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Ich zähle mich nicht zu den Repressionsopfern

Einwohnerin der Siedlung Oiskij im Jermakowsker Bezirk, Rosa Filippowna Konstantinowa wurde 1940 in der Ortschaft Nikolajewka in einer deutschen Familie geboren. Sie wurde als Opfer der politischen Repressionen anerkannt.

Meine Großmutter erinnere ich seit frühester Kindheit, aber ich habe nie etwas über ihr vergangenes Leben erfahren. Ich habe sie nicht danach gefragt, und sie hat auch nichts Besonderes dazu erzählt. Es ergab sich durch Zufall, dass ich mehr erfuhr. Warum auch nicht? Bei einem Tässchen Pfefferminztee kam die Großmama Wort für Wort zum Sprechen.

- Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr lebte ich mit meinen älteren Geschwistern im Dorf Nikolajewka, - begann die Großmutter. – Als ich zwanzig war fuhr ich zur Schtschetinkina-Sowchose; heute ist das die Siedlung Iiskij. Dort arbeitete ich als Buchhalterin. Mit der Zeit lebte ich mich dort ein. Ich bekam meine eigene Familie, Kinder wurden geboren: Tochter Larissa und zwei Söhne – Viktor und Gennadij. Ehemann Jurij arbeitete viele Jahre als Mähdrescherfahrer in der Sowchose. Da Leben nahm seinen Gang: die Kinder wuchsen heran, wir arbeiteten.

- Aber ging es denn im Leben immer so ruhig zu? – fragte ich.

- Oh, alles Mögliche ereignete sich! – erwiderte die Großmama. – Deinen Großvater (Jurij) steckten sie ins Gefängnis. Es ereignete sich ein Unglücksfall. Sie gaben ihm eine lange Haftstrafe – acht Jahre. Ich konnte nirgends hin, und so blieb ich mit den drei Kindern am Rockzipfel allein. Die Kindchen waren selbständig und halfen immer. Nur ihretwegen habe ich gelebt. Schwer war es ohne männliche Stütze. Kaum wurde es am Morgen hell, da hieß es auch schon aufstehen: alle mussten ihr Essen, ihr Futter bekommen, die Kühe getränkt, den Kindern das Frühstück zubereitet und sie in die Schule gebracht werden. Und ich hatte eine Arbeit, bei der man immer gut angezogen aussehen musste. Innerhalb weniger Minuten brachte ich es fertig, mich in Ordnung zu bringen und loszulaufen. Und so ging es Tag für Tag – immer dasselbe.

- Großmama, ich habe deinen Nachnamen auf der Rehabilitierten-Liste des Jermakowsker Bezirks gesehen, erzähl‘ davon.

- Ich weiß nur, dass das mit meinem Vater zusammenhing. Der Große Vaterländische Krieg war im Gange, aber man erlaubte den Sowjet-Deutschen nicht, daran teilzunehmen; sie galten als Volksfeinde. Viele Männer deutscher Nationalität wurden damals in die Verbannung geschickt. Mein Vater geriet auch in ihre Reihen. Die übrigen wurden in deutschen Siedlungen organisiert und getrennt von den anderen angesiedelt. Unsere Familie kam in das Dorf Nikolajewka im Jermakowsker Bezirk. Und so lebten sie alle in der Siedlung, wobei jeder dem anderen half.

Damals war ich ganz klein, und ich kann mich nur erinnern, dass wir schrecklichen Hunger hatten, aber wir überlebten, weil wir alle zusammenhielten. Es war nicht einfach, aber trotz aller Erschwernisse, zähle ich mich nicht zu den Repressionsopfern. Mit der Zeit erlaubte man den Schwestern nach Deutschland auszureisen; lebend habe ich sie danach nicht wieder gesehen. Der Bruder blieb hier. Jetzt hat jeder seine eigene Familie, sein eigenes Leben, die Kinder sind erwachsen geworden, die Enkel sind schon herangewachsen. An die Zeitz erinnern wir uns nicht mehr.

Da Wichtigste ist, den Mut nicht sinken zu lassen, wenn es einmal eine schwierige Situation gibt – alles kann vorkommen. Aber trotz aller Schwierigkeiten muss man weiterleben. Und gerade schwierige Situationen und Schicksalsherausforderungen machen uns stärker, weil sie einen dazu zwingen, alle Werte des Lebens zu erkennen und zu fühlen.

Viktoria Konstantinowa,
Schülerin der 11. Klasse an der Oisker Mittelschule


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