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Alexander Davidowitsch Gorr. Erinnerrungen 2

Heute wird im Russischen Radio die Sendung „Deutsche Freiheit“ übertragen – über Russland-Deutsche, die seit Jahrhunderten an der Wolga leben. Vor Ausbruch des Großen Vaterländischen Krieges nahm die Republik der Wolgadeutschen mit seiner Bevölkerungszahl von über einer Million Menschen den führenden Platz in der UdSSR in puncto wirtschaftlicher Entwicklung und Bildung ein, wobei die Kultur und Folklore vergangener Generationen seit den Zeiten der Zarenherrschaft Katharinas der Großen gewahrt blieben. In der Erinnerung sind die Kindheitsjahre geblieben, als wir in der Siedlung einer Sowchose, 60 km von Saratow entfernt, lebten. Nach der Verhaftung des Vaters im Jahre 1937 zogen Mama und ich nach Saratow um und wohnten dort beim Bruder meines Vaters und der Schwester meiner Mutter (die Schwestern waren mit zwei Brüdern verheiratet).

Eine sogenannte „Trojka“ verurteilte den Vater zu 10 Jahren. Er arbeitete in einem Holzfäller-Lager an der Eisenbahnstation Suchobeswodnaja im Gebiet Gorkij. Später wurde der Vater vorzeitig entlassen, und dann 1942 zur Trudarmee ins Kusnezker Becken geschickt. Wir hofften, dass wir in Sibirien unseren Verwandten begegnen würden, denn alle Deutschen waren aus dem Wolgagebiet ausgesiedelt worden. Allerdings war das ein sehr naiver Gedanke, denn die Züge mit den „russischen Deutschen“ fuhren auch ins Altai-Gebiet, nach Kasachstan, Kirgisien und in den Ural, aber damals wussten wir das noch nicht, und wir wussten auch nicht, dass wir uns später lange Zeit im gesamten Land suchen würden…. Leichter war es da schon für diejenigen, die beispielsweise in Saratow einen Angehörigen zurückbehalten hatten. Mamas Schwester, Tante Katja, war mit einem Russen verheiratet, und deswegen wurde sie nicht ausgesiedelt. Aber die russischen Frauen (wie meine Schwiegermutter Jewdokia Fjodorowna Kaplina) teilten das bittere Schicksal ihrer deutschen Ehemänner…. Aber Tante Katja, die in Saratow zurückgeblieben war, nahm im Krieg die Kleinen auf ihre Arme (wir hatten Zwillinge) und reihte sich vor den Geschäften in die Schlangen ein. Das Ganze endete damit, dass man sie vorließ … Aber auch sie bekam nicht wenig Unheilvolles ab.

Alle Deutschen hatten während des Krieges zu leiden, selbst diejenigen, deren Väter und Ehemänner an der Front kämpften. Die Familie meiner Frau Tamara ist ein Beispiel dafür. Konstantin Lejmann ging in den ersten Kriegstagen als Freiwilliger an die Front. Im September 1941 wurden seine Ehefrau Jewdokia Fjodorowna, die Töchter Olja, Tamara und Lida in die Region Krasnojarsk verschleppt – in die Bezirksstadt Jermakowo. Man brachte sie bei einer Lehrerin unter, mit der sie freundlich und in gegenseitigem Respekt wohnten. Jewdokia Fjodorowna hatte Glück: sie fand eine Arbeit als Rechnungsführerin in der Kooperative, wo, wie sich herausstellte, der Genosse Kostja Lejmann als Oberbuchhalter tätig war, mit dem ihr Ehemann bis zur Entkulakisierung in den 1930er Jahren zur Schule gegangen war - seinen Klassenkameraden hatten sie bereits damals nach Sibirien geschickt. Da kann man mal sehen, was für Zufallsbegegnungen es mitunter im Leben gibt! Er setzte sich verstärkt dafür ein, dass die Familie seines Freundes sich einigermaßen gut einleben konnte: er half ihnen dabei, den Gemüsegarten aufzugraben, Kartoffeln zu pflanzen und im Wald Brennholz für den Winter zu beschaffen…

Man zeigte der Familie des Frontsoldaten gegenüber keinerlei Nachsicht und gewährte ihnen auch keine Vergünstigungen, weder während des Krieges noch danach, als plötzlich die Mitteilung über den Tod Konstantin Lejmanns eintraf…

Ãîðð Òàìàðà ÊîíñòàíòèíîâíàAnfang der 1940er Jahre mobilisierten Vertreter des MWD die Sonderumsiedler für den Fischfang in Lewinskie Peski. Auch die Familie Lejmann war davon betroffen. Es halfen weder Beweise und Bescheinigungen über den Gesundheitszustand, noch die Nachricht über den Tod des Ehemannes. Und da wandte sich Jewdokia Fjodorowna an den Leiter der Miliz im Gebiet Kiseljew. Er hörte der Witwe aufmerksam zu, rief in ihrer Anwesenheit den Kommandanten Sisman an und befahl diesem, die Familie in Ruhe zu lassen. Später mussten Schwiegermutter und Ehefrau immer wieder unter Tränen an diese Geschichte denken – so viel Aufregung und Demütigung erfuhren sie im Umgang mit dem Kommandanten. Übrigens, als die Kommandantur nicht mehr von Nöten war, wurde er aus den Organen entlassen. Später sahen sie ihn in Krasnojarsk wieder – er war Hilfsarbeiter in einer Fabrik, etwas anderes konnte er nicht. Aber bis zu dem Zeitpunkt demonstrierte er meiner Frau Tamara nicht nur einmal, wer der Herr im Haus war. Sie war Finanzinspektorin des Bezirks und bekam für jede Fahrt in der Kommandantur die entsprechende Reiseerlaubnis. Wenn Sisman mit dieser Prozedur an der Reihe war, dann brachte er sie jedes Mal zum Weinen, als er versuchte, die absolute Notwendigkeit ihrer Abwesenheit zu klären. Außerdem reagierte er auf Tränen stets mit den völlig unverständlichen Worten: „Da sieht man, wie wenig Sie die Sowjetmacht mögen. Offenbar personifizierte er sich selber vor allen Dingen mit ihr.

… Das schwierige Leben richtete Jewdokija Fjodorownas Gesundheit zugrunde; 1960 starb sie und wurde in Dudinka beerdigt… Unter schwierigsten Bedingungen hat sie ihre Familie behütet, Kinder großgezogen und an sie ihren Sinn für Fleiß, Mitgefühl für andere Menschen und die Überzeugung weitergegeben, dass es keine Welt ohne gute Menschen gibt …

Ich habe von dem keineswegs leichten Schicksal meiner Ehefrau Tamara und ihrer Verwandten berichtet. Ein nicht weniger schweres Los entfiel auf meine Eltern und uns, die Kinder. Ich war noch ein kleines Jungchen, als sie uns in beheizbaren Waggons (Güterwagen) unter der Bewachung von Soldaten ins Unbekannte, Ungewisse abtransportierten. Aufgrund meines geringen Alters wunderte ich mich darüber nicht sonderlich, vielmehr verblüfften mich die offenen Waggons – eine Art Gondeln mit Wachleuten in jeder Ecke, in denen Häftlinge befördert wurden. Während der Zugaufenthalte baten sie, häufig auch auf Deutsch, um Brot. Trotz aller Verbote und Drohungen wurden den Unglücklichen ab und an ein Stück Brot zugeworfen…


A.D. Gorr mit seinenEltern

Natürlich hätte ich niemals geglaubt, dass ich bald darauf in eine ebensolche Situation geraten könnte. Unser Zug traf nach zehn Tagen in tiefster Nacht in der Stadt Kansk ein. Von der Bahnstation brachten sie uns in Klubgebäude und Wohnheime. Ungeachtet der Nachtzeit wurden wir in den Straßen von der neugierigen Bevölkerung in Empfang genommen – für sie war es interessant „lebendige Deutsche“ zu sehen. Die meisten von ihnen hatten keine Vorstellung davon, dass wir „Russische“ waren. Nach einem zuvor ausgedachten oder ausgearbeitetem System gingen die Kolchosen- und Sowchosen-Leiter des Bezirks zu den jeweiligen Stützpunkten , um dort ihre künftigen Arbeitskräfte auszuwählen. Mein Vater mit all seiner Lebenserfahrung wusste, dass man in der Sowchose für die geleistete Arbeit auch Geld bezahlte – man erhielt einen Lohn.

Wir fuhren in die Ortschaft Tschetscheul – eine große Getreidesowchose mit mehreren Abteilungen. In der Gemeinschaftsbaracke wurde uns ein Zimmer zugewiesen. Vater fertigte hölzerne Liegestellen und einen Tisch an; hier verbrachten wir den Winter 1941/42. Im April 1942 holten sie den Vater in die Arbeitsarmee, und ich lebte bis zum Sommer mit der Mutter zusammen. Schulunterricht gab es nur bis zur vierten Klasse, und ich musste ein Schuljahr ausfallen lassen. Ich war ein großgewachsener Jugendlicher, und deswegen nahmen sie mich zum Arbeiten an – ich sägte Brennholz, beförderte auf Pferden und Ochsen schwerere Lasten: Nutzholzabfälle, Bretter, Heu. Gleichzeitig war ich als Viehwärter in einem Kuhstall mit 150 Stück Vieh tätig. Jeden Tag brachte ich Kannen mit Milch nach Kansk. Oft wurde sie dort wegen ihres überhöhten Säuregehalts nicht angenommen, dann musste ich sie wieder zurückbefördern und in der Arbeiterkantine abliefern. Es kam die Zeit des Erwachsenwerdens. Wir, die Kinder, prallten immer häufiger mit der Wirklichkeit des nicht gerade leichten Lebens zu Kriegszeiten zusammen. Es war eine sehr besorgniserregende Zeit, an jedem neuen Tag kamen Heeresberichte von der Front, und die waren äußert unerfreulich.

Die Ortseinwohner benahmen sich den Umsiedlern gegenüber normal. Mit unseren Altersgenossen kamen wir immer an demselben angenehmen Ort zusammen – im Kesselhaus der Mechaniker-Werkstatt. Es gab kein Rowdytum, wenngleich in der Sowchose auch elternlose Kinder untergebracht waren. Am Neujahrsabend 1942 ging eine große Gruppe zu Fuß zehn Kilometer weit bis nach Kansk, um dort einen bedeutsamen Film über die vernichtende Niederlage der Deutschen bei Moskau anzuschauen …

Mit Beginn des Sommers 1942 bestätigten sich die seit langem „kursierenden“ Gerüchte: die arbeitsfähigsten Umsiedler mit wenig Kindern wurden zusammengeholt und in den Norden verschickt, wo sie beim Fischfang eingesetzt werden sollten. Auch Mama und ich gerieten in diese Gruppe. Wieder packten wir unser Hab und Gut zusammen und fuhren mit der Eisenbahn zunächst bis nach Krasnojarsk. Während wir an der Station Slobino auf ein Schiff warteten, arbeiteten wir im Binnenhafen, wo wir Getreide verluden. Das war zwar eine schwere Arbeit, aber dafür wurden wir in der Kantine gut verpflegt. In aller Eile und dichtem Gedränge wurden wir schließlich auf den Dampfer „Josef Stalin“ verfrachtet. Es gab viele Passagiere, mehr als gewöhnlich. Nacht für Nacht kam das Problem auf, wo die Leute schlafen sollten. Eine wahre Jagd erfolgte auf die Fußbodenplätze im Korridor zwischen den Kajüten. Eine bedrückende Stimmung entstand, als man die Menschen einfach am unbewohnten Ufer an Land setzte. Wir hatten Glück. Am 12. September 1942 ließ man unsere Gruppe am Ufer des Jenisej in der kleinen Siedlung Potapowo von Bord gehen. Es war ein kalter Herbsttag mit leichtem Nieselregen. Zum ersten Mal sahen wir Tschums (traditionelle Behausung der Chanten, Mansen und Nenzen; es besteht in der Regel aus einem Gerüst aus Holz und wird mit Fellen oder Stoffen, ursprünglich auch mit Birkenrinde abgedeckt; Anm. d. Übers.) und Einheimische. Wir waren erstaunt, dass sie im Sommer mit ihren Rentieren umherzogen, die vor Schlitten gespannt waren. Unser sesshaftes Leben begann. Insgesamt verbrachte ich zehn lange Jahre an diesem Ort.


Von links nach rechts: Olga, Alexander Gorr, Jewdokia Fjodorowna Leiman (Kaplina),
D.A. Gorr, Ehefrau von Alexander und Tamara Konstantinowna, Jewdokia Fjodorownas Tochter

Dann setzte der Winter ein, und wir wussten nicht. wo wir wohnen sollten. Wir begannen am Fuße eines Berges Erdhütten zu graben, wobei kleine Birken, Purpurweidenzweige sowie Moos für das Dach zum Einsatz kamen. Nur gut, dass wir uns dafür entschieden hatten, die Türen so einzubauen, dass sie sich nach innen öffneten, andernfalls wäre es unmöglich gewesen während der Winterzeit ins Freie zu gelangen, denn die im Boden liegenden Behausungen wurden dann vom Schnee vollständig zugeweht. Es lebten immer 4-5 Familien zusammen. Als Beleuchtung kamen Kienspäne zum Einsatz. Es wurde kalt; ein wirkliches Elend war das Fehlen von Brennholz. Wir holzten alle kleinen Bäume und Büsche ab und trugen sie auf unseren Schultern zu den Hütten.

Mama arbeitete in einer Fischfang-Brigade, und ich besuchte die 6. Klasse an der hiesigen Schule. Aber zuvor hatte ich noch Gelegenheit mich am linken Ufer des Jenisejs aufzuhalten, um Fische zu angeln. Es war von Vorteil, dass ich es verstand, mit einem Boot umzugehen.
Unsere Brigade warf Nacht für Nacht ein 600-Meter-Schleppnetz von einem sogenannten Kungas-Boot (großes, hölzernes Segel-Ruderboot mit geringem Tiefgang; Anm. d. Übers.).
Die durchlöcherten Stiefel schützten den Vater nicht vor Wasser und Kälte. Mit Schleppseilen zogen sie das Netz ans Ufer. Während der Nacht fischten sie, und gegen Morgen gaben sie an der Annahmestelle 5-6 Zentner kleine Maränen und andere Fische ab. Die Ortsansässige Warwara leitete den Prozess mit ihrer energischen Art, sie war eine große Meisterin im Fischfang-Gewerbe. Trotz aller gelte4nden Verbote sorgte sie großzügig dafür, dass die ganze Brigade genug zu essen bekam. Jener Winter, wie auch der folgende, waren besonders hart. Es fehlte an Brot, die Eiseskälte raffte die Menschen buchstäblich dahin, viele starben, erfroren. Die Leichen wurden erst bestattet, nachdem das Frühlingshochwasser eingesetzt hatte.

Die zehn Lebensjahre, welche die Zeit in Potapowo umfassten, waren sehr vielseitig.
Natürlich waren sie sehr bedrückend; die öffentliche Aufsicht durch die Kommandantur, das monatliche Erscheinen, um sich zu melden und registrieren zu lassen, drückten einen ganz einfach moralisch nieder. Noch strenger verhielten sie sich gegenüber den Verbannten, die auch Sonderumsiedler genannt wurden, nachdem man ihnen gegen Quittung verkündet hatte, dass ihre Ansiedlung für immer gelte. Jegliche Verletzung wurde mit 25 Jahren Haft bestraft. Auch wenn sich jemand nur aus der Siedlung in die Tundra entfernen wollte, durfte allein der Kommandant die Erlaubnis dazu erteilen, und man durfte dann auch nur auf vorgeschriebenen Wegen unterwegs sein. Zum Trost sagte der Vater oft zu mir: „Nichts ist ewig, alles wird sich irgendwann zum Besseren wenden“. Und letztendlich kam es auch so. Neun Jahre nach Kriegsende erhielten wir einen Ausweis, und 1964 kam der Ukas heraus, der die Beschuldigungen gegenüber den Wolgadeutschen vollständig aufhob.

Wie viele menschliche Tragödien stehen hinter den Zeilen des Ukas: „Das Leben hat gezeigt, dass diese alle betreffenden Anschuldigungen (aktive Hilfe und Mittäterschaft gegenüber den deutsch-faschistischen Angreifern, wie weiter oben erwähnt) unbegründet und Ausdruck der Willkür unter den Gegebenheiten des Stalinschen Personenkults waren. In Wirklichkeit hat die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung während des Großen Vaterländischen Krieges, zusammen mit dem sowjetischen Volk, durch ihre Arbeit den Sieg der Sowjetunion über das faschistische Deutschland mit herbeigeführt, und in den Nachkriegsjahren aktiv am sozialistischen Aufbau mitgewirkt“.

Wenn ich mich an die bedrückende Schwere meines Lebens zurückerinnere, möchte ich um der Gerechtigkeit willen sagen, dass es damals in unserem Leben auch viel Gutes gab, - und es kommt mir beinahe so vor, als ob der Anteil an guten Dingen größer war. Ich war von bemerkenswerten Menschen umgeben, die sich sowohl unter Freien fanden, als auch unter Leuten wie mich, die man in ihren Rechten eingeschränkt hatte….

Die Sowchose, die während des Krieges zum System des Norilsker Kombinats sowie des NKWD gehörte, befasste sich mit Rentierzucht und Fischfang. Und damals war die Sowchose vom Kombinat beauftragt worden, Birkenholz-Stangen im Bezirk der Siedlung Chantajka zu beschaffen … Es war eine schwere Arbeit, blutsaugende Mücken zerfraßen einem buchstäblich den Körper bis aufs Blut, das Gesicht schwoll an, und die Augen wurden ganz klein. Einmal ließen sie zwei vor der Ankunft des Schiffes im Holzbeschaffungsrevier zurück – Kostjukow und Erdman. Man erinnerte sich ihrer wieder, als ihre Pferd allein nach Hause zurückkehrte. Der Direktor der Sowchose, N.O. Djatschenko, rüstete ein Boot aus, um sie zu holen - ich fuhr zusammen mit zwei ehemaligen Gefangenen. Wir sahen völlig erschöpfte Menschen, die am Ufer herumkrochen. Ich habe nie wieder etwas Vergleichbares gesehen. Wir gaben ihnen in kleinen Portionen zu essen, damit sie nur keine Darmverschlingung bekamen …

… Ich habe bereits die Kommandanten erwähnt. Viele verhielten sich gegenüber denen, die unter ihrer Aufsicht standen, loyal. Einer von ihnen, Hauptmann Torgaschin, der wusste, dass ich leidenschaftlich gern eine Ausbildung gemacht hätte, überredete meine Eltern, und fuhr mich höchstpersönlich 1952 nach Dudinka. Er war mir dabei behilflich, eine Arbeitsstelle im Hafen zu bekommen, teilte mich für den Zuständigkeitsbereich der Kommandantur Dudinka ein, die ich dann noch weitere vier Jahre einmal im Monat aufsuchte. Drei Jahre später, als ich die Schule der Arbeiterjugend und die kostenpflichtigen Fernkurse für Hauptbuchhalter des Moskauer Instituts für Finanzen abgeschlossen hatte, wurde ich zum Oberbuchhalter des Dudinsker Büros der Handelsverwaltung des Kombinats ernannt…

Die Gefangenen-Schule

Meine Jugendjahre verlebte ich, indem ich Seite an Seite mit Gefangenen arbeitete. Viele von ihnen blieben, sogar nachdem sie ihre Haftstrafe verbüßt hatten, in Norilsk, Dudinka – sie besaßen nicht das Recht, das Polargebiet zu verlassen. Hauptbuchhalter Wasilij Petrowitsch Zymbarewitsch war 52 Jahre alt, als ich bei ihm gewöhnlicher Buchhalter am Stützpunkt für Industriewaren und Lebensmittel in Dudinka wurde. Der hochgebildete Mann (er hatte in China und Japan studiert, konnte malen und zeichnen, Musikinstrumente spielen) war einst Gefangener gewesen und zog es vor, zusammen mit den Arbeitern in der Baracke zu wohnen. Er erklärte das so: du kommst am Abend müde zurück, diene Essensration steht an Ort und Stelle. Du isst, und dann legst du dich schlafen. Am Morgen sind deine Stiefel trocken, in der Baracke herrscht Ordnung. Und bei den gebildeten Leuten beginnt der Abend immer mit der intelligenten Frage: „Können Sie mir vielleicht sagen, wo meine Essensration ist?“ Du wendest dich an Iwan Iwanowitsch, Petr Petrowitsch – keiner ist auf dem Laufenden, keiner weiß Bescheid. Uns so bleibst du halt hungrig.

Wasilij Petrowitsch erlebte so viel Unheil in seinem Leben, aber offensichtlich ließ er nie den Mut sinken. Auf jeden Fall habe ich ihn nie in so einer Verfassung gesehen. Und über sein Gefangenenleben erzählte er immer in eine ironisch-fröhlichen Art und Weise. So sagte er beispielsweise, dass Tage, an denen eine Beerdigung stattfand … schöne Tage waren. Es gibt einen Toten – es gibt ein gutes Mittagessen und Freistellung von der Arbeit: es gab nur ein einziges Orchester in Dudinka! Außerdem baute er sehr gern Klaviere. Zwei, drei oder fünf Tage geht er Instrumente bauen: „Sie geben mir eine Woche zu essen, und ich baue immer weiter und weiter …“

Bis zu seiner Verhaftung diente er bei der Roten Flotte als Chiffreur, da er hervorragende Lese- und Schreibkenntnisse besaß. „Ich komme zum Dienst, man öffnet mir das Arbeitszimmer, ich trete ein. Sie schließen hinter mir die Tür ab, und neben der Tür, im Korridor, steht ein Wachmann. Ich lege mich hin und schlafe! – da fängt Zymbarewitsch an zu lachen. – Es gibt kaum etwas zu chiffrieren, aber - es herrscht volle Geheimhaltung! Ich schlafe also und werde dabei auch noch bewacht …“

Wasilij Petrowitsch hatte eine scharfe Zunge, und ich glaube, dass er deswegen auch so leiden musste … Zu der Zeit wurden übrigens viele aufgrund blanker Lügen und Erfindungen seitens ihrer Arbeitskollegen oder der Ermittlungsrichter verurteilt … Zymbarewitsch konnte gut Englisch, und ohne ihn nahmen sie keine Waren an, die im Rahmen des Land-Lease-Abkommens eintrafen …

Viktor Iwanowitsch Gorschkow brachte mir eine Menge Dinge bei. Seine Kutetr stammte aus einer Adelsfamilie, der Vater war Haupt-Technologe in einer Fabrik. Als er im zweiten Kursus an der Universität war, verhafteten sie ihn. Weswegen? Weil er, als er in irgendeinem Vorortkaff eine Stalinbüste sah, den Satz fallen ließ: „Die passt eigentlich weder in ein Dorf, noch in eine Stadt… „Dafür bekam er zehn Jahre. Und wenngleich Viktor Iwanowitsch auf diese Weise ein Mann blieb, der seine Ausbildung nicht zu Ende gebracht hatte, kann doch jeder Spezialist mit Diplom ihn um sein breites Wissen, seine guten Kenntnisse und Fähigkeiten beneiden. Mir brachte er beispielsweise bei, wie man vernünftige, vom Inhalt her klare und schlüssige Geschäftsbriefe schreibt.

Die erste Begegnung mit Moskau verschaffte mir Viktor Iwanwitsch – er führte mich durch die Straßen, erzählte in lebhaft-interessanter Weise von der Geschichte der Stadt.Besonders den Friedhof Nowodewitschi in Erinnerung behalten. Viktor Iwanowitsch brachte mich zum Grab der Ruslanowa, Stalins Ehefrau. Plötzlich entdecke ich ein kleines steinernes Quadrat mit einem mir bekannten Familiennamen: Michail Roschdenowitsch Kobachidse. Auch er war einer von unseren ehemaligen Gefangenen. In meinem Gedächtnis tauchte der hochgewachsene, rotwangige Mann wieder auf. Nach der Lagerhaft heiratete er; er liebte seine Frau in äußerst zärtlicher Weise, jeden Samstag gingen die beiden zusammen ins Badehaus …

Einmal nahm Viktor Iwanowitsch Gorschkow mich in Moskau mit zur Beerdigung einer Verwandten – hier lernte ich seinen Bruder kennen … Bei diesem Anlass führten die Brüder Streitgespräche über philologische Themen. Alekander war stellvertretender Direktor am Institut für russische Sprache, während Viktor keine abgeschlossene Hochschulbildung hatte, aber er diskutierte mit seinem Bruder auf gleichem Niveau, indem er sehr überzeugende Argumente anbrachte. An jenem Tag begriff ich, dass die Familie sich von Viktor nach dessen Verhaftung offen distanziert hatte, indem sie diesen Tatbestand der Familiengeschichte geheim zu halten versuchte, was seinem Bruder Aleksander die Möglichkeit verschaffte, der Partei beizutreten, und Leiter des Instituts zu werden. Als er zu Viktors Beerdigung nach Norilsk kam, war er bereits Institutsdirektor. Ich konnte mit ihm über nichts reden, er hätte sich wohl kaum vorstellen können, wie das Norilsker Leben seines Bruders verlaufen war. Ich weiß noch, wie Viktor ihm während einer Diskussion den Satz zuwarf: „Kaum bist du in die Partei hineingekrochen, da glaubst du wohl auch, dass du recht hast und dir alles erlauben kannst?“ Daraufhin tadelte die Mutter ihren Sohn: „Witjenka, haben sie dir solche Worte im Lager beigebracht?“ – Was konnte er erfolgreichen Leuten darauf schon antworten, die sich an das schreckliche Staatssystem derart angepasst hatten? Sein Leben jedenfalls war zerbrochen, obwohl sie ihn selber nicht hatten kleinkriegen können. Viktor Iwanowitsch stellte für mich das Höchstmaß an professioneller und menschlicher Würde dar, die ich auch so gern erreichen wollte …

Mich würde interessieren, ob die Organe wussten, dass, Viktor Iwanowitsch, wie es gelegentlich vorkam, den Aufbau des Sowjetstaates kritisierte und auf ihn schimpfte. Er hörte den BBC-Sender, und wahrscheinlich würden seine Überlegungen heute als vernünftig und, wie man sagt, sogar fortschrittlich angesehen. Auch später musste ich immer wieder an ihn denken …. Beispielsweise kam einmal die Frage auf: was sollen wir mit der riesigen Menge Salzfisch, den getrockneten Kartoffeln machen, die auf Vorrat für die Lager bereitgestellt worden waren, die inzwischen bereits nicht mehr existierten? Die Behörden hatten die Existenz des NorilLags für lange Jahre berücksichtigt, aber 1954, nach Stalins Tod, begann die für viele unerwartete Auflösung der Lager. Zuerst warf man den gesamten Salzfischvorrat in den Jenisej; dann begriff man, dass dies dem Fluss schadete. Danach wurden tausende Tonnen Buckel- und Keta-Lachs (das war in jenen Jahren der größte Ladenhüter unter den Fischen, und man gab ihn den Gefangenen zu essen) nach Krasnojarsk geschickt. Es gab keine Interessenten, die den lange gelagerten Fisch noch kaufen wollten; deswegen transportierte man ihn weiter in die Lager des Ural. Während er dorthin unterwegs war, verdarb er endgültig, und so wurde er, um der Sünde irgendwie zu entrinnen, vergraben und aus den Büchern abgeschrieben. Tausende Tonnen getrockneter Kartoffeln ereilte dagegen ein besseres Schicksal; man setzte sie im Preis herab, stopfte sämtliche Läden und Kantinen damit voll, aber es blieben trotzdem noch furchtbar viele übrig. Das Ganze endete damit, dass, nachdem sie jeden Monat noch einmal im Preis herabgesetzt worden waren, sie schließlich nur noch ein paar Kopeken wert waren und man sich entschloss, das Vieh damit zu füttern. Das war schon in den 1970er Jahren …


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