Kinder im Dorf. Bruder Sascha wurde von den anderen Kindern „Faschist“ genannt, und es kam vor, dass sie mit Steinen nach ihm warfen. Weswegen? Diese Ungerechtigkeit und Grausamkeit hinterließ eine schlimme Spur in seiner Seele. Der Junge war äußerst verwundbar, aufbrausend, er litt lange an den ihm zugefügten Kränkungen.

Tamara selbst beschloss, obwohl sie gut lernte und an allen schulischen Belangen mitwirkte, nicht dem Komsomol beizutreten; sie fürchtete die Fragen, die man ihr bei der Aufnahme stellen würde, hatte Angst bloßgestellt, verletzt zu werden… Nicht vergessen kann sie auch die Reaktion der Altersgenossen auf ihre Erfolge. Tamara träumte, seit sie auf der Schulbank saß, einmal Grundschullehrerin zu werden. Ihre erste Lehrerin wusste von diesem Wunsch. Sie schätzte das Mädchen wegen seiner Fähigkeiten, seines Fleißes und seiner Zielstrebigkeit. Oft gab sie ihr, der Viertklässlerin, die Hefte der Schüler und sagte: „“Korrigiere du zuerst die Hausaufgaben und schreibe deine Bewertungen mit einem einfachen Bleistift, und danach werde ich die Hefte durchsehen“. Das war etwas ganz Besonderes! Doch einige Klassenkameradinnen beschimpften sie voller Hass als Schleimerin und bedachten sie auch mit anderen kränkenden Worten.

Aber sie wurde trotzdem, wie sie es immer gewollt hatte, Pädagogin. Sie absolvierte die Minussinsker Fachschule für Pädagogik mit dem Spezialgebiet „Grundschullehrerin“. Übrigens lernte sie i dieser Stadt ihren zukünftigen Mann kennen, der Agronomie studierte. Per Zuweisung wurde der Mann anschließend nach Kansk abberufen; beide begaben sich dorthin. Und 13 Jahre später warb ein Freund, mit dem er zusammen studiert hatte, ihn in den Jermakowsker Bezirk ab. 1985 trafen sie dort ein. Ihr Ehemann arbeitete seiner Ausbildung entsprechend in der Kolchose. Tamara Alexandrowna kann aus Mangel an freien Stellen keine Arbeit an der Schule finden; sie beginnt als Erzieherin im Kinderheim zu arbeiten, wo sie 25 Jahre blieb – nicht mehr und nicht weniger.

Die Eheleute Daschkewitsch haben drei Söhne – Sascha, Sergej und Wladimir, sowie vier Enkelkinder von den ältesten Söhnen. Der jüngste Sohn durchläuft gerade eine Aspirantur an der Föderalen Universität in Krasnojarsk.
Larissa Golub


Die Familie Friedrich vor der Ausweisung


Alexander Genrichowitsch und Uljana Jegorowna Friedrich


A.G. Friedrich – als Arbeiter in der Kolchose


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