Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Русский

Alexander Alexandrowitsch Gajewskij

Das Leben neigt sich seinem Ende zu. Und da kam schließlich die Zeit, von der man nach all dem Durchlebten nur träumen konnte. Man darf die Erinnerungen an sein Leben und an das, was man durchgemacht hat, nicht in seinem Inneren verbergen.

Meiner Meinung nach ist das sehr wichtig, weil erstens die wahre Geschichte jener Zeiten noch nicht geschrieben worden ist – das steht ihr erst noch bevor. Und alles, was in den Jahren der Willkür und des Stillstandes, den Jahren, welche zum moralischen Verfall der Gesellschaft geführt haben, geschrieben wurde, ist Lug und Trug, absichtliche Verfälschung der Wirklichkeit und Lobpreisung von scheinbar „genialen Führern“, die die Macht in ihre schmutzigen, durch das Blut von Millionen Menschen purpurrot gefärbten Hände, gerissen hatten. Das war „unvermeidbar“ für die Sicherstellung ihrer schwindelerregenden Karriere und den Erhalt unverdienter Ehren gewesen.

Zum zweiten werden die noch lebenden Zeugen und Teilnehmer an jenen Ereignissen immer weniger, und bald wird es gar keine mehr geben. Die Geschichte ist lediglich auf Grundlage von Archiv-Dokumenten geschrieben worden, sie kann nicht vollständig sein, denn es wurden bei weitem nicht alle Orte von Geschehnissen und Fakten dokumentarisch und wahrheits-getreu festgehalten. Zweifellos wurden viele äußerst wichtige Dokumente vorsätzlich besei-tigt. Details und Ausführlichkeiten kann man nur durch die Erinnerung von Zeitgenossen fest-stellen.

Ich bin ein solcher Zeitgenosse und unfreiwilliger Teilnehmer der Ereignisse jener Tage. Leider ist nicht alles in meinem Gedächtnis erhalten geblieben, mit dem ich in meinem Leben aufeinandergeprallt bin, auch nicht alle Namen der Menschen, mit denen ich zusammentraf, hochkulturelle und gebildete, in höchstem Grade fortschrittliche, wahrheitsliebende und anständige.

Wäre ich nicht in den Strudel der Ereignisse der 30-er und 50-er Jahre geraten, - dann hätte ich nicht mit einer solchen Anzahl von Menschen umgehen müssen, die hinsichtlich ihrer Schicksale, Charaktereigenschaften, Überzeugungen und der Art, wie sie sich unter den Bedingungen verhielten, in die sie hineingeraten waren, ganz verschiedenartig waren. Der Umgang mit diesen Leuten hat mir geholfen vieles zu verstehen, zu verarbeiten, zu erkennen und nachzudenken über die Erscheinungen und Geschehnisse, die früher an mir so vorüber-gegangen wären, die mich nicht berührt und kein sonderliches Interesse in mir hervorgerufen hätten.

Ich wurde am 30. August (nach der alten Zeitrechnung) 1910 in der Stadt Kiew in die Familie eines Eisenbahnbeamten hineingeboren. Ich erinnere mich noch an den Schutzmann, die Krä-mer, die Hausbesitzer und verschiedene „Bürgerliche“, die man später „im Schwaren Meer versenkte“.

In dem Kiewer Bezirk, der Petschersk genannt wird, wo ich geboren und aufgewachsen bin, gab es zahlreiche Kirchen und einige Klöster, darunter auch die berühmte Kiew-Petschersker Lawra, mit den sogenannten nahen und fernen Höhlen, wo hauptsächlich Wanderpilger aus ganz Mütterchen Rußland zusammentrafen. Ich erinnere mich an verschiedenartige feierliche und zeremonielle Gottesdienste. Ich weiß noch, wie ich an Sonntagen mit meinen Eltern in die Lawra ging, wo man an die Pilger und alle, die es wünschten, im Speisezimmer große Scheiben von aromatischem Roggenbrot und Brotkwas aus einem Krug verteilte. Nicht weil wir Not litten gingen wir dort hin, sondern weil diese Speisung außergewöhnlich schmackhaft war. In unserem Bezirk gab es auch viele Kasernen, militärische Lehranstalten und Kadetten-korps. Das Haus, in dem wir wohnten, lag in unmittelbarer Nähe der in die Revolutions- geschichte eingegangenen „Arsenal“-Fabrik. Die ersten Schüsse, die ich in meinem Leben hörte, wurden in den Scharmützeln zwischen Arsenal-Arbeitern und Junkern abgegeben. Danach fing alles an sich zu drehen, wie in einem Kaleidoskop, eine Macht löste die andere ab, erbitterte Kämpfe wurden gefochten. Kiew wurde zweimal von den Deutschen besetzt, danach von den Polen, zweimal nahm Denikin die Stadt ein, die Truppen Petljuras, die Hajdamaken mit dem Hetman Skoropadskij an der Spitze, und noch viele andere "Mächte" nahmen Kiew in ihren Besitz. In dieser Zeit mußte man die Bedeutung des Wortes "Grausam-keit" kennenlernen.

An die Gewehr- und Maschinengewehrschüsse sowie die Artillerie-Kanonaden gewöhnten wir uns, ebenso wie an die auf die Straßen geschleppten Leichen. Gefangene wurden nicht genommen, sie wurden erschossen und die Leichen lange Zeit nicht weggeräumt, mit dem Ziel, die Bevölkerung abzuschrecken.

Während der Kämpfe blieb die Bevölkerung in den Kellern sitzen. Wenn ein Feuergefecht zuende war, kamen sie wieder auf die Straße hinaus, aber sie wußten nicht, welche Macht gerade in diesem Moment die Oberhand gewonnen hatte. Es kam vor, daß die Leute, die aus den Kellern kamen, nicht erraten konnten, wer nun das Sagen hatte, und mitunter respektlose Aussagen machten - sie wurden sofort erschossen.

Daher kam aus unserer Familie immer die Großmutter als erste aus dem Keller herauf - sie war eine großartige "Diplomatin", und wenn sie eine Unterhaltung mit den Siegern anknüpfte, dann bezeichnete sie sie weder als Herrschaften noch als Genossen. Sie verwendete einfach Worte wie: Söhnchen, Verwandte. und wenn sie begriffen hatte, um was für Leute es sich bei diesen "Verwandten" handelte, ging sie in den Keller zurück und sagte: ihr könnt rauskom-men, das sind die Petljura-Anhänger.

Die Sowjetmacht faßte in Kiew mit erheblicher Verspätung endgültig Fuß. Deswegen kam ich noch in die Vorbereitungsklasse des Jungen-Gymnasiums Nr. 5, und danach sofort in die dritte Klasse der einzigen 7-Klassen-Schule für Werktätige.

Ich erinnere mich an den Verfall und den Hunger, welche die Intervention und der Bürger-krieg mit sich brachten. Zu unserem Glück litten nur die Menschen in der Stadt Hunger. In den Dörfern gab es genügend Lebensmittel. Die Städter schleppten alles aus ihren Häusern heraus, was sich zum Tausch gegen Nahrungsmittel eignete. Davon lebten sie. Die Währung war damals Salz, was man aus Odessa holte, wobei es eine Menge Hindernisse zu überwinden galt. Häufig nahmen Sperrtrupps das unter so großen Mühen erstandene Salz fort, und man mußte wieder ganz von vorn anfangen.

Das Geld war völlig wertlos. Der Lohn bestand aus Millionen und sogar Milliarden Rubel, für die man nicht mehr als ein paar Schachteln Streichhölzer erwerben konnte. In dieser Zeit wurde für Geld überhaupt nichts verkauft - es gab nur Naturalientausch oder Bezahlung in Form von persönlicher Arbeitsleistung.

Das Volk konnte erst mit der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik und dem Erschei-nen des Zehnrubelscheins aufatmen.

Ich lebte bis 1930 auf Kosten der Eltern in Kiew. Während dieser Zeit beendete ich die 7-Klassen-Schule sowie die Eisenbahnerberufsschule und trat ins Eisenbahner-Technikum ein, das, wie auch andere technische Hochschulen in der Ukraine, Ingenieure mit begrenzten Fachbereichen hervorbrachte. In Zusammenhang mit der Vereinheitlichung der Lehranstalten, versetzte man uns, die Studenten des Eisenbahner-Technikums in Kiew, nach Moskau.

Also - leb wohl, Kiew! Ich wurde Student des 2. Semesters am Moskauer Institut für Verkehrswegs-Ingenieure - und ging dazu über, auf eigene Kosten zu leben.

Aus Mangel an Unterrichtsräumen und besonders an Wohnheimen, wurde ein Zwei-Gruppen-System angewendet. Eine Gruppe befand sich in Moskau und studierte, während die zweite ein Betriebspraktikum durchführte. Nach einem festgelegten Zeitraum wechselten die Grup-pen die Aufenthaltsorte. Das Praktikum war sehr vielseitig - Fahrten auf einer Lokomotive und Arbeiten in einem Lokomotiven-Reparaturwerk, in Metall- und Maschinenbau-Fabriken, in Holzbeschaffungsbetrieben und Sägewerken, in Projektierungs- und Konstruktionsorga-nisationen.

Das Praktikum verbesserte auch ganz erheblich unsere materielle Lage, denn es wurde dafür bezahlt.

Die Unterrichtsmethoden machten "mit dem Ziel der Verbesserung" wesentliche Verände-rungen durch. Die Teilnahme an den Vorlesungen wurde zur Pflicht; selbständiges Arbeiten wurde eingeführt, wobei die Studenten selbständig mit ihren Lehr- und Handbüchern an einem vorgegebenen Thema arbeiteten und sich, wenn es unvermeidbar war, an die im Auditorium befindlichen und sich langweilenden Dozenten und Professoren wenden konnten; es kam die Brigaden-Methode, in der die Kursteilnehmer in Brigaden zu jeweils 4-5 Mann eingeteilt wurden, mit einem Brigadeführer an der Spitze, der dann auch über die erledigten Aufgaben Rechenschaft ablegen mußte. Entsprechend seinen Antworten und der geleisteten Arbeiten wurde allen Mitgliedern der Brigade eine einheitliche Bewertung zuteil.

Diese ganze Experimentierfreudigkeit hatte ihre Auswirkungen auf die Tiefe und Güte des uns vermittelten Wissens.

Wenngleich in den dreißiger Jahren im allgemeinen kein Verständnis für Demokratie vorhanden war, so warfen die Studenten nichtsdestoweniger vor dem Dekanat Fragen zu möglichen Veränderungen bei den Lehrplänen auf - über den teilweisen oder vollständigen Ausschluß der einen oder anderen Disziplin und die Einführung anderer. Diese Fragen wurden in der Regel positiv entschieden.

Mehr noch, die Studenten unserer Fakultät brachten den Vorschlag ein, die Ausbildungszeit auf den 4. Abschlußkurs zu verkürzen, d.h. um sechs Monate - auf Kosten einer Erhöhung der täglichen Lernbelastung. Auch dieser Vorschlag wurde angenommen. Anstatt im Juni 1933 beendeten wir das Institut bereits im Dezember 1932.

So endete die erste Etappe meines Lebens.

Aufgrund der Verteilung durch die Verwaltung für die Ausbildung von Kadern des Ministeriums für Verkehrswesen kam ich 1933 in der Stadt Alma-Ata an, zur Verfügung des Leiters, der gerade erst die Turkestan-Sibirien-Eisenbahnlinie freigegeben hatte; er war einer der Wegbereiter der ersten Fünfjahrespläne.

Am Ende meines ersten Lebensabschnitts sollte ich zuerst mit einer Erscheinung aufeinander-prallen, die den Rahmen meiner Vorstellungskraft über das Leben sprengte, besonders im Vergleich damit, wie es in der offiziellen Propaganda dargestellt wurde. Man machte uns begreiflich, daß die Kulaken, gegen die ein grausamer Kampf geführt wurde, die obersten Feinde der Sowjetmacht seien und unabwendbar vernichtet werden müßten.

Wie ein Kulak in Wirklichkeit aussieht - das wußten wir Stadtkinder natürlich nicht. Und da sollte ich, während des nächsten Betriebspraktikums beim Waldabholzen und in einem Sägewerk im Kreis Archangelsk, einem Entkulakisierten begegnen, sozusagen von Angesicht zu Angesicht.

Der erste Eindruck, der dauerhaft und fest in meinem Gedächtnis verankert ist, entstand bei der Ankunft unserer Gruppe an der Bestimmungsstation, an dem Ort, wo unser Praktikum durchgeführt werden sollte.

Die Bahnhofsräume waren vollgestopft mit sitzenden und liegenden alten Menschen verschiedener Nationalitäten, von Entkräfteten und Hungrigen.

Später wurde klar, daß die Forststationen ihre Übernahme und jegliche lästige Verpflichtung für sie ablehnten, weil sie als Arbeitskräfte nicht von Interesse waren. Automatisch trat die Formel in Kraft "wer nicht arbeitet, braucht auch nicht essen".

Im allgemeinen wurde bei der Übernahme von entkulakisierten Familien eine Aussortierung vorgenommen. Junge Leute und Männer mittleren Alters wurden zu den schwersten Arbeiten geschickt - zum Bäumefällen. Frauen wurden zu leichteren oder Hilfsarbeiten herangezogen, Kinder bildeten die dritte Gruppe, alte Menschen die vierte.

Als Folge dieses Aussortierens wurde die Familie in verschiedene Waldpunkte auseinander-gerissen, die mehrere Kilometer voneinander entfernt lagen. Ich mußte zusehen, wie Mütter oder Väter nach der Arbeit hin und her rannten, um sich miteinander zu treffen oder ihre Kinder und Alten aufzusuchen und ihnen einen Teil ihrer Ration mitzunehmen. Wachen gab es nicht, medizinische Hilfe auch nicht. Du kannst noch so krank werden, aber deine Essensration wirst du nicht bekommen. Die Flucht ergriff niemand - sie wußten, daß man nicht weit kommen würde, und die Familie konnte man ja auch nicht mitnehmen.

Die Leiter der Forststationen, Werksmeister, Berechner, waren Freie - sie lebten in getrennten Baracken. Und wir Praktikanten wohnten mit ihnen zusammen. Gleich bei der Ankunft gab man uns kurze Pelzjacken, Filzstiefel, warme Mützen und Fausthandschuhe, sodaß wir Temperaturen von minus vierzig Grad nicht fürchten brauchten.

Den Entkulakisierten wurde überhaupt nichts gestattet. Ich wurde Zeuge eines Brandes. In der Nacht ging die Baracke der Entkulakisierten vollständig in Flammen auf; es rettete sich, wer konnte. Der Leiter des Waldpunktes, ein alter Kommunist, sagte mir vertrauensvoll, daß er nicht das Recht besaß, den Betroffenen etwas aus dem Vorratslager herauszugeben, obwohl er dies aus menschlichen Gründen sehr gern getan hätte.

Bei unserer Ankunft wurden wir dahingehend gewarnt, daß wir in unseren Gesprächen mit den Entkulakisierten auf keinen Fall anfangen sollten deren Bitten zu erfüllen. Dieses Verbot wurde von uns mit Bedacht mißachtet.

In den Unterhaltungen beklagten sie sich über nichts, wahrscheinlich aus Angst, aber immer stellten sie die Frage: wann werden sie uns nach Hause lassen? Sie lebten nur mit dieser Hoff-nung.

Na, und wir jungen Leute, die gerade ins selbständige Leben getreten waren, gewöhnten uns daran zu begreifen, daß man in den meisten Fällen nicht die Wahrheit sagen darf, daß die Begriffe von Mitleid und Mitgefühl im realen Leben nicht gutgeheißen wurden, daß man auf-tauchende Lebensfragen besser für sich behielt, daß es gefährlich war, sie anderen anzuver-trauen. Dies war meiner Meinung nach die Anfangsphase der moralischen Zersetzung unserer Gesellschaft.

Zu Beginn meiner selbständigen Arbeit in der Eigenschaft als junger Spezialist und Ingenieur mußte ich, in Erfüllung meiner dienstlichen Verpflichtungen, häufig mit der Turksibirschen Eisenbahn fahren. Hier lernte ich mit eigenen Augen kennen, was die Versetzung einer fest verwurzelten Bevölkerung - der Kasachen - vom Nomadentum zur einer seßhaften Lebensweise bedeutet. Ihr Vieh wurde beschlagnahmt und sie selbst mit ihren Familien auf Güterwaggons verfrachtet. Sie wurden an Orte gebracht, die für ihre Daueransiedlung bestimmt waren. Unterwegs flohen sie aus den Gefangenentransporten und liefen auseinan-der, so daß die Züge am Bestimmungsort praktisch leer ankamen.

Geflohen waren sie, aber zu essen hatten sie nichts. Selbst wenn Geld vorhanden war, so gab es doch an den Stationen nichts zu kaufen. Außer den Eisenbahn-Stationen gab es nur endlose Steppe. 1933 war das Jahr, in dem überall Hunger herrschte, diesmal auch auf dem Lande. Die aus den Gefangenen-Transporten Geflüchteten starben vor Hunger. Die Leichen wurden an den Stationen von speziellen Kommandos eingesammelt, von denen es nicht genügend gab, so daß die toten Körper lange Zeit unbestattet in der Hitze lagen.

In bedrückender Weise wurde das unangenehme Bild von "Flüchtlingen" aus den europä-ischen Teilen des Landes vollendet, vor allem von Ukrainern. Im Zusammenhang mit der vollständigen Plünderung der Dörfer hatte dort eine Massenhungersnot eingesezt, aus der die nach der Entkulakisierung am Leben gebliebenen Bauern, nachdem sie ihre Familien und ein paar Habseligkeiten zusammengesammelt hatten, sich aufmachten, um nach einem besseren Leben zu suchen. In den Heimatdörfern bleiben bedeutet den sicheren Hungerstod sterben. Man mußte einen Platz zum Getreideanbau suchen, vielleicht würde es dann gelingen zu überleben. So fuhren sie los und wußten selbst nicht wohin. Irgend jemand hatte gesagt, daß man in Kirgisien Getreide anbauen konnte. Und so machten sie sich auf den Weg dorthin, verloren unterwegs ihre kranken Angehörigen, ebenso wie die, die unterwegs zurückge-blieben waren. Als sie angekommen waren, füllten sie die Stationsräume und die daran angrenzenden Territorien. Nirgends konnten sie leben, Arbeit gab es nicht und zu essen auch nicht. Es gab keine Möglichkeit umzukehren.

Ich denke, daß selbst an den "aller-aller" speziellesten Aufbewahrungsplätzen keinerlei Angaben darüber vorliegen, wieviele Millionen Menschen in diesen Hungerjahren wegen völliger Entkräftung umkamen. Wo sind ihre Gräber?

Die Stadt Alma-Ata, das ehemalige Wernij, verwandelte sich in den dreißiger Jahren in eine Stadt der Verbannten. Es waren Menschen, die, angelockt von Parteigaunern, von der China-Ost- oder anderen Eisenbahnlinien zur Turksib gekommen waren und die den ukrainischen Nationalisten, ehemaligen Sozialrevolutionären, Menschewiken und anderen "feindlichen Elementen" zugeordnet wurden. Der Ausdruck "Volksfeinde" war zur damaligen Zeit noch nicht erfunden worden.

Von uns jungen, "kristallklaren" Spezialisten gab es nur wenige, und wir glaubten aufrichtig daran, daß die anderen, die mit uns arbeiteten, tatsächlich an irgendetwas die Schuld trugen.

Sie waren Fachleute der höchsten Klasse, und wir lernten bei ihnen arbeiten.

Ureinwohner, Kasachen, gab es zu dieser Zeit in Alma-Ata fast keine, sie zogen noch als Nomaden umher. Bis zum Bau der Turksib lebten hier Kasachen aus der Sieben-Flüsse-Region, Uiguren und andere, nicht nomadisierende, kleine Volksgruppen. Das Leben war damals märchenhaft billig, besonders günstig waren Früchte, denn sie zu transportieren war nicht möglich, und es kaufte sie auch niemand; die Ortsbewohner besaßen alle einen eigenen Garten.

Der Prozeß der Besiedlung ihrer Hauptstadt durch die Kasachen, der Stadt Alma-Ata, ging in den ersten Jahren sehr langsam voran. Die vordringlichste Aufgabe eines in die "intelligente Arbeitswelt" hineingeratenen Kasachen war es, sich eine imposante Aktentasche anzuschaf-fen, einen bodenlangen Mantel und eine Hornbrille, unabhängig davon, ob seine Sehkraft gut oder schlecht war.

Ich schreibe darüber nicht, um höhnische Reden zu führen, sondern um zu zeigen, welche titanische Arbeit das kasachische Volk für seinen Werdegang leisten mußte.

Oberste Aufgabe jener Zeit war die Ausbildung qualifizierter nationaler Kader. Im Zusam-menhang damit wurde ein Polytechnikum für Transportwesen bei der Turkestan-Sibirischen Eisenbahn organisiert, welches Techniker aller Fachrichtungen im Eisenbahntransportwesen hervorbrachte. Mir wurde eine Lehrtätigkeit angeboten, und zwar neben meiner Hauptbe-schäftigung in der Verkehrsverwaltung. Später wurde ich ans Polytechnikum versetzt, als festangestellter Lehrer für Sonder-Disziplinen. Die Arbeit war lebendig, interessant und sehr notwendig. Ich widmete ihr meine gesamte freie Junggesellenzeit.

Die Zeit verging, und die Stimmung im Lande und die internationale Lage änderten sich.

Die Volksfeinde traten in Erscheinung - Vaterlandsverräter, Spione, Diversanten, Schädlinge.

Die ersten Prozesse gegen Volksfeinde wurden vorbereitet und durchgeführt.

Die Verhaftungswelle rollte auch bis nach Kasachstan. Sie begann in den oberen Etagen der Machtorgane, republikanische Vorgesetzte wurden der Verschwörung beschuldigt, mit dem Ziel, Kasachstan gewaltsam von Sowjet-Rußland abzutrennen und an Japan anzugliedern (!).

Wie das in der Praxis hätte funktionieren sollen wurde nicht geklärt. Danach fanden Massen-verhaftungen in allen Einheiten der entsprechenden Organe statt.

Alles lief nach einem typischen Schema ab - der Vorgesetzte warb seine Stellvertreter und Hilfskräfte für die Organisation an und jene die ihnen Unterstellten, und so weiter, bis hin zu den einfachen Arbeitern. Und schon ist eine konterrevolutionäre Organisation fertig. Die Verhafteten zu zwingen sich an den faktisch gar nicht begangenen Verbrechen schuldig zu bekennen war eine Frage der Zeit und der Methoden, mit denen die Verhöre durchgeführt wurden.

Für die einfachen und niedrigen Ränge leitender Mitarbeiter endete dies mit ihrer Umwand-lung in kostenlose und ergebene Arbeitskräfte, für alle übrigen mit ihrer physischen Ver-nichtung.

Es wurden eine Menge vereinfachter Verfahren für eine schnelle Überführung "in jene Welt" erdacht, das Militärkollegium, Tribunale, die Sonderausschüsse, Trojkas und einfach von höchster Stelle gebilligte Namenslisten.

Immer wieder wurden auch Mitarbeiter der Ermittlungs- und Straforgane physisch vernichtet, die über das Geschehene zuviel wußten und persönlich aktiven Anteil daran genommen hatten. So beseitigte man die Spuren der vollendeten Verbrechen.

Nach der ersten Welle von Beschlagnahmungen, Gewaltanwendungen und Vernichtungsmaß-nahmen folgte eine zweite, und so weiter, jeweils in Abhängigkeit von der Bedeutsamkeit einer Behörde.

All das wurde begleitet von allen möglichen Verhören, deren Durchführung mit Belohnungen angespornt wurde, darunter auch Verhöre mit den eigenen Eltern, Freunden und Bekannten,

wobei Kinder sich von ihren Eltern lossagten, in der Absicht und Annahme, daß sie dann selbst ungeschoren davonkamen. Verhöre wurden auch mit dem Ziel geschrieben, irgendeinen Posten, eine Wohnung einzunehmen, sich irgendwelche wissenschaftlichen Arbeiten oder Ausarbeitungen anzueignen und letztendlich auch, um mit jemandem abzurechnen.

Die Menschen gewöhnten sich daran, als Zeugen bei der Verhaftung von Nachbarn mitzuwir-ken und nachts nicht zu schlafen, in der demütigen Erwartung, daß man kommen würde, um sie abzuholen. Auf den Versammlungen brachten die Leute ihren Zorn hinsichtlich der ent-larvten Volksfeinde zum Ausdruck und forderten für sie die allerstrengsten Strafen. So war die Stimmung zum Jahre 1936 hin.

1937, Anfang März, wurde ich zum stellvertretenden Leiter für die Lehrabteilung am Polytechnikum ernannt, und zwar ohne Befreiung vom Unterricht, denn im Zusammenhang mit den beginnenden Verhaftungen begann sich die Nachfrage nach Lehrern noch mehr zuzuspitzen. Auch meine familiäre Situation hatte sich geändert: im Juni 1936 hatte ich geheiratet. Während der Sommerferien gelang es meiner Frau und mir auf Urlaub zu den Eltern nach Kiew zu fahren. Danach fand ich keine Gelegenheit mehr, den Vater noch einmal lebend zu sehen, und die Mutter traf ich erst nach zehn Jahren, 1947, wieder.

Am Polytechnikum begann nun die Verhaftung der Lehrkräfte, die nach der Übergabe der Chinesisch-Östlichen Eisenbahnlinie an China auf eigenen Wunsch in die Sowjetunion gekommen waren. Verhaftet wurden auch die Verwandten, die mit ihnen gekommen waren.

Sie alle erwiesen sich als Spione. Bei uns wurde ein Student verhaftet, der der Neffe eines hier am Polytechnikum arbeitenden Lehrers war, an dessen Familiennamen ich mich noch erinnern kann - Jakuschkin. Danach verhafteten sie verbannte Ingenieure, die bei uns eine Nebentätigkeit ausübten. Das waren Schädlinge. Dann kam die Reihe an die verbannten Lehrer, die des Nationalismus und anderer Vergehen schuldig gesprochen wurden.

Jede Verhaftung einer Lehrkraft zog die dringende Notwendigkeit einer Übernahme von Unterrichtsplänen nach sich, was bei fünf Fachrichtungen, vier Kursen und etwa dreißig Gruppen keine einfache Angelegenheit war, besonders deshalb, weil viele Lehrer nur mit einer Nebentätigkeit beschäftigt waren und ihre Bedingungen stellten, an welchen Tagen und um wieviel Uhr sie diese Tätigkeit durchführen konnten. In diesem Zusammenhang mußte auch ich mich ohne Rast und Ruh im Kreise drehen.

Ohne Kurioses kann man nicht auskommen. Ich wende mich an die Chemie-Lehrerin: "Warwara Semjonowna, gestern ist Wassilij Kusmitsch (Physiklehrer) verhaftet worden, und ich muß mit ihnen die Umgruppierung des Unterrichtsplanes absprechen". Warwara Semjo-nowna war wie erstarrt, ihre Augen waren weit aufgerissen, und schließlich brachte sie hervor: "Aber sie haben mich doch noch gar nicht verhaftet".

In der ersten Hälfte des Jahres 1937 wurde mein unmittelbarer Vorgesetzter, der alte Bolschewik Nikolaj Alexandrowitsch Alejew verhaftet. Nun mußte ich seine Pflichten mit übernehmen. Wie sich später herausstellte, verhafteten sie mich, nachdem sie aus ihm buchstäblich das "Geständnis" herausgeprügelt hatten, er habe am Polytechnikum eine konter-revolutionäre Spionage- und Sabotage-Organisation gegründet und mich in deren Aktivitäten mit hineingerissen. Damit endete meine fünfjährige Arbeit bei der Turkestan-Sibirien-Eisenbahn.

Am 13. November 1937 kam ich spät von der Arbeit nach Hause und setzte mich zum Abendessen hin. Ein Auto näherte sich dem Haus, man hörte Schritte und Reden, und nach einigen Minuten - ein Klopfen an der Tür. Zwei Unbekannte und Nachbarn kamen herein.

Sie verhielten sich mir gegenüber höflich: "Essen Sie, essen Sie erstmal, wir werden warten".

Alles war klar, jedes Stückchen blieb im Halse stecken. Sie zeigten mir den Haftbefehl und begannen mit der Haussuchung, die nach wenigen Minuten beendet war. Wir hatten es doch noch nicht geschafft, uns Sachen zuzulegen. Sie nahmen nur ein Gruppenfoto vom Schul-abschluß mit, auf dem auch ich abgebildet war. "Nehmen Sie Ihre Wäsche mit, Seife, Zahnbürste und Zahnpasta. Die Uhr lassen Sie zuhause, die werden Sie nicht brauchen".

So nahm ich von meiner Ehefrau Abschied, mit der ich keine eineinhalb Jahre zusammen-gelebt hatte. Erst nach zehn Jahren sollten wir uns wiedersehen.

So begannen meine stalinschen Lehrjahre.

Schnell fuhren wir zur Verkehrs- und Transportabteilung der GPU, die in einem kleinen eingeschossigen Gebäude, in der zentral gelegenen Gorkij-Straße, untergebracht war. Damals war Alma-Ata eine kleine Stadt, die dem heutigen Stadtbild überhaupt nicht ähnelte, und hauptsächlich aus ein-oder zweistöckigen Bauten bestand, mit besonderen Vorrichtungen für Ofenheizung und fehlendem Innenputz, was damit zusammenhing, daß es dort ziemlich häufig Erdstöße gab.

Meine Begleiter übergaben mich dem diensthabenden Wachmann, der sogleich, ohne ein Wort zu sagen, vorschriftsgemäß zur Tat schritt. Er schnitt mir vom Uniformhemd die Kragenspiegel und alle Metallknöpfe ab. Dann nahm er mir den Gürtel ab und führte die gleiche Operation mit den Hosenknöpfen durch. Die Schnürsenkel aus den Stiefeln wurden mir weggenommen und der Inhalt des von mir mitgenommenen Bündels sorgfältig untersucht. Ein kurzes: "Gehen wir!" - und wir begaben uns zur Treppe, die in den Keller führte - ich vorneweg, wobei ich mit einer Hand die hinabrutschende Hose festhielt, mit der anderen mein Bündel. Im Keller - ein matt beleuchteter Korridor, der über die gesamte Gebäudelänge ging, auf beiden Seiten mit eisenbeschlagenen Türen, schweren Querriegeln aus Metall an jeder Tür und großen Vorhängeschlössern.

Das Schloß wurde geöffnet, der Metallriegel mit lautem Krachen beiseite geschoben, die Tür aufgemacht, und ich befand mich plötzlich in einer ebenso schwach wie der Korridor beleuchteten Zelle wieder. Das kleine Fenster war von außen mit einem schrägen Brett ver-schlossen. In der Zelle befanden sich drei Mann, die mich schnell mit Fragen überschütteten.

Erste Frage - "Sechser"? Als mein Unverständnis über diese Frage deutlich wurde, stellten sie sogleich fest - das ist ein Neuer, der kommt von draußen, aus der Freiheit. Das Interesse an mir verstärkte sich, sie wollten wissen, was es in der weißen Welt an Neuigkeiten gab.

Meine Zellengenossen erwiesen sich als Lokomotiven-Maschinisten, die von der Süd-West-Eisenbahn zur Turksib gekommen waren. Alle wurden der Spionage zugunsten Polens beschuldigt.

Hier erhielt ich meine erste Lektion. Es wurde eine Untersuchung aller Punkte des §58 des Strafgesetzes durchgeführt. Punkt 6 dieses Paragraphen bedeutete Spionage, und ich begann sofort ihre Frage nach dem "Sechser" zu begreifen. Man erzählte von den ange-wandten Verhörmethoden, was es mit dem stundenlangen Stehen und den Endlos-Verhören auf sich hat. Wie man nach einer schlaflosen Nacht so im Sitzen schlummern kann, daß es der Aufseher hinter dem Guckloch nicht merkt. Wie man sich mit Klopfzeichen durch die Wand hindurch mit seinen Nachbarn verständigen kann, ohne dabei erwischt zu werden.

Wie es ist, wenn sie in die Zelle einen speziellen Provokateur dazusetzten, der sich die größte Mühe gibt, eine offene Unterhaltung herbeizuführen. Wir unterhielten uns lange, und das gab mir der Möglichkeit, den Schockzustand, in dem ich mich befand, ein wenig abzuschwächen.

Die ganze Nacht über klirrten die eisernen Riegel, knallten Türen. Die Verhöre wurden in der Regel nachts durchgeführt.

Am folgenden Tag, tagsüber, wurde ich vor den Untersuchungsbeamten gerufen - einer von denen, die mich verhaftet hatten; sein Familienname war Skriptschenko. Diesmal trug er eine Uniform. Dies war das erste und anscheinend rein verfahrensmäßig vorgenommene Verhör, und er leitete es äußerst korrekt. - "Erzählen Sie, mit wem Sie in Verbindung standen, wer Sie in die konterrevolutionäre Organisation angeworben hat, wer dieser Organisation angehörte".

Die Begriffe "in Verbindung stehen" und "anwerben" waren für mich so neu und unverständlich, wie "der Sechser". Im Abschlußgutachten hieß es: "Sie leugnen einer konter-revolutionären Organisation angehört zu haben, aber wir wissen alles. Nur aufrichtige Reue wird ihr Schicksal erleichtern. Schließlich sind Sie ein Volksfeind, und wenn wir Sie jetzt auf die Straße hinauslassen, dann wird das Volk Sie in Stücke reißen. Denken Sie darüber nach".

Damit endete das erste Verhör; ein Protokoll wurde angefertigt. Und dann schienen sie mich zu vergessen. Das dauerte etwa einen Monat und stellte offenbar eines der technischen Elemente für die psychologische Bearbeitung dar. Damit mich das Unbekannte und Unge-wisse quälen sollte, damit ich besser ausreifen konnte. In dieser Zeit wurde ich zweimal von einer Zelle in eine andere verlegt.Einer ihrer "Hausherrn" stellte sich als Mitarbeiter der militarisierten Wache vor und war besonders redselig und gesprächig. Ich dachte an die Lektion, die mir die Maschinisten-"Spione" erteilt hatten und verhielt mich ihm gegenüber vorsichtig, hörte viel zu, sagte aber nichts über mich selbst.

Das nächste Stadium - endlose nächtliche Verhöre. Das kann man schon nicht mehr als Verhöre bezeichnen, es war vielmehr Einflußnahme, aber keine psychologische, sondern körperliche. Sie wird im Arbeitszimmer vorgenommen: "Na, was ist, bekennen Sie sich nun ihrer konterrevolutionären Aktivitäten schuldig? Steh auf, du Hund, stell dich einen Schritt von der Wand weg, sieh in die Glühbirne!" Die Zeit verging quälend langsam und wurde von Schreien unterbrochen: "Schreib, Hundesohn!" u.ä. Ich führe hier nur solche Beiworte an, denen das Papier standhalten kann.

Die Leute, die sich damit beschäftigten, wiesen eine äußerst begrenzte moralische und verstandesmäßige Entwicklung auf und konnten daher ihre sehr einfachen Aufgaben erfolgreich bewältigen.

In einer der Folgenächte befaßte sich mit mir ein junger Untersuchungsführer, der etwa in meinem Alter gewesen sein muß. Es war bereits nach Mitternacht. Plötzlich wandte er sich an mich: "Komm, setz dich hierher". Ich traute meinen Ohren nicht, ging jedoch heran und setzte mich. "Welche Schulausbildung hast du? Ich habe es nicht geschafft, das Institut zu beenden". Und es entspann sich ein friedliches Gespräch.

Am entfernteren Ende des Korridors hörte man in der nächtlichen Stille eine Tür quietschen, Schritte wurden hörbar.

Im Flüsterton sagte jemand: "Stell dich hin", und dann folgten ganz laut die typischen Ausrufe und Ausdrücke.

Ein anderes Mal wurde mir gegenüber Mitleid zum Ausdruck gebracht und es hieß: "Wie du dich auch benimmst, hier kommst du nicht raus. Laß dich nicht durcheinanderbringen. Du wirst nicht mehr als sieben Jahre aufgebrummt bekommen. Du bist noch jung und wirst bessere Zeiten erleben".

Im weiteren Verlauf der Dinge sollte ich mich noch einmal davon überzeugen, daß es unter den Ermittlungsführern auch anständige Menschen gab. Das war später, im inneren Gefängnis der Stadt-GPU. Dort saßen hauptsächlich Verhaftete, deren Ermittlungsverfahren bereits abgeschlossen war, aber es gab auch einige Untersuchungsgefangene. Unter ihnen, in unserer Zelle, war ein Doktor der Wissenschaften namens Bobkow, Schüler der Pawlow-Akademie. Diesen Mann interessierte außer der Wissenschaft nichts. Mit ihm konnte man lediglich über Versuchshunde sprechen, mit denen er arbeitete.

Sein Untersuchungsführer gab ihm mitunter nach dem Verhör ein paar Zeitungen. Vorsorg-lich nahm er sie auseinander und warnte: "Wenn ihr erwischt werdet, dann sagt, daß ihr sie aus dem Körbchen in der Toilette genommen habt".

Man kann sich vorstellen, was für eine Freude es für die Menschen war, die schon lange im Gefängnis saßen, und was für ein tödliches Risiko der Untersuchungsführer selbst einging.

Mit mir beendete der Abteilungsleiter die Ermittlungen; nachdem er begriffen hatte, daß aus mir nichts für ihn Interessantes herauszuholen war, legte er mir ein von meinem Vorgesezten eigenhändig geschriebenes Geständnis vor, in dem jener zugab, mich in die von ihm gegründete konterrevolutionäre Organisation angeworben zu haben. Und da war ich, weil ich keine Möglichkeit sah, meine Schuldlosigkeit zu beweisen, und weil ich wollte, daß die physischen Methoden der Einflußnahme aufhörten, bereit zu bestätigen, daß er mich angeworben hatte.

Damit war das Ermittlungsverfahren beendet, und ich wurde ins innere Gefängnis der Stadt-GPU verlegt, wo ich bis zur Ankunft der auswärtigen Tagung des Militär-Kollegiums des Obersten Gerichtshofes in Alma-Ata einsaß.

Darüber, daß man die Ankunft von Mitgliedern des Militärkollegiums erwartete, erfuhren wir natürlich nichts. In der Zelle befanden sich etwa vierzig Menschen - eine äußerst bunt zusammengewürfelte Gesellschaft. Da waren zwei Kasachen - Sekretäre des Gebietskomitees, kasachische Militärpersonen, ein bestimmt 90 Jahre alter Mann - Vertreter des Islam, der den Tod herannahen fühlte und nun eine Reise nach Mekka machen wollte, um wegen seiner begangenen Sünden zu beten. Ihm wurde auch vergeben. Er keuchte, als wenn eine ganze Schmiede in Betrieb war, und wenn er sich im Badehaus auszog, dann konnte man durch seine Haut hindurch den Aufbau eines menschlichen Skeletts studieren. Die Knochen stachen deutlich unter der Haut hervor.

Die übrigen waren russischer oder anderer europäischer Nationalitäten, vom Leiter republika-nischer Organisationen bis hin zu Leuten meines Ranges. Schließlich gab es auch "Ehemalige" - Vertreter der Neuen Ökonomischen Politik und anderer Parteien, vor allem Sozialrevolutionäre.

Letztere hatten langjährige Gefängniserfahrung hinter sich, waren viele Jahre im Gefängnis und in der Verbannung gewesen und waren immer nur kurz auf freiem Fuß, wie bei einem Kurzzeiturlaub. Wenn sie sich kurz vor den Revolutionsfesttagen gerade in Freiheit befan-den und es ihnen noch nicht gelungen war, eine Folgestrafe zu erhalten, so wurden sie bestimmt an diesen Feiertagen wieder ins Gefängnis gesteckt. Sie kamen dort mit allem an, was für einen Kurzaufenthalt unbedingt nötig war, und fühlten sich "wie zuhause". Sie hegten keinerlei Hoffnung auf eine Änderung ihres Schicksals und sagten sich von ihren Gesinnun-gen und Ansichten nicht los.

Obwohl es paradox erscheint, so bin ich doch der Meinung, daß es ihnen moralisch viel leichter ums Herz war, als den Leuten, die an die Partei glaubten, die die Revolution gemacht hatten und die von dem ganz betäubt waren, was man ihnen vorschrieb und was mit ihnen gemacht wurde.

Sie meinten, daß alles, was hier vor sich ging, ohne Wissen des "Vaters des Volkes" geschah, glaubten ihm und hofften, daß sich alles normalisieren würde. Vielleicht glaubten einige auch nicht daran oder hegten Zweifel, aber Gerüchte darüber wurden nicht ausgesprochen, weil man schon genau wußte: diese führen schnell zur physischen Vernichtung. Leben wollten sie alle, den Wunsch zu leben empfanden besonders jene Leute sehr heftig, die in Unfreiheit geraten waren. In den Zellen beschäftigten sie sich verstärkt mit Umhergehen (innerhalb der Zellenwände), machten Körperübungen und erwarteten mit Ungeduld den Zeitpunkt für die äußerst kurzen Spaziergänge.

Bei den Ermittlungen verhielten sie sich unterschiedlich. Die stärksten ertrugen mit ihrem Geist und die kräftigsten mit ihrem Körper standhaft alle Foltern (anders konnte man das nicht nennen) und unterschrieben keinerlei Geständnis. Wodurch wurden sie dennoch gezwungen, sich bei den öffentlichen Prozessen schuldig zu bekennen? Ich glaube dadurch, daß man ihnen die Erhaltung ihres Lebens "garantierte" und, was das Wichtigste war, ihnen versprach, ihre Familien keiner Verfolgung auszusetzen. Wenn das so ist, wie hat man sie dann gewissenlos betrogen!

Andere waren der Ansicht, daß, je mehr die Leute Repressalien unterlegen waren, sie um so schneller Klarheit schufen und sich dann, erschöpft von all dem, bemühten, in ihren Geständ-nissen möglichst viele Familiennamen zu nennen, nicht nur Freunde, Arbeitskollegen und Bekannte aufzuzählen, sondern auch die Namen von Menschen hineinzuschreiben, mit denen sie gar nicht bekannt waren. Solche nannte man "Schriftsteller". Und es gab davon nicht wenige.

Eine dritte Gruppe wiederum bemühte sich, vollkommen unsinnige Dinge zu gestehen, was von den Ermittlungsführern, die sich in speziellen Fragen überhaupt nicht auskannten, aufge-nommen und dann ins Protokoll hineingeschrieben wurde. Man rechnete damit, daß bei Gericht kompetentere Leute saßen, die von allem Ahnung hatten.

So schrieb beispielsweise ein alter Eisenbahn-Ingenieur (zu der Zeit war er bereits über 60), daß er versucht hatte, mit Hilfe eines Theodoliten ein Kraftwerk zu sprengen. Und dieser Unsinn wurde vom Ermittlungsführer aufgenommen, und damit war das Untersuchungs-verfahren beendet.

Für diejenigen, deren Ermittlungsverfahren abgeschlossen war, verlief die Zeit in der Zelle des inneren Gefängnisses ruhig: Wecken, Morgentoilette, Frühstück, Spaziergang, Mittag-essen, Abendessen, Zapfenstreich. Sie bekamen einigermaßen gut zu essen, es wurde Zucker ausgegeben, Machorka und Papier zum Papyrossi-Drehen. Machorka stellte die Währung dar - dafür waren die leidenschaftlichen Raucher bereit, Zucker oder einen Teil ihrer Essensration herzugeben.

Unter diesen Bedingungen verschwand bei einigen allmählich die äußere Umhüllung und es öffnete sich ihr wahres Wesen. Leute, die nicht an Gott geglaubt hatten, begannen zu beten, glaubten an Vorsehung und Wahrsagerei. Der gestrige Sekretär des Gebietskomitees nahm ein sauberes Taschentuch heraus und breitete darauf Brotkügelchen aus. Wenn ich mich nicht irre waren es 42, sie wurden "Kumalaki" genannt. Danach schob er sie zu kleinen Häufchen zusammen, führte durch Verschieben der Brotkügelchen verschiedene Kombinationen durch und "wußte" aufgrund ihrer Lage, was ihn selbst und diejenigen, denen er wahrgesagt hatte, erwartete. Solche Wahrsagerei fand mehrmals täglich statt, in der vollen Überzeugung, daß die "Kumalaki" die Wahrheit sagten.

Im Gefängniskorridor, der breit und hell war, herrschte eine Stille, die nur dann durchbrochen wurde, wenn sie das Essen brachten. Sie reichten es in Schüsseln durch die rechteckige Öffnung in der Tür, die gewöhnlich mit einem Klapptürchen aus Metall verschlossen war. In diesem Türchen gab es eine von außen verschlossene runde Öffnung - das Guckloch für den Aufseher. Wenn man vom Innern der Zelle auf dieses Türchen drückte, enstand ein Spalt, durch den man ein ganz kleines Stückchen vom Korridor sehen konnte. Unter uns gab es ein paar Neugierige, die den Korridor beobachteten.

An einem Tag in der zweiten Hälfte des Monats Februar 1938 wurde es im Gefängniskor-ridor zu einer ungewöhnlichen Zeit von vielen Schritten laut, die an unserer Zelle vorbei-marschierten. Unser Türdienst begann, denn wir wollten wissen, wessen Schritte das waren. Nach einiger Zeit hörten wir erneut Schritte, diesmal in umgekehrter Richtung. Unser Beobachter sagte, daß eine große Gruppe von Militärpersonen gehobener Ränge vorbeige-laufen sei. Die Beobachtungen an den folgenden Tagen zeigten, daß sie über den Korridor, auf der Seite, wo die Diensträume lagen, einzelne Strafgefangene führten, begleitet von drei Mann Wachpersonal mit Pistolen in den Händen. Nach 30-40 Minuten führte man sie in die Gegenrichtung, aber nun wurden sie vom Begleitpersonal in der Regel unter den Armen gestützt. Abends wurden an unserer Zelle reichhaltige Abendmahlzeiten vorbeigetragen. Jede Nacht lief im Hof geräuschvoll ein Fahrzeugmotor.

In der Zelle begann man alle möglichen Vermutungen und Mutmaßungen zu äußern.

Von den ersten Märztagen an begann sich abends unsere Zellentür zu öffnen und jeweils ein paar Leute wurden mit ihren Sachen fortgebracht.

Es war klar, daß Gerichtsverhandlungen liefen. Wir waren übereingekommen, daß jeder Herausgerufene, wenn er aus der Gerichtsverhandlung zurückkam und an seiner ehemaligen Zelle vorüberging, mit seiner Faust anzeigen sollte, welche Haftstrafe er erhalten hatte.

Keiner der Zurückkehrenden gab ein solches Zeichen und blickte noch nicht einmal auf die Zellentür.

Es wurde klar, daß ihnen nicht der Sinn danach stand.

Am 9.März war ich an der Reihe, mit meinen Sachen die Zelle zu verlassen. Zu der Zeit saß dort fast kein einziger Untersuchungsgefangener mehr. Beim Hinaustreten aus der Zelle führten sie mich nicht in Richtung der anderen Gefängniszellen, sondern entgegengesetzt, zu der Seite, auf der die Diensträume gelegen waren. Sie brachten mich in ein leeres Zimmer, in dem in gegenüberliegenden Ecken Matratzen ausgelegt waren. Mein Begleiter ließ sich bequem in einem weichen Sessel im Korridor nieder, von wo aus er durch die offene Tür gut sehen konnte, was sich im Zimmer abspielte. Mir wurde befohlen, mich auf eine Matratze zu setzen und meine Sachen in eine der leeren Ecken zu stellen. Nach einiger Zeit brachte der andere Begleiter einen Kasachen mittleren Alters herein, der sich auf die andere Matratze setzen mußte. Der arme Kerl war derart aufgeregt, daß es ihn schüttelte, als ob er im Fieber läge. Danach händigten sie uns die Anklageschriften aus, damit wir uns mit ihnen vertraut machten, wobei es uns verboten war miteinander zu sprechen. Dieses Verbot war aber gar nicht nötig, uns war auch so nicht nach einer Unterhaltung zumute.

Das Anklagegutachten versetzte uns in Erschütterung. Wie für uns die lange Nacht verlief, was wir dachten und fühlten, das vermag ich nicht zu beschreiben.

Mit dem ersten Konvoi fuhr der Kasache fort. Mich holten sie erst in der zweiten Tageshälfte. Sie brachten mich in einen großen Raum mit einer Erhöhung, auf der sich eine Art Tribüne mit Plätzen für die Gerichtsmitglieder befand. In der Mitte des Raumes ein einziger Stuhl. Sie führten mich zu ihm: "Setzen Sie sich". Zwei Begleiter blieben zu beiden Seiten des Stuhles stehen, der dritte dahinter. Alle drei hatten Pistolen in den Händen.

Die Tür geht auf. Eine Militärperson kommt herein. Es ertönt der Ruf: "Aufstehen, das Gericht kommt!" Ich stehe auf. Die Mitglieder des Kollegiums treten herein, nehmen Platz. Im Eiltempo wird meine Anklageschrift verlesen. Frage des Vorsitzenden: "Bekennen Sie sich schuldig?" Und unverzüglich verkünden sie: "Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück". Die Wache bringt mich in ein anderes, nicht weit entfernt gelegenes, Zimmer. Dort stehen mehrere Stühle. Meine Wachbegleiter, junge Burschen in modischer Uniform, lang-weilen sich offenbar. Sie erzählen sich lustige Geschichten und lachen laut.

Die Zeit vergeht. Einer sagt: "Da tut sich gar nichts, ich seh mal nach". Als er zurückkommt sagt er zu mir: "Sieht so aus, als ob sie da die Höchststrafe für dich festlegen." Er ist mit seinem "Witz" sehr zufrieden, die Freunde sind begeistert, es wird lange gelacht. Ihm kommt nicht der Gedanke, wie mir, einem Gleichaltrigen, in diesem Moment zumute ist. Das Gefühl von Mitleid und Mitgefühl ist ihnen unbekannt.

Endlich holt man uns. Derselbe Saal, derselbe Stuhl, derselbe Ruf. Ebenso schnell wie die Anklageschrift wird auch das Urteil verlesen. "Im Namen" ... und so weiter, "verurteilt zu zehn Jahren Gefängnishaft mit anschließender Aberkennung der bürgerlichen Rechte für die Dauer von fünf Jahren und Konfiszierung des Besitzes". "Das Urteil ist endgültig. Eine Berufung kann nicht eingelegt werden".

Und somit war die Rechtsprechung vollzogen.

Man brachte mich in einen Raum, in dem sich zahlreiche Häftlinge mit ihren Sachen befanden. Sie waren vom Kollegium bereits "abgefertigt" worden. Unter ihnen war auch mein Anwerber Nikolaj Alexandrowitsch, der fünfzehn Jahre mit den gleichen Auflagen wie ich bekommen hatte.

Für heute hatte das Kollegium seine Arbeit beendet; wir wurden auf Fahrzeuge geladen und ins Stadtgefängnis abtransportiert, wo man uns im sogenannten neuen Gebäudeteil unter-brachte. Eine rechteckige Zelle, nicht groß. In der Mitte standen zwei Eisenbetten mit den Rückenteilen aneinander. Bei den Türen ein mit einem Deckel versehener Latrinenkübel. Die Ankömmlinge richteten sich zu beiden Seiten der Betten ein, vom Fenster, welches mit einer vergitterten Milchglasscheibe verschlossen war, bis hin zu den Eingangstüren. Vom Latrinen-eimer, der nie gereinigt worden war, ging ein widerlicher Geruch aus, der die ganze Zelle erfüllte. Und keine Lüftung.

Die Glücklichen, die ein Bett für die Nacht ergattert haben, liegen jeweils zu Dritt, immer einer mit den Füßen am Kopf des anderen. Die übrigen auf dem Boden - mit den Köpfen an der Wand, den Beinen unter den Pritschen, und die Körper in gleicher Weise angeordnet, denn die Zelle ist für zwei Menschenlängen nicht breit genug. Auf dem Zellenboden breitet jeder das aus, was er besitzt - einen Mantel, eine Jacke, eine Decke.

Unter den Köpfen liegt der übrige Besitz. Nachts gibt es ein Problem - wie soll man sich von einer Seite auf die andere drehen, wie zum Latrinenkübel gelangen und anschließend an seinen Platz zurückkommen. Im großen und ganzen ist die Unterbringung so, wie bei Heringen in einer Konservenbüchse. Das Essen ist so beschaffen, daß man das, welches sie im inneren Gefängnis des Stadt-NKWD ausgegeben haben, als etwas Märchenhaftes in Erinne-rung hat. Die beste Zeit ist nach dem morgendlichen Wecken. Der Gang zur Toilette, zwei tragen den bis an den Rand vollen Latrineneimer hinaus, ein kurzer Spaziergang im Kreis auf dem Gelände, das an die Toiletten angrenzt, die in aller Eile aus Brettern zusammengesteckt wurden. Die übrige Zeit verbringt man mit endlosen Unterhaltungen, die sich gruppenweise unter den Zellenbewohnern entwickeln.

Hier hatten ich und meine Aktengenossen die Möglichkeit sich im einzelnen darüber zu unter-halten, wie das Ermittlungsverfahren gelaufen war. Gegenseitige Ansprüche stellten wir nicht.

Die Ansichten über das Vorgefallene stimmten überein, obwohl unsere Altersunterschiede erheblich waren. Auch die Lebenserfahrung war bei weitem nicht einheitlich.

Könner verständigten sich durch Klopfzeichen mit den Nachbarzellen und erfuhren so, wer dort einsaß. Uns teilte man mit, daß es im Gebäude zwei Todeszellen gab, aber es gelang nicht herauszufinden, wer sich in ihnen befand. Entweder war ihnen nicht nach Klopfzeichen zumute oder sie kannten das "Alphabet" nicht. Wir erfuhren auch, daß es im Gebäude eine weitere Kammer gab, die mit ebensolchen Häftlingen wie wir gefüllt war, mit vom Militär-Kollegium Verurteilten. Es stellte sich auch heraus, daß in ihr hauptsächlich Verurteilte des 10. und 11. März einsaßen und nur wenige von ihnen unter ein anderes Datum fielen. Von den Häftlingen, die das Essen austrugen, erfuhren wir, daß, außer uns, weder im Februar noch im März, verurteilte "Konterrevolutionäre" ins städtische Gefängnis geraten waren.

Es wurde klar, daß über die übrigen die Todesstrafe verhängt und diese noch am selben Tag vollstreckt worden war, genauer gesagt, spät abends, unter dem Lärm der laufenden Motoren, im inneren Gefängnis des NKWD.

Die frei gewordenen Einzelzellen füllten sich mit einer neuen Partie Häftlinge, die am folgen-den Tag vor Gericht gestellt wurden. So arbeitete das gut funktionierende Fließband der Ver-nichtung. Man hat ausgerechnet, daß nach abgeschlossener Arbeit des Kollegiums, vom 25. Februar bis zum 12. März 1938, nicht weniger als sechshundert Menschen das Gericht durch-liefen und weniger als ein Zehntel von ihnen am Leben blieb.

Während einer der Massenspaziergänge blickte irgendeiner von uns, der sich gerade auf der Toilette befand, durch eine Ritze in den Brettern und sah im benachbarten Gefängnishof im Kreis gehende Frauen. Blitzartig wurde die gemachte Entdeckung zum allgemeinen Eigen-tum. Und am nächsten Tag bildete sich an dem Spalt eine Schlange. Viele erkannten ihre Ehefrauen, und auch ich entdeckte meine.

Nach zehn Jahren, beim Zusammentreffen, erfuhr ich von meiner Frau, daß sie nach meiner Verhaftung aus dem medizinischen Institut als Familienmitglied eines Volksfeindes ausge-schlossen und im alten Teil des Stadtgefängnisses eingesperrt worden war; und anschließend hatte man sie nach Kursk in die Verbannung geschickt. Die Ehefrauen von Erschossenen schickte man in Lager. Sie erzählte, wie schwer es für sie in der Verbannung gewesen war. Nirgends wollte man sie zur Arbeit einstellen, aus Angst selbst dafür leiden zu müssen. Mit Mühe kam sie als Arbeiterin in einer Geodäsie-Gruppe unter, wo sie die Meßlatte hinterher-schleppen mußte.

Das Leben in der Zelle nahm seinen Gang. Schlechtes Essen, gedrückte Stimmung und fast das vollständige Fehlen von Bewegung führten in unserer Zelle zu Skorbut. Es begann mit dem Auftauchen dunkelblauer Flecken am Körper, die an Zahl und Größe zunahmen. Man konnte die Zähne ohne Anstrengung mit den Fingern aus dem Kiefer herausziehen. Dann verkrampften sich die Beine, und der Mensch verlor die Möglichkeit sich zu bewegen. Gerettet wurden wir davor nicht durch die Fürsorge der Gefängnisverwaltung; uns half der Häftlingstransport.

Es war so, daß andere Republiken spezielle Isolationsgefängnisse für die Inhaftierung von zu Gefängnisstrafen Verurteilten eingerichtet hatten, aber in Kasachstan gab es einen solchen Polit-Isolator nicht.

Man entschloß sich, so etwas in Kustanaj zu organisieren und benutzte dazu ein altes Gebäude aus der Zarenzeit, ein Gefängnis.

Wir wurden in "Stolypin"-Waggons für Gefangene verladen und nach Taschkent transportiert - der ersten Etappe unserer Verlegung. Auf dem Taschkenter Passagierbahnhof, am Ende eines Bahnsteigs, wurden wir ausgeladen. Wir mußten dort auf unseren Sachen sitzen und waren von Wachen umgeben. Hier sahen wir, nach einer langen Unterbrechung, freie Menschen, die sich bemühten, möglichst schnell an unserer Gruppe vorbeizugehen, aber dennoch aus Neugier verstohlen auf uns blickten. Besondere Aufmerksamkeit wurde einem unter uns befindlichen etwa zehnjährigen Jungen gewidmet - einem kleinen Feindchen,

der als einziger aus der ganzen Familie am Leben geblieben war und der dann später in eine spezielle Kinder-Aufnahmestelle kam. Stalin hatte entschieden, daß Kinder erst ab einem Alter von zwölf Jahren erschossen wurden.

Bald näherte sich ein Fahrzeug, wir wurden aufgeladen und ins Taschkenter Durchgangsge-fängnis gebracht. Hier blieben wir etwa einen Monat. Es gab einen Kiosk, an dem man ein paar Lebensmittel kaufen konnte. Wir stürzten uns alle mit besonderer Gier auf die Tomaten. Sie waren es auch, die uns vor Skorbut retteten. Zum Ende unseres Aufenthaltes in Taschkent hatten wir völlig vergessen, was Skorbut eigentlich ist.

Und an noch etwas erinnerte mich dieses Durchgangsgefängnis. In den großen und hohen Baracken waren dreistöckige Pritschen aufgestellt. Wir wurden in einer dieser Baracken untergebracht. Es gelang uns nicht, uns dort niederzulassen, denn Scharen von Wanzen fielen über uns her. Es war nicht möglich sich ihrer zu erwehren.

Wir liefen mit unseren Sachen an die frische Luft (die Baracken waren ja nicht verschlossen) und schlugen dort unser Nachtlager auf.

Am Morgen beschwerten wir uns bei der Leitung. Nach zwei oder drei Tagen führten sie aus allen Baracken die Leute heraus, steckten drinnen Schwefel in Brand und stopften Fenster und Türen dicht zu. Der Schwefel brannte mehrere Tage, danach wurden die Baracken gut durch-gelüftet und man begann die umgekommenen Wanzen einzusammeln. Es waren so viele, daß sie mit Schaufeln zu Haufen aufgeschüttet wurden, ähnlich wie Ameisenhaufen. Ein derarti-ges Schauspiel habe ich nie wieder gesehen.

Die nächste Durchgangsstation war das Orenburger Gefängnis, das am quälendsten in meiner Erinnerung haften blieb. Es entstand der Eindruck, daß sich beim dortigen Dienstpersonal die schlimmsten Sadisten befanden.

Das splitternackte Ausziehen mit anschließenden Kniebeugen. Alle Sachen, auch die, derer man sich entledigen mußte, wurden zur Durchsuchung weggebracht, die endlos schien. Grobes und die menschliche Würde verletzendes Anschreien, ekelerregendes Essen. Zum Glück wurde unser Gefangenentransport dort nicht lange festgehalten.

Endstation unserer Etappe war die Stadt Kustanaj, das Gebietsgefängnis. Sehr düstere Ziegelbauten mit Höfen zum Spazierengehen, die voneinander durch dicke Ziegelmauern mit massiven Metalltoren und Pforten getrennt waren. Das gesamte Gefängnisgelände war eben-falls mit einer hohen Ziegelmauer und Türmchen für die Wachmannschaften umgeben. Was sofort ins Auge fiel - das war das Fehlen der sogenannten "Maulkörbe" vor den Fenstern, den Blenden, mit denen diese üblicherweise versperrt waren. Dies wurde von uns als gutes Vor-zeichen aufgenommen, was sich später in vollem Maße bestätigen sollte.

In dem alten Gefängnis herrschte zu unserem Glück keine neue Ordnung, der Fortschritt war noch nicht bis dahin vorgedrungen. Die Aufseher waren hauptsächlich Männer in fortgeschrit-tenem Alter, die im Gegensatz zu den jungen, menschliche Qualitäten aufwiesen. Gestreifte Einheitskleidung mit aufgenähten Nummern, wie in Kresty oder Solowky, gab es hier nicht. Wie es seit jeher der Brauch war, besaß das Gefängnis große eigene Gemüsegärten, wo die Häftlinge Gemüse anbauten. Es gab auch einen ausgedehnten Gemüseaufbewahrungsraum und einen Vorratskeller, in dem alle Arten von frischem und eingesalzenem Gemüse, bis hin zu Wassermelonen, aufbewahrt wurden.

Das örtliche Fleischkombinat belieferte das Gefängnis im Überfluß mit seinen Knochen und anderen billigen Fleischprodukten. Das gab der Verwaltung die Möglichkeit, die Gefangenen bei einem minimalen Geldlimit mit nahrhaftem und schmackhaftem Essen zu versorgen. Im allgemeinen kann man sagen, daß wir Glück hatten.

In der Zelle gab es keine besondere Langeweile. In anderen Gefängnissen wurden zum Austragen und Verteilen des Essens sowie verschiedenen anderen Hauswirtschaftsarbeiten nur Kriminelle zugelassen. Hier konnten bei der Gemüseverarbeitung und -einlagerung alle Freiwilligen arbeiten. Die Insassen unserer Zelle wurden, sofern sie nichts dagegen hatten, in die Stadt gebracht, wo sie rings um das Gebäude der Gebietsverwaltung des NKWD den Schnee wegschoben und das Eis von den Bürgersteigen hackten.

In ihren Kantinen bekamen wir "richtiges Mittagessen". In den Zellen gab es keine strenge Einteilung nach Kriminellen und Konterrevolutionären. In unserer Zelle, zum Beispiel, saßen einige Kriminelle, die sich ganz anständig benahmen. Manchmal gerieten sie in Konflikte, allerdings nur mit der Verwaltung.

Bei der Eintönigkeit des Lagerlebens verging ein Tag eigentlich ziemlich schnell, aber insgesamt gesehen verkürzte sich die Haftzeit nur sehr langsam.

Brotkrümel wurden nach einer besonderen Methode bearbeitet und aus ihnen eine plastik-ähnliche Masse hergestellt, von der ein Teil mit Hilfe von Ofenruß geschwärzt wurde.

Aus dieser Masse wurden, von einigen sogar recht kunstvoll, Schachfiguren modelliert. Wir veranstalteten in den Zellen Turniere und bestimmten einen Schachmeister. Die Kriminellen bastelten aus Papirossi-Papier, die sie in Form von kleinen Heftchen bekamen, Spielkarten. Zum Färben benutzten sie einen zerriebenen roten Ziegelstein und eben jenen Ofenruß. Als Klebematerial wurde Knoblauch aus erhaltenen Paketen verwendet.

In unserer Zelle gab es einen bemerkenswerten Mann - einen Matrosen und Teilnehmer an dem Aufstand auf dem Panzerkreuzer "Potjomkin". Mit Familiennamen hieß er Sawgorodnij, und er war überzeugter Sozialrevolutionär. Als enger Helfer des Matrosen Matjuschenko, der bei dem Aufstand der Anführer gewesen war, hatte man ihn zum Tode verurteilt, diese Strafe dann aber in lebenslange Zwangsarbeit abgeändert. Die Revolution befreite ihn. Während des aufflammenden Bürgerkrieges geriet er in die Hände der Weißgardisten und wurde zum zweiten Mal wegen Teilnahme am Aufstand auf dem Panzerkreuzer zum Tode verurteilt. Als er sich in der Todeszelle befand, wurde er von der Roten Armee befreit. In den Jahren der Verfolgung wurde er verhaftet und erhielt die Todesstrafe, weil er Sozialrevolutionär war und sein Gewehr nicht abgegeben hatte, aber die Strafe wurde in 10 Jahre Gefängnis umgewandelt - mit Berücksichtigung seiner Teilnahme am Aufstand auf dem Panzerkreuzer "Potjomkin". Er war ein Mann von mächtigem Körperbau, sehr bescheiden, und er mochte nicht gern von sich erzählen. Einige Tage lang überredeten alle Zellenkameraden und ich ihn vom Aufstand auf dem Panzerkreuzer zu erzählen.

Nach dem Zapfenstreich begann er zu erzählen. Auf den Pritschen liegend lauschte die gesamte Zelle einem lebenden Teilnehmer an den damaligen Ereignissen, wie man so sagt, mit angehaltenem Atem. Er war zu der Zeit bereits über sechzig Jahre alt.

Ungeachtet des großen Altersunterschiedes brachte er mir große Sympathie entgegen und unterhielt sich gern mit mir. Vorweggreifend sage ich, daß ich bei einem der Häftlings-transporte zusammen mit ihm nach Norilsk fuhr.

Der zweite interessante Mann in der Zelle war ein Jurist namens Gurjewitsch. Ebenso wie auch Sawgorodnij, war er von stattlicher Größe und mochte sich gern mit mir unterhalten. Er sagte zu mir: "Gut, daß das Militärkollegium Sie verurteilt hat. Sie haben die Chance, daß eine Zeit hereinbricht, wo man Sie rehabilitieren wird. Wir, die ewig rastlosen Wanderer, haben diese Chance nicht. Man möchte doch nicht im Gefängnis sterben".

Was mich angeht, so traf seine Vorhersage, wenn auch nicht sehr bald, ein. Als man uns nach Norilsk schickte, nahmen sie ihn nicht mit auf Etappe, und sein weiteres Los ist mir nicht bekannt.

Im Gefängnis von Kustanaj erhielt ich von der Mutter einen Brief, daß der Vater gestorben war. Über das Schicksal meiner Frau wußte ich damals nichts.

Am Ende der zweiten Hälfte des Jahres 1939 verbreiteten sich Gerüchte, daß ein großer Gefangenentransport vorbereitet wurde, aber wohin dieser gehen sollte - das wußte keiner.

Die Gerüchte erhärteten sich durch einsetzende, umfassende medizinische Untersuchungen.

Man fürchtete das Ungewisse - wohin würde man uns bringen und wir würde es am neuen Ort werden. Ob dort wohl die gleichen guten Bedingungen herrschten wie in Kustanaj?

Der Tag der Verladung für den Gefangenentransport brach an. Die zurückbleibenden Häftlinge, die von der medizinischen Kommission ausgesondert worden waren, und auch die Aufseher wünschten uns alles Gute. Wir fuhren in Güterwaggons, die mit Pritschen ausge-stattet waren, mit geöffneten, aber vergitterten Luken. Es gelang mir, einen Platz auf einer der oberen Pritschen einzunehmen, mit dem Kopf zur Lokomotive hin, so daß ich während der Fahrt keinen Zug bekam. Wir bewegten uns mit langen Halten an den Stationen vorwärts.

Aber anhand der Stationsnamen konnten wir erkennen, daß wir Richtung Osten fuhren.

Wir schrieben auf mit zerkautem Brot zusammengeklebten Blättern von Papirossi-Papier Briefe und verschickten diese auf äußerst eigentümliche Weise. Wenn der Brief geschrieben und die Empfängeradresse darauf vermerkt worden war, legst du dich, während der Zug an einer Station hält, an die geöffnete Luke. Sobald der Zug wieder anfährt und an Geschwin-digkeit zulegt, zeigst du dich an der Luke dem Weichensteller oder einem anderen Bahnan-gestellten, bittest ihn mit einer Geste den Brief abzuschicken und wirfst diesen weit aus dem Waggon hinaus.

Aus Angst, daß nicht jeder deinen Brief aufheben und an seinen Bestimmungsort schicken will, warf ich während der Fahrt insgesamt drei an die Mutter gerichtete Briefe hinaus. Wie sich später aufklärte, hat sie alle drei Briefe, die in echten Post-Briefumschlägen steckten und auf die ihre Adresse geschrieben worden war, erhalten. Wenn das kein Beweis dafür ist, mit welcher Anteilnahme die Leute sich gegenüber den Verfolgten verhielten!

Nach einer langen, kräftezehrenden Fahrt kamen wir in Krasnojarsk an, am Umlade-Lagerpunkt des errichteten Norilsker Metallhütten-Kombinates. Unser Gefangenenzug bestand aus hundert Personen.

Als wir mit unseren Sachen in den Türen standen und darauf warteten, in den Baracken untergebracht zu werden, näherten sich uns einige "Kontriks" (Konterrevolutionäre), die schon vor uns hier angekommen waren, und warnten uns, daß es hier Urki, d.h. Kriminelle, gäbe, die uns unsere Sachen wegnehmen würden, von denen jeder von uns nicht wenige besaß. Wir schütteten sofort alle Sachen auf einen gemeinsamen Haufen, und setzten uns selbst darauf, eng aneinandergedrängt. Eine wechselnde Verteidigung wurde gebildet. Die Kriminellen umkreisten uns. Einer von ihnen kam dicht heran und begann einen Sack mit Sachen zu sich heranzuziehen. Der Besitzer der Sachen, ein kräftiger Alter, entriß ihm das Zeug und stieß ihn heftig zurück. Jener sprang zurück, nahm einen Stein vom Boden auf und warf ihn dem Alten an den Kopf. Blut floß. Auch die anderen Urki, die um uns herumgingen, ergriffen Steine und begannen unsere Gruppe damit zu bewerfen. Es entstand eine Schlägerei.

Auf den Wachtürmen begannen die Wachen zu schreien und mit den Waffen zu schwenken.

Um uns versammelte sich eine Menge Alteingesessener, die Rauferei hörte auf. Die Konter-revolutionäre, die ja ebensolche waren wie wir, sagte mitleidig zu uns: "Sobald ihr in die Baracken geführt worden seid, werden die Urki euch sowieso alle Sachen wegnehmen. Mit uns haben sie das auch schon so gemacht, und es ist nicht möglich dem zu entfliehen".

In unserer Gruppe gab es einen großen, jungen und körperlich gesunden Repressierten -

Wassilij Jegorow. Später, nach seiner Rehabilitation, wurde er stellvertretender Direktor des Norilsker Kombinats. Er sagte: "Kameraden, geht nicht in die Baracken, solange nicht jemand von der Leitung hergekommen ist". Und den auf den Türmen stehenden Wachen schrie er zu: " Holt sofort die Lagerleitung, sonst gehen wir zur Umzäunung und ihr könnt auf uns schießen". Das, wie sie dann sagten, hatte es bei der Umladung noch nie gegeben. Die Leitung erschien, hörte Jegorow an und verfügte, daß in einer der Baracken ein Teil geräumt werden sollte, wo wir uns dann zusammen niederlassen konnten. In dieser Sektion organisier-ten wir einen Wachdienst rund um die Uhr und wählten Jegorow als Ältesten. Hier lebten wir ganz gut bis zu unserer Verladung auf Lastkähne. Unsere Gruppe hatte Glück: wir kamen nicht in den Laderaum, sondern auf einen schwimmenden Landungssteg, der von Krasnojarsk bis nach Dudinka geschleppt wurde. Das war eine zweigeschossige, schwimmende Einrich-tung. In den Schiffsräumen der Lastkähne herrschte Dunkelheit und drückende Hitze, hier hingegen frische Luft. Der einzige unangenehme Ort war dort, wo eine große Menge hölzerner Latrinenfäßchen standen, die über Bord gekippt wurden, sobald sie voll waren; dabei lief der Inhalt über und ergoß sich auf das Deck.

Unterwegs aßen wir, außer Brot, gesalzene Fische und tranken Wasser aus dem Jenissej.

Und bald begannen die Durchfallerkrankungen. Bei einigen in einer so akuten Form, daß sie nicht einmal mehr zu den Latrinenkübeln laufen konnten. Alle schreckten vor ihnen zurück - aus Angst vor Ansteckung. Wieviele Tage und Nächte wir dahinschwammen erinnere ich jetzt nicht mehr, aber auf jeden Fall mehr als eine Woche.

Im Hafen von Dudinka lud man uns auf offene Schmalspur-Güterwagen und brachte uns nach Norilsk. Die Entfernung bis Norilsk mit der Schmalspurbahn, die bei unserer Ankunft bereits in Betrieb genommen worden war, betrug etwa hundert Kilometer. Vor uns angekommene Gefangenentransporte hatten diesen Weg durch die Tundra zufuß zurücklegen müssen. Durch die Tundra gehen ist sehr mühsam. Das heißt, daß unsere Etappe auch in diesem Punkt Glück hatte.

Norilsk empfing uns unfreundlich - mit unaufhörlichem Sprühregen, der schon unterwegs angefangen hatte. Ich erinnere mich jetzt nicht mehr daran, aber es war irgendein Tag im September 1939. Und so waren vom Augenblick der Verhaftung im Jahre 1937 fast zwei Jahre vergangen. Das Gefängnisleben war zuende, nun begann die Lagerzeit.

An der Stelle der heutigen Stadt Norilsk war alles Tundra. Metallhütten-Industrie gab es nicht. Gearbeitet wurde in den ersten Bergwerken untertage und in den Kohlenschächten. Ein großer Kraftwagenpark wurde errichtet, Objekte für den Eisenbahntransport, neue Lager-Abteilungen für die Aufnahme der unaufhörlich fließenden Häftlingsströme, man hob unter den Fundamenten Baugruben aus, um versuchsweise Metallverhüttung zu betreiben. Und all das unter den Bedingungen ewigen Frostes. Es bestand keinerlei Erfahrung, unter solchen Bedingungen Arbeiten auszuführen. Im Industriegebiet gab es bereits eine erste kurze Straße in der Werkssiedlung, die Sawodskaja-Straße. Die eine Seite wurde von der 3. Lagerabteilung eingenommen, die gegenüberliegende von einigen Wohnhäusern für die im freiwilligen Arbeitsverhältnis stehenden Arbeiter, einem zentralen Laboratorium und anderen Produktionsgebäuden und Einrichtungen des soziokulturellen Lebens.

Im rechten Winkel zur Sawodskaja-Straße reichte schon ein ausgebauter Weg vom Industrie-

gebiet an die zukünftige Stadt heran. Entlang dieses Weges befanden sich: ein Krankenhaus für die, die im freiwilligen Arbeitsverhältnis standen, das DITR (Haus der Ingenieure und Techniker), die Kombinatsverwaltung, ein großes Geschäft, ein Hotel und eine Reihe von zweigeschossigen Häusern für die freien Arbeiter. Die militarisierte Wache war im Militär-lager untergebracht, das ebenfalls aus Baracken bestand.

Die Leitung befand sich in drei zweistöckigen Einfamilienhäusern am Ufer des Dolgij-Sees. Hier standen auch zwei dreigeschossige Wohnhäuser für freie Spezialisten sowie ein noch im Bau befindliches Gebäude des Technikums. Das Gelände, das ans gegenüberliegende Ufer des Sees grenzte und mit niedriggewachsenem Tundrawald bedeckt war, war vermessen und der zukünftigen Stadt Norilsk zugeteilt worden.

Spaßvögel erzählten, daß in Norilsk drei Nationalitäten leben: hauptsächlich Seki (Häftlinge) und zwei kleinere Gruppen - WNs (in freiem Arbeitsverhältnis stehende) und WOchr (mili-tarisierte Wachen). Die Seki wiederum unterteilten sich in Kontriks (Volksfeinde) und Urki

(Kriminelle).

Unser Transport wurde in der 3. Lagerabteilung untergebracht, die aus mit Bruchsteinen gebauten Baracken bestand. Die Wohnbaracken waren in zwei voneinander isolierte Hälften geteilt, zwischen denen sich ein Trockenraum für Kleidung befand. Innerhalb der Sektion - zweistöckige Pritschen, am Eingang der Platz für den Stubendienstler und ein Tisch zum Ver-teilen des Essens, das er aus der Lagerküche holte.

Eine Baracke war belegt mit dem Ambulatorium und einer stationären Krankeneinrichtung mit zwanzig Betten. Außer der Küche und dem Krankenhaus gab es auf dem Gelände der 3. Lagerabteilung noch ein Badehaus, einen kleinen Klub, eine Art Gepäckaufbewahrungsraum, einen kleinen Laden, Verwaltungs- und Hauswirtschaftseinrichtungen verschiedener Art. Später baute man noch das dreistöckige Zentral-Krankenhaus und eine Leichenhalle.

Besondere strukturelle Einheiten stellten in der Lagerabteilung die URTsch (Registrierungs- und Verteilungsstelle) und die AChTsch (Verwaltungs- und Wirtschaftsstelle) dar. Der furcht-einflößendste Mann war der operative Bevollmächtigte, der die Dienste von Informanten aus den Reihen der Häftlinge ausnutzte - man nannte sie "Türklopfer" und verachtete und fürch-tete sie.

Die mit unserem Transport Angekommenen wurden auf verschiedene Baracken verteilt und unterschiedlichen Brigaden zugeordnet. Unser ehemaliger Ältester, Jegorow, hatte nun keine Aufgaben mehr.

Wir und andere angekommene Transporte hatten die Ruhr mit uns gebracht, die sich schnell in allen Wohnbaracken ausbreitete. In das kleine Krankenhaus gelangten nur einige Glück-liche, der Platz reichte nicht für alle Erkrankten. Mit Einsetzen der Kälte begannen die Men-schen wie die Fliegen zu sterben. Die Verstorbenen konnten nicht weggebracht werden, es gab zu wenig Särge. Die Leichen wurden stapelweise an der Stirnseite der Krankenbaracke aufgetürmt, wie Holzscheite. Der tägliche Anblick brachte es mit sich, daß uns dies nicht mehr in Aufregung versetzte. Der einzige Wunsch - nur nicht in diese Gesellschaft zu geraten.

Es fanden sich Leute, die als Rationalisierungsmaßnahem vorschlugen, keine Einzelsärge anzufertigen, sondern die Verstorbenen in großen Holzkisten abzutransportieren, aus denen man sie dann am Bestattungsplatz in große Gruben kippen konnte. Ein sparsamer Umgang mit defizitärem Holzmaterial. Der nächste Vorschlag - wozu angekleidet beerdigen, die Unterwäsche reicht doch so schon nicht. Man begann die Toten nackt zu bestatten, lediglich mit einem Holzschild am Hals, auf dem eine Nummer stand. An Menschen brauchte man nicht zu sparen, ihnen wurde im Sommer genug Menschenmaterial auf dem Fluß herange-bracht, auf Kosten einer hohen Sterblichkeitsrate.

Ich war während der Fahrt an einer leichteren Form der Ruhr erkrankt. Nach Ankunft in der Lagerabteilung wurde ich in eine Brigade geschickt, die am Bau des Kraftwagenparks und nahegelegener Werkstätten arbeitete. Baugruben wurden ausgehoben. Das Hauptwerkzeug - eine Spitzhacke. Der Boden war gefroren - "wenn man auch mit den Zähnen daran nagte". Keinerlei Unterstand zum Aufwärmen. Man erlaubte uns lediglich Lagerfeuer zu entfachen. Wir schmolzen Schnee, kochten das Wasser und warfen unter dem Schnee hervorgezogene Blätter von Preiselbeeren hinein. Es gelang dem "königlichen" Getränk unsere Seelen ein wenig aufzuwärmen. Die Menschen, die dort von morgens bis in die Nacht arbeiteten konnten nicht sprechen, weil die Zeit der Polarnächte herrschte und es fast unaufhörlich Schneestürme mit heftigem Wind und Schneefall gab. Während solcher Schneestürme läßt der Frost in der Regel etwas nach und der feuchte Schnee bleibt im Gesicht haften und bildet eine Kruste. Ergebnis - ein erfrorenes Gesicht.

Schneesturm mit starkem Frost nannte man "den Schwarzen". In diesem Fall waren die Erfrierungen im Gesicht noch viel schlimmer. Man begann aus Flanell Gesichtsmasken mit Ausschnitten für Augen und Mund zu nähen. Es war unbequem mit solchen Masken zu arbeiten. Der Atemdampf schlägt sich auf der Maske nieder, es entstehen Eiszapfen und Rauhreif, die sich um die Augen- und Mundöffnungen herum konzentrieren. Die Arbeit unter derartigen Bedingungen wurden Kolonnenarbeit genannt und war besonders schwer.

Den uns begleitenden Wachen erging es auch nicht viel leichter. Ihr einziger Vorzug bestand wohl darin, daß sie warm angezogen waren, unter anderem mit langen Pelzmänteln. Vermutlich verging die Zeit für sie viel langsamer als für uns - die Arbeitenden. Das war meiner Meinung nach auch der Grund dafür, daß sie böse waren. Auf wen sollten sie ihre Wut entladen, wenn nicht auf einen unterwürfigen Häftling. Sie konnten ihn sogar ungestraft niederschießen, indem sie das dann als "Fluchtversuch" abtaten. Und die anderen Häftlinge würden aus Angst, daß ihnen das gleiche Schicksal widerfuhr, schon schweigen.

Am angenehmsten war noch das Kommando zur Rückkehr in die Zone. Wir stellten uns zu Fünfen zusammen, die Wachsoldaten zählten nochmal durch und - im Gleichschritt Marsch.

Die übliche Warnung: "Ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts gilt als Fluchtversuch; geschossen wird ohne Vorwarnung". Mitunter trafen wir eine entgegenkommende Kolonne. Es erscholl das Kommando: "Halt! Hinsetzen!" Hinsetzten mußte man sich genau dort, wo man gerade stand, egal wie schmutzig es dort war. Die Entgegenkommenden gingen vorbei, wir konnten weiter. Und da ist auch schon das Lagertor. Die Wachleute, die uns in Empfang zu nehmen haben, kommen aus dem Wachhäuschen und öffnen das Tor. Das Betreten der Zone geschieht durch Abzählen - "eins, zwei", und so weiter. Wenn irgendetwas zahlenmäßig nicht stimmt, jagen sie uns durch das Tor zurück nach draußen und die Durchzählerei beginnt von neuem.

Mitunter wiederholt sich dieses Verfahren mehrmals. Die Begleitsoldaten und die Wachen werden wütend, beschimpfen sich gegenseitig. Den Häftlingen, entkräftet vom Arbeitstag, bleibt nichts anderes übrig, als die Kommandos gehorsam auszuführen. Endlich sind wir in der Zone. Alle eilen in die Baracken, um zuerst einmal die feuchte Kleidung möglichst gut im Trockenraum unterzubringen. Danach gibt es Essen, und bis zur Schlafenszeit verbleibt auch noch ein wenig freie Zeit.

Ziemlich oft gab es auch Überraschungen. Das Kommando: "Alle mit ihren Sachen auf den Korridor hinaustreten!" Im Korridor befinden sich ein paar Aufseher. Eine unerwartete Durchsuchung, sämtliche Sachen werden ausgeschüttelt, die anderen gehen in die Sektion und drehen das ganze Bettzeug um. Manchmal kommen sie auf den Einfall, uns von einer Wohn-baracke in eine andere, weniger gut ausgestattete, oder von einer Sektion in eine andere, umziehen zu lassen. Und das alles nur, um den Menschen keine Ruhe und keine Erholung zu lassen. Vor Feiertagen sind Durchsuchungen an der Tagesordnung, und an den Feiertagen selbst bringen sie uns zum Räumen der Straßen, die der Schneesturm natürlich sogleich wieder zuweht - eine unsinnige Mühe. Volksfeinde, ihr sollt wissen, daß die Feiertage nicht für euch gedacht sind!

Jeder beliebige darf dich beleidigen, wobei scheinbar die Faustregel gilt: je niedriger der Dienstgrad, um so raffinierter und größer ist das Vergnügen soetwas zu tun. Im übrigen gab es Leute, die keine Beleidigungen aussprachen, sondern die Durchsuchung formell ausführten und dabei sogar Mitgefühl bekundeten, das sie jedoch aus Angst nicht mit Worten zum Aus-druck brachten.

Glücklicherweise mußte ich nicht lange Kolonnenarbeiten leisten. Gemäß Einteilung des Leiters des Bau-Kombinates, Awraamij Pawlowitsch Sawenjagin, wählten sie diplomierte Spezialisten für Arbeiten in der Kombinatsverwaltung aus, im Projektierungsbüro, das später als Institut eingerichtet wurde, und in anderen Unterabteilungen. Mich schickten sie zur tech-nischen Versorgungsabteilung der Kombinatsverwaltung. Der Abteilungsleiter sowie die Gruppenführer waren Freie, die übrigen Gefangene.

Nachdem wir unter Dach und Fach, ins Warme, unter menschliche Bedingungen geraten waren, strengten wir uns natürlich mächtig an, um so schnell wie möglich alles zu erlernen und unsere Pflichten so gut es ging zu erledigen. Faktisch machten die Gefangenen die Arbeit für die Freien. Demzufolge gewöhnten sie sich an eine parasitäre Lebensweise und begannen zu glauben, daß es genauso auch sein müßte.

Die Lagerleitung ging noch weiter. All ihre persönlichen Bedürfnisse wurden von den Häft-lingen sichergestellt. In den Lagerabteilungen wurden verschiedene Werkstätten organisiert - eine Schneiderei, eine Schusterwerkstatt, eine Tischlerei und andere, in denen Gefangene arbeiteten, die erstklassige Meister ihrers Fachs waren. Ebenso wie wir setzten sie alles daran, um der Leitung zu Gefallen zu sein und nicht wieder zur Kolonnenarbeit zu müssen. Sämtliche Hausarbeiten bei der Leitung wurden von weiblichen Gefangenen verrichtet.

Es gab sogar eine spezielle Fischerei-Brigade, die sie mit den besten Fischarten versorgte - Stör, Alande, große Maränen, Schnäpel, Äschen und andere. Zu jener Zeit gab es in den umliegenden Flüssen und Seen eine Menge davon.

In jenen Jahren gab es noch keine sowjetischen Behörden in Norilsk, der Leiter des Kombi-nats fungierte als "Zar und Gott". Ihm unterstellt waren auch der Staatsanwalt und die dritte Lager-Abteilung - zum Schrecken der Gefangenen. Den Familiennamen dieses Leiters, Plemjannikow, sprachen die Häftlinge nur mit einem Zittern aus.

Der Wille des Schicksals brachte es mit sich, daß ich nach der Rehabilitation mit ihm von 1957 bis 1965 in einer Krasnojarsker Sowjet-Volkswirtschaft arbeitete, wo er Vorsitzender für Verwaltungsangelegenheiten in Wohn- und Alltagsfragen war. Mit mir ging er sehr liebenswürdig um. Hätte ich, als ich noch ein Häftling war, mit einer solchen Zuwendung rechnen können?

All das, was ich oben beschrieben habe, verdeutlicht sehr oft, wie nach und nach bei den Menschen die besten menschlichen Gefühle verkümmerten - Mitleid, Mitgefühl und Anteil-nahme am Schicksal fremder Menschen. So entstand ein schweres Erbe, das der heutigen Gesellschaft hinterlassen wurde, das nun bewältigt und korrigiert werden muß. Leider wird sehr viel Zeit dafür erforderlich sein, daß ein Generationswechsel vonstatten geht, daß neue Generationen heranwachsen und nach völlig anderen Prinzipien erzogen werden, als die hier weiter oben beschriebenen.

Mich packt das Grauen, wenn ich im Fernsehen das Auftreten des neuen Kandidaten für die Volksdeputierten der UdSSR verfolge, einem führenden Mitarbeiter der Schiffswerft. Auf die Frage des Korrespondenten, wie er dem Stalinismus gegenübersteht, antwortet er ohne zu überlegen, daß er sich eigentlich gar nicht dazu äußern kann. Und er erklärt, daß er selbst unter Stalin nicht gelitten hat, auch seine Verwandten und ihm Nahestehenden nicht, und ihn daher das Thema nicht interessieren würde. Das ist das Niveau der Denkweise eines jungen Menschen, der den Anspruch erhebt, Volksdeputierter zu werden, Verteidiger der Volksinte-ressen.

In einer der wöchentlichen Beilagen der Zeitung "Iswestija" - "Die Woche", gibt es zu diesem Thema in den Leserbriefen von Jugendlichen zahlreiche Äußerungen, analog der oben ange-führten, oder auch solche: "Ich kann meine Meinung dazu nicht sagen, weil ich darüber über-haupt nichts weiß". Ist all das nicht merkwürdig?

Kommen wir zur chronologischen Berichterstattung zurück. Der erste Winter in Norilsk war schwer. Die unverputzten Barackenwände, aus Bruchgestein gebaut, besaßen viele Ritzen. Bei Schneesturm zog es fürchterlich und durch die Mauerspalten drang der Schnee bis zu den Pritschen durch. Wenn man morgens aufwachte, war das Kopfkissen an der Wand festge-froren.

Im Lauf der Zeit änderten sich die Lebensbedingungen zum Guten, in erster Linie, sagen wir es so, für den privilegierten Teil der Kontriks, die nicht für Kolonnenarbeiten zur Verwen-dung kamen. Die Barackensektionen, in denen sie lebten, waren besser eingerichtet und unterhalten, die Kleidung erhielten sie aus erster Hand (neu), und sie wurde sogar in den Lager-Schneidereien nach Maß und aus besseren Materialien genäht. Es war sogar erlaubt, jene angekleidet und in Einzelsärgen zu bestatten. Der tägliche Umgang mit den Freien gab zudem die Möglichkeit, in den Geschäften über sie dringend benötigte Lebensmittel zu erwerben.

Als die Ausführung dringender Arbeiten unabdingbar wurde, ließ man uns nachts arbeiten und versorgte uns dabei reichlich mit Lebensmitteln, zusätzlich zur Lagerration.

Dies geschah keineswegs aufgrund von Anweisungen, die von oben erteilt wurden, sondern mit Bewilligung der lokalen Verwaltung, die selbst dafür die Verantwortung übernahm. Zu jener Zeit drohte ihren Mitarbeitern die Möglichkeit, wieder zu Gefangenen zu werden, und sogar noch mehr als das.

Zunächst ließ man, aus der zwingenden Notwendigkeit heraus, die Kontriks ohne ständige Wachbegleitung herumlaufen, mit einer Dauergenehmigung, die für bestimmte Zeiten gültig war. Natürlich wurde dies nur im Interesse der Sache gestattet.

Den "Volksfeinden" wurde auch die Möglichkeit gegeben, an jede beliebige Adresse, selbst an Stalin persönlich, Eingaben zu schreiben - Beschwerden mit der Bitte, ihre Akte noch einmal durchzusehen und zu überprüfen. Diese schickten sie nicht nur mit der Lagerpost, die der Zensur unterlag, sondern auch durch mitleidige Freie, wenn diese irgendwohin abkom-mandiert wurden oder auf Urlaub fuhren. Das Ergebnis war immer dasselbe - eine gedruckte Standardantwort, auf der lediglich der Nachname des Klägers handschriftlich vermerkt war:

"Ihr Gesuch wurde überprüft. Es besteht keine Veranlassung für eine erneute Durchsicht Ihrer Akte". Dennoch glaubten die Leute, daß die Gerechtigkeit siegen würde, und sie schrieben weiter. Mit besonderer Hartnäckigkeit hob sich in unserer Lagerabteilung Professor Sergej Mitrofanowitsch Dubrowskij hervor, der jeden Monat ein mehrere Seiten umfassendes Gesuch schrieb. Aber die Mehrheit, überzeugt von der Nutzlosigkeit dieser Beschäftigung, hörte damit auf.

Gleichmäßig, entsprechend der festgesetzten Ordnung, verlief unser Leben im Lager.

Alle gerieten in Aufregung als der Krieg ausbrach. Obwohl von den ersten Kriegstagen an alle Radiostationen in den Lagerabteilunen abgeschaltet wurden, hörten wir die Neuigkeiten unverzüglich von den Freien. Wie schmählich klang es, als der "Führer", der Millionen unschuldiger Menschen ins Verderben riß, sich mit den Worten "Brüder und Schwestern!" an das Volk wandte. Wie er anfangs erschrocken und fassungslos über den Einmarsch der Deutschen war, bezeugen die Memoiren von General Schtemenko. Diese Memoiren unter-scheiden sich meiner Ansicht nach, ebenso wie die von Marschall Rokossowskij, durch viel mehr Wahrheitstreue und Objektivität.

Die Reaktion der "Volksfeinde" auf die Nachricht über den Krieg bestand in einer Massenein-reichung von Gesuchen zur Verschickung an die Front. Auf derartige Gesuche wurden keine Antworten erteilt - man verstand darunt er, daß auch so alles klar war. Gesuche wurden nur von den Kriminellen angenommen, und einige von ihnen wurden auch positiv entschieden.

Mit Beginn des Krieges stieg der Bedarf an Metallen in Norilsk um ein Vielfaches und erforderte eine maximale Verstärkung der Bemühungen, um dem genüge zu tun.

Ich erwähnte bereits, daß es keinerlei Erfahrungen bei Bauvorhaben im ewigen Frostboden gab. Unter den Versuchsschmelzereien taute der Frostboden schnell auf, Aggregate und selbst Gebäude verformten sich und stürzten ein. Es mußte gleichzeitig nach Vorkommen gesucht und gebaut werden. Auf Grund der nur in geringem Maße gesammelten Erfahrungen wurde die Entscheidung getroffen, Industrieobjekte nur auf steinigem Untergrund und Wohngebäude auf Pfählen mit luftdurchlässigen Kellern zu errichten. Es begann die Suche nach geeignetem steinigem Gelände sowie die territoriale Verlegung von Industrieobjekten, was zu erheblichen Erschwernissen bei der Verteilung und konstruktiven Ausführung aller Kommunikationsarten führte. Im Zusammenhang damit entstand ein großes Volumen an zusätzlichen Projektarbei-ten, die auf den Schultern der verschleppten Häftlingsspezialisten zahlreicher Fachrichtungen lagen.

Zu einem großen Problem wurden die Transporte von technischen sowie Lebensmittel-Ladungen von Dudinka nach Norilsk. Die Schmalspur-Eisenbahnlinie war aufgrund von Schneeverwehungen ständig unbrauchbar.

Die Beseitigung der Schneewehen unter den Bedingungen der Tundra geschah per Hand,und das kostete viel Kraft und Zeit. Ein Gefangener, der Eisenbahn-Ingenieur Potapow, erarbeitete die Konstruktion für einen haltbaren Schneeschutzzaun, denn die aufgestellten typischen Bretter halfen nicht,und entwarf ein Projekt für ihre Aufstellung an der Trasse der Schmal-spurbahn. Das Problem der Schneewehen-Schutzmaßnahmen war damit erfolgreich gelöst.

Ähnliche Beispiele ließen sich noch viele anführen, aber ich will hier nur hervorheben, daß

die "Volksfeinde" nicht nur mit ihrer körperlichen Arbeitskraft einen großen Beitrag zum Volkssieg über das faschistische Deutschland leisteten.

In der Zeit der Stagnation, als man alle erdenklichen Arten von Fälschungen zuließ, war es sehr kränkend zu lesen und zu hören, daß Norilsk von Komsomolzen erbaut wurde. Zu jener Zeit, über die ich hier schreibe, gab es zig andere junge Spezialisten, Absolventen technischer Universitäten, die erst arbeiten lernen und Erfahrungen sammeln mußten. Die Komsomolzen tauchten in Norilsk nach dem Krieg auf, als das Kombinat als gut organisiertes Unternehmen in Betrieb genommen, aus der Zuständigkeit des NKWD genommen und dem Ministerium für Buntmetalle der UdSSR unterstellt wurde und von den großen Vergünstigungen für die Arbei-ter des Hohen Nordens Gebrauch machte. In Norilsk gab es vor und während des Krieges keine Truppenteile oder militärischen Einheiten, galt es doch für die Faschisten als unerreichbar. Im August 1942 wurden die Norilsker vom Angriff des faschistischen Kreuzers "Admiral Scheer" auf Dickson zutiefst erschüttert.

Dickson wurde durch die Selbstlosigkeit und Tapferkeit sowjetischer Seeleute gerettet. Wie sich im folgenden zeigen sollte, traf der Kreuzer beim Herannahen an Dudinka auf den Dampfer "Sibirjakow", und nachdem dieser sich geweigert hatte, sich zu ergeben, begann man ihn zu beschießen. Während sich die Besatzung des Angriffs erwehrte, gelang es der "Sibirjakow" über Radio den Ort Dickson über den bevorstehenden Angriff des deutschen Kreuzers zu benachrichtigen, sodaß man sich darauf vorbereiten konnte. Wegen der hoff-nungslosen Lage wurden auf der "Sibirjakow" die Kingston-Ventile geschlossen, und sie versank in den Fluten. Von den 128 Männern und 3 Frauen fischten die Deutschen nur 28 Mann aus dem Wasser heraus. Die "Sibirjakow" begann man seit der Zeit verdient den "Waräger" der Arktis zu nennen.

Für die Verteidigung Dicksons stand ein Wachtschiff "SKR19" zur Verfügung, das aus Teilen

des Eisbrechers "Deschnjow", des Dampfers "Revolutionär" und der Küstenbatterie umgebaut worden war. Die Verteidiger Dicksons begrüßten den Kreuzer mit der vollen Kraft ihrer Geschützfeuer, die im Vergleich zu der Geschützstärke des Kreuzers lächerlich gering war. Später las ich, daß das Gewicht der Geschosse auf der "Admiral Scheer" 2300 Kilogramm ausgemacht hatte, und das Gesamtgewicht aller Geschütze in Dickson - nur 122,5 Kilogramm.

Nachdem der Kreuzer auf Dickson mehr als 400 Projektile abgeschossen hatte, trat der Kreuzer schmachvoll den Rückzug an. Danach näherte sich kein einziges faschistisches Überwasserschiff mehr dem Ort Dickson, der entsprechend militärisch befestigt wurde.

Die Verluste der Verteidiger beliefen sich auf: 7 Getötete und 30 Verwundete auf der

"SKR-19", davon 21 schwer; auf der "Revolutionär" 1 Verwundeter; bei der Küstenbatterie 4 Verwundete.

Alle Verwundeten wurden nach Norilsk gebracht, wo man sie behandelte. Diejenigen, die zu Invaliden wurden, blieben zum Arbeiten in Norilsk.

Die deutschen U-Boote vergaßen Norilsk bis um Ende des Krieges nicht und kamen sogar bis in die Jenissejsker Bucht.

Hauptsächlich wurde Norilsk aus Amerika beliefert, mit Schiffskarawanen, die nicht auf große Langlebigkeit ausgelegt waren. Diese Karawanen brachten alles Notwendige heran, in Mengen, die eine störungsfreie Arbeit des Kombinats während der eisfreien Zeit, in der die Flußschiffahrt möglich war, sicherstellte - von schwerer Bergbautechnik über verschiedene Ausrüstungsgegenstände, Werkzeuge, technische Materialien bis hin zu einem großen Sortiment an Industriewaren, Nahrungsmitteln und vor allem Konserven, Medikamenten und Geschenken, die von den Amerikanern zusammengestellt worden waren.

Zwei solcher großen Schiffszüge passierten Dickson und liefen den Hafen von Dudinka an, bereit zu einer schnellen Entladung. Einmal kamen sie nicht bis nach Dudinka, sondern wurden von einem deutschen U-Boot in der Jenissej-Bucht in einer Tiefe von über 60 Metern versenkt. Versuche sie zu heben blieben ohne Erfolg. Die Schiffahrt näherte sich aufgrund des nahenden Eisgangs dem Ende, und es gab keine Möglichkeit, die erlittenen Verluste zu ersetzen. Das Kombinat befand sich in einer äußerst schwierigen Lage, besonders was die Lebensmittel betraf.

Vor allem wirkte sich dies auf die Gefangenen aus. Man begann ihnen gekochte Weizen-körner zu essen zu geben, und auch das nur entsprechend der Mindestnorm. Das führte zur Entkräftung in erster Linie derer, die bei Kolonnenarbeiten beschäftigt waren. Während der Arbeit erscheint der Mensch äußerlich gesund; dann fällt er unvermutet zu Boden, die Kör-pertemperatur sinkt stark ab,und er ist nicht nur nicht mehr in der Lage sich zu bewegen, sondern kann sich noch nicht einmal mehr auf die Beine stellen. Um nicht in die Verlegenheit zu kommen diesen Zustand Entkräftung nennen zu müssen, dachte man sich den Terminus

"Unterkühlung" aus. Mitunter befanden sich die Arbeitsplätze in mehreren Kilometern Entfernung von der Lagerabteilung. Die Arbeit der Brigaden wurde nicht unterbrochen, und die "Unterkühlten" warteten auf das Ende des Arbeitstages, - sofern sie bis dahin durchhiel-ten. Bei der Rückkehr vom Arbeitsplatz zwangen die Begleitwachen alle diejenigen, die sich noch bewegen konnten, die hingefallenen Kameraden zu tragen. Für die vom langen Arbeits-tag völlig Erschöpften war dies eine schwere zusätzliche Belastung. Sie schleiften die Bewe-gungsunfähigen (oder ihre Leichen) in die Lagerzone, warfen sie in den Schnee und eilten auseinander zu ihren Baracken. Natürlich war das grausam, aber jeder wollte zuerst sein eige-nes Leben retten.

Also wieder Leichen über Leichen. Wer hat sie gezählt?

Noch vor Beginn des vaterländischen Krieges kamen in Norilsk die ersten Gefangenen-transporte mit sogenannten "finnischen Soldaten" an. Es waren unsere Soldaten und junge Kommandeure, Teilnehmer an dem stümperhaft geplanten und faktisch verlorenen Krieg gegen die Finnen. Man beschuldigte sie aller Todsünden, um die tatsächlich Schuldigen vor dem Volk geheimzuhalten. Sie berichteten, was sie alles hatten durchmachen müssen und wie

gekränkt sie sich wegen der über sie verhängten Strafe fühlten.

Danach fand sich in Norilsk, ganz oder teilweise, die estnische Armee. Sie traf dort mit ihrem Kommandostab, einschließlich der Generalität, ein. Sie erzählten, daß sie den Befehl für ihre Verladung in einen Militärtransport, mit allen Waffenarten, erhalten hatten, um an Manövern teilzunehmen. An irgendeiner Station, deren Namen ich schon vergessenen habe, näherte sich der Transportzug der Entlade-Plattform, aber zu beiden Seiten, auf den Nachbar-Bahnsteigen, waren Maschinengewehre mit Bedienungsmannschaften aufgestellt. Beim Aussteigen aus dem Zug wurden den Esten befohlen, die Waffen abzugeben, andernfalls würden sie von den Maschinengewehren erschossen.

Nach der Entwaffnung erhielten sie den Befehl wieder in den Militärzug zu steigen. Die Waggons wurden geschlossen, auf den Plattformen und Bahnhofsvorplätzen richteten sich bewaffnete Wachen ein, und der Zug setzte seine Fahrt fort. Endstation war Norilsk. So wurde das Defizit an Arbeitskräften für die Kolonnenarbeiten aufgefüllt. Die Esten wurden getrennt von den anderen Häftlingen untergebracht, gingen in militärischer Formation zur Arbeit, langsam, aber mit exakten Schritten. Die anderen Gefangenen nannten diese Gangart scherzhaft "mit estnischem Schritt".

Nach Norilsk wurde das Kommando eines spanischen Schiffes verschleppt, wessen sie beschuldigt wurden ist nicht bekannt. Es war ein freundliches, wohlwollendes Volk, das an uns, die Häftlinge, die Kunst weitergab, aus Fäden Rohlinge für feine Frauenschuhe zu flechten. Bald putzte sich der gesamte Bevölkerungsanteil an freien Frauen mit schönen, früher bei uns nie gesehenen Schuhen heraus. Genäht wurden diese Schuhe in den Schuster-Werkstätten des Lagers.

Die Spanier hielten der Zerreißprobe des rauhen Polarklimas nicht stand und begannen krank zu werden und zu sterben. Bald wurden sie aus Norilsk abtransportiert, ebenso wie man auch die estnischen Generäle fortschaffte.

Als erheblich widerstandsfähiger unter den harten Bedingungen jenseits des Polarkreises erwies sich das russische Volk. Obwohl auch über sie das Elend hereinbrach - Skorbut, von dem ich bereits geschrieben habe. Aber da in der Tundra keine Kartoffeln wachsen, mußte man andere radikale Mittel für den Kampf gegen diese Krankheit suchen. Man begann Tannennadeln zu sammeln und aus diesen einen Aufguß zu kochen. Die Praxis zeigte, daß er im Kampf gegen Skorbut äußerst wirksam war. Die Herstellung des Suds geschah im Fließ-bandverfahren. Die Leute wurden beim erstenmal gezwungen ihn zu trinken, aber als sie von seinem Nutzen überzeugt waren, begannen alle ihn freiwillig zu sich zu nehmen.

Der Skorbut forderte auch seine Opfer. Im ewigen Frost werden die Verstorbenen so bestattet wie Mammuts. Es ist nicht auszuschließen, daß sie mit der weiteren Entwicklung der Stadt Norilsk bei Erdarbeiten vollständig erhalten ausgegraben werden.

Während des Krieges wurde das gleichmäßig verlaufende Lagerleben durch die Aufstellung und Verschickung kleiner Gefangenentransporte gestört - wohin, das ist nicht bekannt.

Auch von meinem ehemaligen Vorgesetzten, Aktengenossen und "Anwerber" verlangten sie, daß er sich für eine Etappe bereitmachen sollte. Er kam zu mir in die Baracke, um sich zu verabschieden und schlug vor, für alle Fälle sein Gesuch bei der Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR einzureichen, in dem stand, daß er mich nicht angeworben hatte, daß unsere Zeugenaussagen im Ermittlungsverfahren erzwungen worden waren. Gesagt - getan. Wir verabschiedeten uns, und danach habe ich ihn nie wieder gesehen.

Ich hatte eine äußerst bescheiden aussehende Schirmmütze mit einem recht großen Schirm. Diesen trennte ich ab, zerlegte die Pappe und schob dann dort das Gesuch Nikolaj Alexan-drowitschs hinein, zusammen mit einer Fotographie der Ehefrau und der Mutter. Den Schirm nähte ich sehr sorgfältig wieder zu und verwahrte die Mütze sorgsam bis zum Eintreffen besserer Zeiten. Während der Durchsuchungen schenkten sie meiner Schirmmütze keinerlei Aufmerksamkeit. Viele Jahre vergingen bis die Mütze die in sie gesetzte Hoffnung erfüllte.

Nach Kriegsende wurde einigen Häftlingen als Belohnung für heldenmütige Arbeit die Haft-

strafe ermäßigt. Auf Beschluß des Sonderkollegiums des NKWD der UdSSR vom 28. August 1945 wurde auch mein Strafmaß um zehn Monate verkürzt.

Im Mai 1942 wurde ich für die Verwirklichung von Rationalisierungsvorschlägen, die einen wirtschaftlichen Nutzeffekt in Höhe von 185100 Rubel mit sich gebracht hatten, belohnt. Ich zitiere einen Auszug aus der Verfügung Nr. 74 vom Norilsker Kombinat des NKWD der UdSSR: "Für gezeigte Initiative wird dem Ingenieur Gajewskij eine Prämie in Höhe von 100 Rubel mit Eintragung in seine persönliche Akte sowie Verpflegung für Ingenieur- und tech-nisches Personal ab 1. Juni zuerkannt".

In den Jahren des Krieges bestanden Häftlingsetappen, die während der Sommer-Schiffahrt nach Norilsk gelangt waren, hauptsächlich aus ehemaligen Militärs - Teilnehmern am vater-ländischen Krieg. Ich vermag nicht zu beschreiben, wie schwer sie sich die ungerechte Gewaltanwendung, die ihnen gegenüber verübt worden war, zu Herzen nahmen. Es gab auch eine andere Art von Verfolgten. Zum Beispiel Popow und Tanjew, die im Leipziger Prozeß mit unter die Strafakte des Georgij Dimitrow gefallen waren. Mit was für feindseligen Worten besannen sie sich auf ihn in ihren Unterhaltungen mit uns. Das fiel mir wieder ein, als ich in der "Prawda" (Nr. 23 vom 23. Januar 1989) einen lobenden Artikel des Doktors der Geschichtswissenschaften K. Schirin über die Tätigkeiten Dimitrows las. Unwillkürlich ent-standen Zweifel an seiner vollständigen Wahrheitstreue und Objektivität. Ähnliche Zweifel waren bei mir auch schon früher anläßlich anderer Veröffentlichungen aufgetaucht.

So wurde in der Nr. 134 der "Komsomolskaja Prawda" vom 11. Juni 1988 ein Artikel des Doktors der Geschichtswissenschaften, Professor W. Kljukin, veröffentlicht - mit der Überschrift "Sekretär des ZK". Indem er ausführlich den Lebensweg von A.I. Miltschakow, dem ehemaligen Sekretär des Zentralkomitees des Leninschen Kommunistischen Jugend-verbandes der Sowjetunion, beschreibt, stellt der Autor sich als sein einstiger Freund dar und führt sogar Zitate aus zwei Briefen von Alexander Iwanowitsch an, die tatsächlich aus dem Jahre 1967 datieren. Insbesondere schreibt er: "Von 1938 bis 1956 verbüßte er seine Haft-strafe in Magadan".

Wäre Kljukin ein alter Freund gewesen, dann hätte er zweifellos gewußt, daß Miltschakow seine Haftstrafe im Norilsker Lager verbrachte und erst kurz vor seiner Freilassung und Rehabilitierung aus Norilsk abtransportiert wurde. Der Autor des Artikels erwähnt die Ehefrau Miltschakows und äußert sein Entzücken über ihre Standhaftigkeit, ihre Weigerung sich von Alexander Iwanowitsch loszusagen, aber er erinnert mit keinem Wort an die Kinder - einen Sohn und zwei Töchter, die nicht weniger Lob verdienen. Sie hatten den Vater innig geliebt und fest an seine Unschuld geglaubt. Alle drei hatten ihm regelmäßig nach Norilsk geschrieben. Nach der Freilassung, im Jahre 1947, fuhr ich auf Bitten von Alexander Iwanowitsch nach Moskau, wohin man mich auf eine Dienstreise geschickt hatte, und übergab seiner Familie einen großen Stapel ihrer an ihn geschriebenen Briefe. Diese Briefe waren für Alexander Iwanowitsch sehr wertvoll, aber im Lager konnten sie ihm bei den Durchsuchungen fortgenommen werden. Er bewahrte die Briefe in seinem Schreibtisch in der Kombinatsverwaltung auf, wo er zusammen mit mir arbeitete.

W. Kljukin schreibt, daß "Miltschakow durch A.A. Andrejew vor dem Erschießen gerettet" wurde. Dies kann ich weder bestätigen noch widerlegen, aber daß er hochgestellte Gönner in Moskau hatte, erfuhr ich aus Gesprächen mit seiner Ehefrau Maria Ilinitschna bei der Übergabe der Briefe.Sie sagte: "Ihr seid da alle sehr unvorsichtig - nehmt mit dem Menschen Kontakt auf, der speziell auf euch angesetzt worden ist". Mir wurde sofort klar, von wem da die Rede war. In der Frauenbaracke war eine neue "Gefangene" mit Familiennamen Marzinkjewitsch erschienen, die als Maschinistin in unsere Abteilung geschickt wurde. Es wurde ebenfalls klar, weshalb sie jeden beliebigen Anlaß nutzte, um mit Alexander Iwano-witsch ins Gespräch zu kommen und mit ihm herumzukokettieren.

Auch in der Frauenbaracke gab es Objekte für spezielle Neugier - Maria Viktorowna Nanejschwili (die Ehefrau Kosarews), die Drabkina (Tochter des bekannten Revolutionärs), die nach ihrer Rehabilitierung das Buch "Schwarze Trockenbrote" schrieb, und andere Ehe-frauen und Verwandte von "Volksfeinden höherer Ränge", die nicht erschossen worden waren.

Davon, was Protektion in den oberen Sphären bedeutete, spricht auch jene Tatsache, daß die Familie Miltschakows im Regierungsgebäude wohnen blieb, an der Uferstraße, gegenüber dem Kinotheater "Udarnik". Anfang 1947 war ich dort bei ihnen. Mit Mühe fand ich zwi-schen den zahlreichen Durchgängen, von einem kleinen Hof in den anderen, ihren Treppen-aufgang und ihre Wohnung. Dort stieß ich zum ersten mal in meinem Leben auf dem Trep-penabsatz mit einem Pförtner zusammen, der mich einer Befragung unterzog - in welche Wohnung ich wollte, zu wem und aus welchem Anlaß.

Sie freuten sich über meinen Besuch, und unsere Unterhaltung dauerte bis zum Einbruch der Dunkelheit. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, ging ich über den Hof und stemmte mich gegen das verschlossene Tor, durch das ich vorher hineingekommen war. Ich begann einen anderen Ausgang zu suchen, verirrte mich vollständig zwischen den offenen und verschlos-senen Toren und fürchtete mich tüchtig, daß ich den Ausgang zur Uferstraße nicht mehr finden würde. Diese Angst erklärte sich dadurch, daß ich einen "Wolfspaß" besaß, der mich nicht berechtigte nach Moskau und in viele andere Städte zu fahren. Das einzige Dokument, das ich überall vorzeigte, war der Dienstreise-Ausweis, unterschrieben vom Leiter des Norilsker Kombinats des NKWD derUdSSR. Das war mein Talisman, der mir viele Türen öffnete.

Unverständlich klingen für mich die Worte Kljukins: "Die Gesundheit gestattete es Miltschakow nicht, zum Dienst zu gehen". Konnte der Freund denn nicht wissen, daß Miltschakow nach seiner Rehabilitierung das Gewerkschaftskomitee für technische Bildung leitete?

Ich kam für mich zu dem Schluß, daß Kljukin erst zu dem Zeitpunkt Miltschakows "Freund" wurde, als eine solche Freundschaft aufhörte gefährlich zu sein. Von Alexander Iwanowitsch hörte ich während der Jahre unseres gemeinsamen Verbleibs im Norilsker Lager, beim tägli-chen Umgang mit ihm während der Arbeit und in der Baracke, nicht ein einziges Wort über einen derartigen Freund.

Vielleicht handelt es sich nur um äußerst vorsichtiges Verhalten? Er erzählte von seinen Begegnungen mit Stalin, daß der ihn Miltschak nannte, aber seine heftig mißbilligenden Gedanken sprach er nicht aus. Das war zweifellos eine Vorsichtssmaßnahme.

Als der Zeitpunkt der Freilassung heranrückte, machte ich mit Hilfe der Mutter, meine Ehefrau ausfindig, setzte mich brieflich mit ihr in Verbindung und erhielt die Erlaubnis der Kombinatsleitung, daß sie nach Norilsk reisen und dort wohnen durfte.

Sie kam etwas früher nach Norilsk geflogen als ich von dort wegging. Ein paar Freunde, die bereits früher freigelassen worden waren, gewährten ihr Unterkunft und halfen ihr, eine Arbeit zu finden. Ich, der ich zu der Zeit von meinem Recht Gebrauch machte, nicht mehr unter Wachbegleitung herumzulaufen, besaß die Möglichkeit, mich täglich mit ihr in Ver-bindung zu setzen.

Am 13. Januar 1947 wurde ich in die Freiheit entlassen, unter Berücksichtigung der zehnmonatigen Strafmaßminderung. Im Lager erhielt ich eine Entlassungsbescheinigung, in der angegeben war, daß ich an den "gewählten" Wohnort, in die Siedlung Norilsk, Region Krasnojarsk, fahren würde, die zu dem Zeitpunkt noch keine Stadt war. Nach der Freilassung blieb ich im gleichen Amt tätig, aber nun in meiner Eigenschaft als Freier.

Ich wurde ein Freier, aber nicht so, wie all die anderen. Weil mir laut Urteil für fünf Jahre all meine Rechte entzogen worden waren, erhielt ich lediglich ein Gehalt gemäß Stellenplan, ohne Vergünstigungen, wie sie für Mitarbeiter im Hohen Norden vorgesehen waren. Das machte einen erheblichen Betrag aus.

In einer Dreizimmerwohnung bekam ich ein kleines Zimmer. Alles mußte angeschafft werden - Möbel, Kleidung, Geschirr. Meine Frau kam mit dem Flugzeug in einer viel zu engen und kurzen Jacke, die für das Klima jenseits des Polarkreises überhaupt nicht geeignet war. Viele Ausgaben standen uns bevor, aber der Lohn war bei beiden für norilsker Begriffe nicht hoch.

So mußten wir mehr als bescheiden leben.

Eine Dienstreise nach Moskau und Kiew wurde dringend erforderlich, mit dem Auftrag, in Kiew notwendige Ersatzteile und Ausrüstungsgegenstände für das Kombinat zu beschaffen und sie nach Norilsk zu verladen. Das war für mich eine völlig unerwartete glückliche Gelegenheit, meine Mutter wiederzusehen und eine zeitlang bei ihr zu wohnen.

Da die Ausführung des Auftrags sich als sehr schwierig erwies, mußte ich in Kiew mehr als sechs Monate bleiben. Die Ersatz- und Ausrüstungsteile lagen unordentlich auf dem Gelände des im Bau befindlichen Zementwerks herum. Es waren Arbeiter nötig, um die Sachen zu sortieren und zu vervollständigen, aber die Werksdirektion war nicht in der Lage, welche zur Verfügung zu stellen. Aus Norilsk empfahl man mir mich an den ehemaligen stellvertretenden Leiter des NorilLag zu wenden, Oberst Romantschuk, der in Kiew als Leiter eines Kriegs-gefangenenlagers tätig war. Ich machte ihn ausfindig und überredete ihn zu einer Zusam-menkunft bei ihm zuhause. Er empfing mich freundlich, erkundigte sich über Veränderungen, die nach seinem Fortgang aus Norilsk durchgeführt worden waren und versprach mir zwanzig deutsche Kriegsgefangene zuzuteilen, aber ich müßte sie mit meinen eigenen Transportmitteln aus dem Lager und auch wieder zurück bringen und auch dafür Sorge tragen, daß sie ihr Mittagessen bekämen. Die Direktion des im Bau befindlichen Zementwerkes war im Besitz von importierten Lastkraftwagen, die für die Beförderung von Personen ausgerüstet waren, nur Benzin gab es nicht. Ich mußte mich an die Vertretung des NKWD in Kiew mit der Bitte wenden, mir das nötige Benzin zuzuteilen; die Kosten würden mit Geldmitteln des Norilsker Kombinats beglichen werden. Wie man sagt, läßt sich ein Märchen schnell erzählen, aber eine Sache ist nicht schnell getan. Mit diesen unaufhörlichen Scherereien, mit Fahrten zur Erdöl-Station, zum Kriegsgefangenenlager und anderen Behörden, vergingen (wie ich ich bereits schrieb) mehr als sechs Monate, zur größten Freude meiner Mutter.

Zu jener Zeit wurde das Brot auf Lebensmittelkarten ausgegeben, die ich in der NKWD- Verwaltung erhielt. Jedesmal brachte der austeilende Hauptmann sein Erstaunen darüber zum Ausdruck, weshalb ich zum Erhalt der festgelegten Verpflegungsmenge nicht mein Offiziers-zeugnis (für einen solchen hielt er mich) vorlegte. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn ich ihm gesagt hätte, daß ich ein ehemaliger Strafgefangener, ein Konterrevolutionär, war, dem man alle Rechte entzogen hatte. Zum Glück hatte ich nichts mit der Miliz zu tun, denn ich wohnte bei der Mutter ohne polizeiliche Anmeldung.

Ich lebte, arbeitete, führte den mir erteilten Auftrag aus und befand mich ständig in einem Zustand nervlicher Anspannung, als ob ich mich in illegalen Verhältnissen befand.

Einige Male mußte ich noch beim Oberst Romantschuk erscheinen. Der Balkon seiner Wohnung befand sich über dem Gelände, an das die Kiewer Diözese angrenzte.

Er führte mich hinaus auf diesen Balkon und erzählte mit einem Gefühl von unverhohlenem Neid, wie schön der Metropolit wohnte, wieviele Autos und Bedienstete er besaß, usw.

In dem ihm unterstellten Kriegsgefangenenlager herrschte Sauberkeit und mustergültige Ordnung. Zur Arbeit gingen Soldaten, die von Offizieren herumkommandiert wurden, und es herrschte eine eiserne Disziplin.

Endlich war die ausgewählte Ausrüstung verladen. So ging meine langwierige Dienstreise zuende, mein erster Fortgang in die große weite Welt nach fast zehn Jahren Gefangenschaft. Ich kehrte nach Norilsk zurück.

Innerhalb kurzer Zeit begann die Ordnung im Norilsker Lager strenger zu werden. Die Volksfeinde wurden aus allen Lagerabteilungen herausgenommen und in einem gemeinsamen Lager mit strenger Anstaltsordnung konzentriert, das man aus unverständlichen Gründen "Berglager" nannte. Keine Arbeit gemäß den fachlichen Fähigkeiten, kein Ausgang ohne Begleitwachen, keine neue Kleidung und Schuhe, keine Sonder-Verpflegung für Ingenieur- und technisches Personal - nur Kolonnenarbeiten unter strikter Bewachung.

In dieses Lager geriet auch ein von mir sehr verehrter Mann, ein Kommunist von hohem Dienstalter und mit großen Verdiensten - Anatolij Nikolajewitsch Slobin, der zu fünfzehn Jahren verurteilt worden war. Er arbeitete in jener Abteilung, in der Miltschakow und ich arbeiteten. Er hatte bei weitem keine eiserne Gesundheit.

Einige Zeit später gelang es mir durch den Arzt ein Wiedersehen mit ihm zu organisieren. Das Treffen war sehr unangenehm. Anatolij Nikolajewitsch betrat das Dienstzimmer des Kranken-hauses im Bademantel und hielt mit beiden Händen seinen riesigen Bauch, der bei jeder Bewegung vor lauter Flüssigkeit gluckste.

Worte des Mitleides (des Mitgefühls) oder der Hoffnung auf Genesung wären eine grausame Taktlosigkeit gewesen. Er hatte die Ausweglosigkeit seiner Lage begriffen. Wir unterhielten uns ein wenig über abstrakte Themen und ich händigte ihm das mitgebrachte - laut Lagerord-nung verbotene - Paket aus. Kräftig schüttelten wir einander die Hände - und nahmen für immer Abschied. Bald darauf starb er. Verwandte oder Bekannte besaß er nicht, es gab niemanden den man hätte benachrichtigen können.

Dieser Tod hat mich so erschüttert wie keiner der anderen zahllosen Todesfälle, deren Zeuge ich während meines Lageraufenthaltes werden mußte.

Meine Frau und ich gingen zur Arbeit und machten nach und nach ein paar Anschaffungen.

Wir bekamen eine separate Einzimmerwohnung, die recht geräumig war, in dem zuallererst in Norilsk gebauten Dreietagen-Wohnhaus. 1949 wurde unser Sohn geboren; zur Geburt fuhr meine Frau nach Kiew. Er ist nicht unser Norilsker, sondern unser Kiewer. Er lebte haupt-sächlich in Kiew, bei der Großmutter. Sie kamen mit dem Flugzeug zu uns auf Besuch.

Am meisten versetzte die Großmutter der Polarsommer in Erstaunen, an den sie sich irgend-wie überhaupt nicht gewöhnen konnte. Wie kann man denn schlafen, wenn die Sonne scheint?

Anfang 1951 wurde ich zur Miliz bestellt. "Ihr Paß!" Vor meinen Augen wurde er in Stücke zerrissen und in den Papierkorb geworden. Mir wurde erklärt, daß ich auf Beschluß des Sonderkollegiums beim Ministerium für Staatssicherheit der UdSSR nun in den Verban-nungsstatus übergehen würde und nicht das Recht hätte, mich über die Grenzen von Norilsk hinaus zu entfernen und mit der Verpflichtung, mich einmal monatlich registrieren zu lassen. Ich durfte nicht einmal zum Flugplatz, um meine Frau dorthin zu begleiten oder in Empfang zu nehmen.

Das war die nächste nervliche Erschütterung.

1953 verbrachte ich den Urlaub zuhause. Plötzlich höre ich im Radio vom Tode Stalins.

Sofort keimte in mir die Hoffnung auf, daß sich nun die Lage für die Verfolgten zum Besseren ändern könnte. Als sich erste Vorzeichen für diese Besserung zeigten, trennte ich den Schirm meiner Lager-Mütze ab und zog das Gesuch Nikolaj Alexandrowitsch Alejews heraus, der mit mir in gleicher Angelegenheit verurteilt worden war. Ich schrieb das Gesuch an die Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR mit dem Hinweis, daß ich die Übereinstimmung des hier geschriebenen Gesuchs mit dem Original bezeugen und es dem örtlichen Staatsan-walt vorzeigen oder eine beglaubigte Kopie davon hinschicken könnte. Ich hatte Angst, das Original aus den Händen zu geben.

Es verging eine ziemlich lange Zeit, bis ich zur Staatsanwaltschaft bestellt wurde. "Sie haben nach Moskau geschrieben?" - "Ja, das habe ich". Es fand eine kurze Unterhaltung statt, in deren Verlauf ich das von mir mitgenommene Gesuch Alejews vorzeigte. In keinem Protokoll wurde diese Vernehmung schriftlich festgehalten. "Warten Sie auf die Ergebnisse aus Moskau".

Die Zeit verstrich, ich wurde nicht mehr zur Staatsanwaltschaft bestellt und erhielt auch keinerlei Mitteilungen aus Moskau.

Ende des ersten Quartals 1955 erhielt ich turnusmäßigen Urlaub und entschloß mich auf eigene Faust nach Moskau zu fahren. In Moskau ließ ich mich bei den Eltern eines Lager-kameraden nieder - natürlich ohne polizeiliche Anmeldung. Wieder befand ich mich in einer illegalen Situation, und diesmal ohne den "Talisman" des NKWD.

Um die Haupt-Militärprokuratur, die in der Kirow-Straße untergebracht war, stand eine Schlange - länger als die, in denen man heute nach Wurst ansteht - alles Leute wie ich, "Volksfeinde" oder deren Verwandte.

Ich wartete bis ich an die Reihe kam, geriet an den Mann, der die Sprechstunde abhielt, und wartete bange auf die Frage: "Und wie sind Sie eigentlich nach Moskau gekommen, obwohl Ihnen die Einreise hierher verboten ist?" Aber er stellte diese Frage nicht, sondern hörte mir aufmerksam zu. "Ich werde Ihre Akte anfordern, kommen Sie in zehn Tagen wieder".

Nach Ablauf dieser Zeit ging ich erneut dorthin. Man sagte mir: "Wir haben Ihre Akte erhalten und werden sie nun prüfen, kommen Sie in zwei Wochen wieder".

Beim dritten Mal stand der Mann, der mich im Sprechzimmer empfing, auf, kam um den Tisch herum, streckte mir die Hand entgegen und sagte: "Alexander Alexandrowitsch, ich beglückwünche Sie, wir haben gegen Ihr Urteil Einspruch erhoben, und die Angelegenheit wurde an das Militär-Kollegium des Obersten Gerichts weitergeleitet, an das Sie sich nun wenden müssen".

Es begannen systematische Besuche beim Militär-Kollegium. Endlich, Anfang Juli, erhielt ich eine Bescheinigung datiert vom 30. Juni 1955. Ich zitiere den Text in voller Länge.

"Die Strafsache bezüglich der Anklage des Alexander Alexandrowitsch Gajewskij wurde vom Militär-Kollegium des Obersten Gerichts der Sowjetunion am 25. Juni 1955 überprüft. Das Urteil des Militär-Kollegiums vom 10. März 1938 und die Anordnung des Sonderkollegiums beim Ministerium für Staatssicherheit der UdSSR vom 9. Dezember 1950 gegen A.A. Gajewskij wurden erneut überprüft, die vorliegenden Begleitumstände für ungültig erklärt und das Verfahren aus Mangel an Tatbeständen eingestellt. Gezeichnet: der Vorsitzende des Militär-Kollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR, Generalleutnant der Justiz A. Tschepzow".

Ich platzte fast vor freudiger Erregung, stürmte los ins Notariatsbüro und machte von dem mitgebrachten Dokument zehn Fotokopien. Dann schritt ich durch Moskau wie ein allen gleichberechtigter Bürger, der nun formal das Recht besaß, im Personal-Fragebogen die Frage über frühere Verurteilungen mit dem Vermerk "nicht vorbestraft" zu beantworten.

So verwirklichte sich die Vorhersage des Juristen Gurjewitsch, die er 1939 im Kustanajer Gefängnis getroffen hatte.

Bei meiner Freilassung 1947 erhielt ich von den von mir verdienten Lohngeldern 2561 Rubel und 63 Kopeken ausbezahlt und bekam außerdem: eine Steppdecke, eine Strohsack-Matratze, ein Bettuch und einen Kissenbezug.

Nach der Rehabilitierung erhielt ich als Wiedergutmachung zwei Monatsgehälter, ohne Einbehaltung der Einkommensteuer, gemäß der letzten Dienststellung, die ich vor der Verhaftung bekleidet hatte. Die verlorenen Lebensjahre und die Gesundheit unterliegen keiner Entschädigung.

Meine Ehefrau bekam als Familienmitglied eines Volksfeindes für den Aufenthalt im Gefäng-nis und in der Verbannung keinerlei Kompensation.

Nach der Rehabilitation arbeitete ich in Norilsk noch zwei Jahre weiter und sparte, mit der Wiederherstellung aller festgesetzten Vergünstigungen, ein wenig Geld zusammen. 1957 wollte ich mit meiner Frau über Krasnojarsk nach Kiew fahren, denn wir beabsichtigten uns dort niederzulassen. Als wir in Krasnojarsk angekommen waren, erhielt ich ein Einstellungs-angebot für eine Krasnojarsker Sowjet-Volkswirtschaft, die zu dem Zeitpunkt gerade organi-siert wurde. Nachdem ich mit meiner Frau beratschlagt hatte, beschlossen wir, daß wir uns lieber nach und nach an den Klimawechsel gewöhnen und daher zwei bis drei Jahre in Krasnojarsk bleiben wollten.

Aber wir "wuchsen" in Krasnojarsk so an, daß wir bis nach Kiew gar nicht mehr kamen. Meine Frau liegt bereits in Krasnojarsker Erde begraben,und nun bin ich dran.

Aus einem Volksfeind verwandelte ich mich in einen Volksdiener - einen Abgeordneten. Bis 1982 arbeitete ich in leitenden Stellungen und ging dann in den wohlverdienten Ruhestand.

Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, dann meine ich, auch wenn dies paradox erscheinen mag, daß ich in diesem Leben Glück hatte. Damit, daß ich mit vielen klugen, gebildeten, auf-richtigen und in höchstem Maße ordentlichen Menschen zu tun hatte, von denen ich eine Menge lernte. Unter ihnen darf man den Doktor der Wissenschaften Urwanzew nicht unerwähnt lassen, der die Expedition zur Erforschung der Norilsker Bodenschatz-Fundstätten leitete, später offiziell zum Volksfeind ernannt wurde und seine Haftstrafe im Norilsker Lager verbrachte. Es gelang mir noch einmal ihn in Norilsk zu treffen, als er als Ehrengast zur

25-Jahrfeier des Kombinats dorthin gekommen war.

Ich hatte auch damit Glück, daß ich überlebte, mit meiner Frau wieder zusammengeführt wurde, einen guten Sohn und Enkel habe. Auch damit, daß ich bis zu einer Zeit leben konnte, in der der Vergangenheit eine richtige und objektive Beurteilung widerfährt. In der ent-schlossene Schritte zur Korrektur von Fehlern, die in der schlimmen Vergangenheit gemacht wurden, unternommen werden. Ich bedaure nur, daß der aktive Teil des Lebens zuende ist, daß ich mich in einen bloßen Beobachter verwandelt habe.

Ich möchte hoffen, daß meine Nachfahren bessere Zeit erleben. jedoch quälen mich Zweifel. Das Land ist in jeder Beziehung an eine verhängnisvolle Grenze geführt worden, das Volk bis auf das Äußerste demoralisiert. Es ist ein geheimer, aber buchstäblich erbitterter, Widerstand gegen den Übertritt zu einem normalen menschlichen Leben zustande gekommen. Leider gibt es zuviele Menschen, die Angst davor haben, ihre grenzenlose Macht und ihre Möglichkeiten zu verlieren.

Es gelang mir noch mehrere Male dienstlich nach Norilsk zu reisen, und auch als Gast zu den Jubiläumsfeierlichkeiten anläßlich des 25- und 30-jährigen Bestehens des Norilsker Kombi-nats. Jedesmal wenn ich dort eintraf bemerkte ich, wie schnell die Stadt Norilsk wächst und wie sehr sich die ökologische Situation verschlimmert. Die Stadt riecht nach Schwefel und anderen Gasen. Durch die Sewastopol-Straße, in der sich das Haus befindet, in dem ich gewohnt habe, kann man jetzt nicht mehr spazieren, besonders nicht an Tagen, an denen der Wind aus dem Industriegebiet herüberweht. Die die Stadt umgebende Tundra, in die man hinausging, um weiße Rebhühner zu schießen, wurde zur Todeszone.

Zum Abschluß möchte ich erwähnen, daß der Wille des Schicksals mich dreißig Jahre nach meiner Verhaftung aus dienstlichen Gründen für einige Zeit nach Alma-Ata führte.

Ich erkannte die Stadt nicht wieder, so sehr hatte sie sich in diesen Jahren verändert. Nicht ohne Mühe machte ich das Haus ausfindig, in dem ich gelebt hatte. Ich war auch in dem Haus, wo die Abteilung für Frachtwesen der OGPU untergebracht gewesen war, in dessen Keller die Zellen der Untersuchungshäftlinge untergebracht gewesen waren. Dieses Haus gehörte bereits der militarisierten Wache der Turkestan-Sibirien.Eisenbahn. Ich ging zum Eingang, wo ich niemandem begegnete und stieg die Treppe, auf der ich dreißig Jahre zuvor mit den Händen die herunterrutschende Hose festgehalten hatte, zum Keller hinab.

Der Kellergang war hell erleuchtet und vollgepackt mit irgendwelchen Formular-Bündeln und anderen Gegenständen für hauswirtschaftliche Zwecke. Die Türen der ehemaligen Zellen waren verschlossen, nur die massiven Eisenriegel waren verschwunden, die, vor allem nachts, mit ihrem unheilverkündenden Klirren gedröhnt, die Häftlinge geweckt und zum Zittern gebracht hatten. Auch das war ein Element psychologischer Einflußnahme gewesen.

Auf der Treppe wurden Schritte hörbar, und im Korridor erschien ein Mann in Zivilkleidung. Ich grüßte ihn und fragte: "Wissen Sie eigentlich, was vor dreißig Jahren in diesem Keller war"? Er schien befremdet. Ich sagte, daß hier ein Untersuchungsgefängnis war und zeigte ihm die Zellentür, hinter der ich hatte sitzen müssen. Er sagte, daß er davon gehört hätte und bekundete sein Mitgefühl. Damit trennten wir uns. Die Erinnerungen strömten zusammen.

Ich erinnere mich an zwei Nachnamen - den Lehrer Litowtschenko und den Studenten Fen.

Und da, ganze dreißig Jahre später, begriff ich, daß sie Informanten gewesen waren, die man speziell auf mich angesetzt hatte.

Damit kann der Schlußpunkt in den Erinnerungen über die Vergangenheit gesetzt werden. Gerade bin ich dabei Material über unsere jetzige Zeit zu sammeln. Vielleicht wird das für meinen Sohn oder meinen Enkel einmal brauchbar sein.

A N M E R K U N G E N

1. Dies war eine der Stationen zwischen Jemzeja und Permilowo. Die Holzfabrik bafand sich nördlich davon, an der Station Permilowo.

2. Der Lehrer Jakuschkin von der Ostchinesischen Eisenbahnlinie wurde im Herbst 1936 verhaftet. Sein Neffe trug einen anderen Nachnamen.

3. W.K. Dymnitsch, ungefähr 1905 geboren, wurde in der Angelegenheit der "ukrainischen Nationalisten" aus der Ukraine verbannt. Er wurde in der ersten Hälfte 1937 verhaftet.

4. N.A. Alejew, geboren etwa 1895. Im Gefängnis von Kustanaj saßen er und A.A. Gajewski in verschiedenen Zellen, gerieten aber mit ein und derselben Etappe ins NorilLag. Er arbeitete dort nur bei Kolonnenarbeiten. 1942-1943 wurde er aus der 3. Lagerabteilung des NorilLag fortgeschickt.

5. An jenem Tag wurde die Mutter der Ehefrau von A.A. Gajewskij verhaftet, Deutschlehrerin am Polytechnikum - Anna Awgustowna Merz, Deutsche, geboren etwa 1880. Über ihr Schicksal ist nichts bekannt.

6. Polen waren nicht unter ihnen, es waren alles Ukrainer.

7. Professor Bobkow würde bereits im März 1938 zu Verhören geführt, das Militärkollegium verurteilte ihn nicht.

8. Ins innere Gefängnis des NKWD wurde A.A. Gajewskij Anfang Februar 1938 gebracht.

9. Unter den Zellen-Häftlingen war auch ein gewisser Scherdezkij, Organisator der Pferdezucht. Das Militär-Kollegium verurteilte ihn Ende Februar oder Anfang März. Vermutlich wurde er erschossen.

10. Die Etappe zum Taschkenter Durchgangsgefängnis ging etwa im Juli 1838 los. Sie bestand aus 50-60 Personen.

11. In der Zelle im Gefängnis von Kustanaj standen durchgehende, einstöckige Pritschen. Als sie den Gefangenentransport ins Gefängnis brachten, waren dort schon etwa 5 Häftlinge, darunter der Jurist Gurjewitsch (der älter als 60 Jahre aussah). Im Gefängnis von Kustanaj gab es auch Frauenzellen. Die Aufseher organisierten für diejenigen, die das wollten, ein Stelldichein (in den leeren Zellen), und das war ganz unentgeltlich.

12. Zawgorodnij geriet im NorilLag nicht in die 3. Lagerabteilung, sondern in irgendeine andere.


Zum Seitenanfang