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W. Schilkin . Die letzte Landaufteilung

Es kann keine Staatsbürger
ohne wirtschaftliche Unabhängig-
keit geben.

P.A. Stolypin

Im Herbst 1996 war ich mit meinen Tantchen in Bolschaja Nitschka, das heute schon ein Groß-Dorf genannt wird. Nur mit Mühe erkannten sie ihr Haus wieder – die Fensterläden waren mitsamt ihren Einfassungen von den Fenstern heruntergerissen, Küche und Veranda kaputtgeschlagen, von der Umzäunung und den Wirtschaftsgebäuden überhaupt nichts übriggeblieben. Alles war leergeplündert. Die eine Hälfte des Hauses lag vollkommen verödet da, die andere war von irgendwelchen vorübergehenden Bewohnern eingenommen.

Maria Semjonowna war völlig durcheinander und fand keine Worte, um ihre Entrüstung auszudrücken, die sie beim Anblick dieser barbarischen Zerstörung ihrer Geburtsstätte empfand.

Ich lenkte meine Schritte zum Elternhaus. Mit Erlaubnis der Hausherren besichtigte ich den Hof, danach betrat ich das Haus. Ich fühlte mich in bekannter Umgebung: genau diese Bauernkate, ihre Inneneinrichtung, die Hofgebäude, all das befand sich in unverändertem Zustand, denn all die Jahre war das Gehöft in den Händen von Privatbesitzern gewesen. Als sie erfuhren, wer ich eigentlich war, fragten mich die Bewohner, wann das Haus erbaut wor-den sei.

Anschließend suchten wir die älteste Einwohnerin des Dorfes, Natalja Iwanowna Reschet-nikowa auf, die in der einen Hälfte eines Kulaken-Bauernhauses in dieser ersten Straße lebte. Dann mußten wir uns mit der Hausherrin kurze Zeit ein wenig unterhalten. Der Abend brach bereits herein, ein langanhaltender, kalter Regen setzte ein. Wir beeilten uns, nach Hause zu kommen.

Und in Abakan führte mich eben dieses Schicksal mit dem alten D.T. Gubin zusammen, der aus diesem Dorf stammte. Mit ihm war ich auch früher ein wenig bekannt gewesen. Einmal, als wir in einem Spezialgeschäft für Frontkämpfer in einer langen Schlange nach Lebensmit-teln auf Bezugsmarken anstanden, standen wir zufällig nebeneinander und freuten uns riesig, als sich im Laufe des Gesprächs herausstellte, daß wir beide in Bolschaja Nitschka geboren waren. Danil Timofejewitsch erblickte 1911 das Licht der Welt, er kennt unsere gesamte Dorf-Verwandtschaft, in seinem Gedächtnis haften die Erinnerungen an die Kollektivierung und Entkulakisierung der Bauern. Gelegentlich treffen wir uns und unterhalten uns gern als Landsleute miteinander.

In einer ihrer Erzählungen erwähnte Maria Semjonowna die letzte im Dorf durchgeführte Grund- und Boden-Verteilung, wobei mich ganz besonders der Tatbestand interessierte, daß die Mitglieder der ländlichen Kommune die Acker-Grundstücke nicht auf die althergebrachte Weise, sondern nach neuen, ungewohnten Regeln verteilten. Wann war das?

„Das letzte Mal wurde der Boden ein Jahr vor der Entstehung der Kolchose aufgeteilt“, erwiderte Maria Semjonowna. „Es wurden nicht jeder Familie Landanteile an verschiedenen Stellen gegeben, sondern dort, wo man ihnen aus den Gemeindeländereien ein Stückchen zum Eigenanbau zur Verfügung stellte. Irgendeiner von den Bauern ging fort auf ein Einzelgehöft. Und uns fielen ein paar Desjatinen am Sacharow-Gebirge zu“.

Genau dasselbe berichtete auch D.T. Gubin. Seiner Familie übertug man Ackerland auf nutzbaren Ackerstücken unweit von Mala Nitschka. Nach seinen Worten und den Aussagen der Tantchen war jenes Jahr der Bodenbestellung der größte Lichtblick in ihrem Getreidebau-ernleben.

Es will mir einfach nicht in den Kopf gehen, auf welche Weise die Mitglieder der Dorfge-meinschaft während der Sowjet-Zeit den Boden nach dem Beispiel der Stolypnischen Agrarreformen verteilen konnten. Aber vielleicht verfuhren sie mit den Bauern anderer Großdörfer und Dörfchen genauso? Aber nein, daran kann man nicht glauben.

Und erst im Sommer 1997 erfuhr ich aus Archivmaterialien des Bolschenitschkinsker Dorfrates, daß es sich hier möglicherweise um eine einzigartige Geschichte ihrer Art bei der Verteilung von Gemeindeboden unter der Sowjet-Macht gehandelt hat.

Der Zeitpunkt für die Landverteilung fiel auf die Mitte der zwanziger Jahre. Zu dieser Zeit änderte sich die ländliche Lebensweise von Grund auf. Aber wie unter dem Zaren, so blieb auch unter den Sowjets eines ewig unveränderlich – Getreide war und blieb für alle das Wich-tigste, der Hauptertragsposten, und das Ackerland das Betätigungsfeld, in das die Bauern-schaft die meisten Kräfte steckte. Ihr ganzes Leben war unzertrennlich mit dem Boden ver-bunden.

Innerhalb von vier Jahren nach der Einführung der Naturalsteuer steigerten die Getreide-bauern den Brutto-Getreideertrag aufgrund der Ausdehnung der Anbauflächen, der Erhöhung der Saatgut-Qualität und einer besseren Bodenbearbeitung. Eine wunderwirkende Belebung der Dorfwirtschaft herrschte im gesamten Kreis und sogar über seine Grenzen hinaus.

Bereits Ende 1925 war die Landwirtschaft des Jenissejsker Gouvernements nicht nur voll-ständig wiederhergestellt, sondern übertraf sogar die besten Ergebnisse der Vorkriegszeit.

Das Ausmaß der Anbauflächen betrug 775580 Desjatinen und der Brutto-Ernteertrag – 59,1 Millionen Pud, davon Warenüberschüsse in Höhe von 22,9 Millionen Pud (Geschichte der Region Krasnojarsk, 1967, Seite 179). Ein nicht geringer Teil davon entfiel auf die Getreidebauern des Minussinsker Kreises – der Kornkammer des Gouvernements.

Die Gemeindemitglieder von Bolschaja Nitschka strebten unter den Bedingungen der Waren-Marktwirtschaft danach, die Ergiebigkeit des Bodens zu erhöhen. Und jedes Frühjahr kam bei der Bauernschaft der Gedanke nach dem lang ersehnten Getreide auf. Wie wird diesmal die Ernte ausfallen? Wird es gelingen, die Ernte ohne Verlust einzubringen?

Aber von selbst ist der Boden nicht in der Lage ertragreicher zu sein, als die Pflüger es sich wünschen. Was störte sie daran sich mit voller Kraft zu entfalten?

Die allgemeine Grund-und Bodenordnung band die Getreidebauern an Händen und Füßen. Aus diesem Grund machten Semjon Konstantinowitsch und sein Sohn Stepan, die sich gemeinsam mit Bodenbestellung befaßten, ebenso wie auch die anderen Gemeindemitglieder, große Schwierigkeiten durch und erlitten Verluste.

Erstens waren die Landanteile auf drei, vier Parzellen zersplittert: die einen ganz nahe beim Dorf, die anderen in entgegengesetzten Richtungen jeweils 8-12 km voneinander entfernt. An den sowieso schon anstrengenden Tagen der Saisonarbeiten mußten die Pflüger von einem Landstück zum anderen laufen, die Pflüge und Eggen mit großen Gespannen von einem Ort zum anderen ziehen, Mähmaschinen und praktisch das gesamte landwirtschaftliche Inventar hin und her transportieren.

Unter derartigen Erschwernissen gelang es einem Teil der Bauernschaft nicht immer, den Boden mit der erforderlichen Güte zu bearbeiten; sie verpaßte den besten Zeitpunkt für Aussaat oder Ernte. Bei dieser unproduktiven Verschwendung von Kraft, Mitteln und Zeit stiegen die Selbstkosten jedes gemahlenen Puds Getreide. Das Korn ging irgendwo auf den Ackerstreifen oder während des Transportes der Garben zum Dreschplatz auf den holprigen Wegen verloren.

Eines war gut: es kommt nie vor, daß im Sommer alle Saatfelder den Hagelschauern ausge-setzt sind, so daß die unversehrt gebliebenen Ackerstreifen dem fleißigen Pflüger aus der Not helfen – er wird mit Getreide versorgt sein.

Zum zweiten fiel die Vielfalt hinsichtlich der Bearbeitung der Landanteile ins Auge. Jedes beliebige Gemeindemitglied konnte in eine solche Situation geraten, daß bei der Aufteilung von Ackerland deine gepflegten Ackergrundstücke an den Nachbarn geraten und du erhälst dagegen einen schlecht bestellten Acker, den man als Brachland zurückgelassen hat. Man konnte an ein derart vernachlässigtes Stückchen Land geraten, auf das ein fauler Besitzer Roggen gesät hatte, man dort aber lediglich Melde erntete. Wegen fremder Nachlässigkeit bist du gezwungen, Schaden davonzutragen.

So kam es also, daß die einen sich nach der Landverteilung freuten, während die anderen Verdruß empfanden. Bei einem Teil der Bauern ging die Lust verloren, mit besseren Methoden den Boden zu bestellen und die Ernteerträge zu erhöhen. Und als Folge davon sank die Ergiebigkeit mal bei der einen, mal bei der anderen Parzelle.

Aber das ist noch nicht alles. Steuern wurden sogleich für die Gemeinde in die Staatskasse eingezahlt. Und wieder kam dies gerade den Faulenzern sehr gelegen.

All das nahm den Ackerbauern während der Zeit der NÖP (der Neuen Ökonomischen Politik) jeglichen Arbeitsantrieb. Für sie war es jetzt wichtig, sowohl Boden zu besitzen als auch nach eigenem Ermessen über ihn zu verfügen – was bedeutete, daß man sein eigener Herr und freier Warenproduzent war.

Jede Gemeinde regelte die Grund- und Bodenverhältnisse auf ihre Weise. Da war die Verord-nung in dem Dorf Kljutschi, die (im März des Jahres 1925) verabschiedet wurde "Das Urteil der Kljutschinsker Grund- und Bodengesellschaft über die Neuverteilung von Ackerland": "Auf Grundlage des Artikels des Grund-und Bodengesetzes muß die gesamte Gemeinde von der Brachwirtschaft (zeitweise brachliegenden, ungenutzten Feldern) zum System der Vier-felderwirtschaft übergehen, wobei jedem Hausbesitzer von jedem Feld nicht mehr als zwei Streifen zur Verfügung gestellt werden. In der Teilung ist nur Ackerland enthalten. Die Auf-teilung erfolgt nach Anzahl der Esser in der Familie für die Dauer von jeweils 12 Jahren, wobei alle vier Jahre ein Ausgleich zwischen den Höfen vorgenommen wird - aufgrund von Veränderungen durch Geburten, Todesfälle, Ausscheiden von Hofbewohnern".

In Bolschaja Nitschka sprachen sich viele Gemeindemitglieder für die Schaffung der neuen Bodennutzungsordnung aus. So wurde am 7. März 1926 auf einer öffentlichen Versammlung unter dem Vorsitz Schilkins (der Vorname ist nicht erwähnt) die Frage „über die Verteilung von Grund und Boden sowie deren Nutzung“ erörtert. Um welche Form der Nutzung ging es? Aus dem Rechenschaftsbericht des Dorfrates für das dritte Quartal des Jahres 1926 wissen wir, daß „von der Grund- und Bodengesellschaft die Entscheidung getroffen wurde zur Verteilung von Gemeindeland zwecks Eigennutzung und zur Vielfelderwirtschaft (Frucht-wechsel) überzugehen“. Das heißt eine Agrarreform entsprechend der bisher gewohnten wirtschaftlichen Lebensweise durchzuführen.

Am 27. Januar 1927 wählten die Bolsche Nitschkinsker den Bauernsohn Stepan Schilkin zum Vorsitzenden des Dorfrates. Damals war mein Vater 26 Jahre alt. Bis zu dem Zeitpunkt hatte er nicht selten den Vorsitz bei öffentlichen Versammlungen geführt, an der Spitze leitender Kommissionen gestanden und war zum Mitglied des Dorfrates gewählt worden.

Die Exekutive unternahm aktive Anstrengungen, um die Vorbereitungen zur Realisierung der Agrarreform in Gang zu bringen. Am 23. Februar desselben Jahres fand eine Versammlung der Mitglieder der Grund- und Bodengesellschaft unter dem Vorsitz von Pawel Pawlowitsch Schilkin statt. Im Klub drängten sich die Menschen, bis niemand mehr hineinpaßte – 168 Per-sonen, darunter 130 Bauernbeauftragte, alle übrigen waren gleichberechtigte Bodennutzer. Das ist auch verständlich: auf der Versammlung wurden die allgemeinen Prinzipien der neuen Boden-Verteilung erörtert, die ja die Interessen jeder Ackerbauern-Familie berührte. Die Gesellschaft traf nach reiflicher Überlegung eine kollektive Entscheidung und ließ keinerlei Unklarheiten offen. Keinerlei Rechte wurden beeeinträchtigt, die Wünsche und Vorschläge aller Bauern fanden Berücksichtigung.

Am 23. Mai wurde auch noch eine Versammlung von Mitgliedern der Grund- und Boden-Gesellschaft abgehalten, auf der man folgendes beschloß: „Die zur Eigennutzung zugeteilten Gemeindeländereien werden an einer Stelle aufgeteilt“, „die Aufteilung erfolgt unter Bewer-tung des Bodens“. Diese Landstücke dienen der eigenen Bodennutzung, stellen jedoch kein Privateigentum dar. Dennoch hofften alle Bauern Boden zu erwerben und vollberechtigte Eigentümer zu werden, so daß du die volle Gewährleistung dafür hattest, daß deine Arbeit nicht umsonst war und später als Erbe an deine Kinder, deine Enkel überging. Es wurden bevollmächtigte Vertreter der Gesellschaft zum Schutz der Interessen der Bodennutzer gewählt.

Im Juli, auf einer erweiterten Versammlung mit Teilnahme von Vertretern der umliegenden Öffentlichkeit erläuterte der Grund- und Boden-Organisator I.I. Schewerduk die wesentlichen Regeln der neuen Aufteilung.

Im Sommer 1927 beschloß der Dorfrat: „das Stoppelfeld bis zum Frühjahr 1928 nicht mehr zu pflügen, das heißt bis zur Aufteilung der Gemeindeländereien zu eigengenutztem Ackerland“.

Und in Moskau begehen die Bolschewiken feierlich den 10. Jahrestag der Oktober-Revolution und werden diesen Umsturz künftig die Große Sozialistische Oktober-Revolution nennen. Doch selbst Lenin hat immer hervorgehoben, daß man so etwas wie eine sozialisti-sche Revolution nicht in einem Land vollbringen kann, daß die sozialistischen Umgestaltun-gen im rückständigen Rußland einsetzen, sobald die Revolution in den wichtigsten Ländern Europas gesiegt hat.

Zu vernünftigen Überlegungen unfähige Führer werden schon dafür Sorge tragen, daß diese wesentlichen Partei-Ideologien ihres Lehrmeisters in Vergessenheit geraten und alle diesbe-züglichen Phrasen die in die 2. und 3. Ausgabe der Werke des Führers eingegangen sind, werden aus den Tekten der 4. und 5. Ausgabe, dem sogenannten vollständigen Gesamtwerk Lenins, herausgenommen.

Die Bolschewiken machen sich mit reger Tätigkeit an den Aufbau des Sozialismus in einem, einzeln betrachteten (Anmerkung des Autors W.Sch.), Land. Zum Maßstab wurde nicht die Vergangenheit, sondern die zukünftige sozialistische Gesellschaft genommen. Den neuen Menschen wird die Partei im Geiste der völligen Bereitschaft erziehen, jedes Opfer im Namen dieser leuchtenden Zukunft zu bringen. Und der Dichter W. Majakowskij reagierte sogleich mit den Losungszeilen: „Ich rühme mein Vaterland so wie es ist, aber so wie es künftig sein wird, werde ich es dreifach lobpreisen.!“ Es begann die Beschönigung der sowjetischen Handlungsweisen.

Im Dezember 1927 verkündete die Allrussische Kommunistische Partei der Bolschewiken auf ihrer XV. Sitzung den Kurs zur Kollektivisierung der Landwirtschaft. In keinem einzigen Archivprotokoll oder Dokument habe ich jemals auch nur ein einziges Wort über den Oktober des Jahres 1917 oder über die Beschlüsse des Parteitages gesehen.

Auf der Berichts- und Wahlversammlung stellten die Bolsche Nitschkinsker erneut Stepan Schilkin zum Oberhaupt des Dorfrates auf. Der Vorsitzende war bereits für eine Zeitraum von einem Jahr gewählt worden.

Im Blickfeld des Rates befanden sich unaufschiebbare Angelegenheiten des ländlichen Lebens. Zum Beispiel wurde im März 1928 entschieden, „Holz zum Bau des Lehrer-Hauses (69 Balken) kostenlos dorthin zu transportieren“. Und nach einer Woche hörten sie beinahe einen ganzen Bericht des Kreis-Spezialisten über eine Funkanlage, mitsamt einer Erklärung, „wozu man eine solche Einrichtung braucht, welchen Nutzen sie den Bauern bringt und wieviel sie kostet“. Es war so, daß sogar die Verwirklichung des Radios, wie übrigens auch die Einführung beliebiger Neuerungen, im Dorfrat vom Standpunkt des Pragmatismus betrachtet wurden.

Im Frühjahr 1928 nahmen der Vorsitzende selbst, die Mitglieder des Dorfrates, die Landwirt-schaftsabteilungen, die Gesellschaftsbevollmächtigten an der Vermessung der Felder, der Bestimmung der Einzelhof-Grundstücke und der Aufteilung der Gemeindeländereien in eigengenutzte Ackergrundstücke teil, jeweils gruppenweise nach den Hausherrn und ihren Familienbanden.

In Bolschaja Nitschka vollzog sich ein feierliches Ereignis – jeder Bauer säte Getreide auf einem einzigen Stück Land. Das bedeutete, daß die Gemeinde zerfiel und der Vergangenheit angehörte. Der Ackerbauer selbst wurde zum Herren des Bodens, der ihm von der örtlichen Exekutivmacht als eigener Besitz übergeben worden war.

Die arbeitssamen Bauern machten sich mit vollem Einsatz an die Arbeit und bemühten sich nach Kräften, unter Einsatz möglichst geringer Ausgaben, aus jeder Desjatine Land so viel wie möglich Produkte bester Qualität zu gewinnen, und zeigten ihre Initiative und Unterneh-mungslust in landwirtschaftlichen Dingen. Gerade auf diese Weise hofften die Bauern ihre materielle Lage zu festigen.

Und das Schicksal fügte es so, daß Schilkins Landanteil ihn ausgerechnet zu demselben Grund und Boden in den Sacharow-Bergen führte, wo auch unser Urahn Grigorij Neuland erschloß.

Die Schilkins, ebenso wie alle anderen fleißigen Getreidebauern, mühten sich eifrig ab, auf wirtschaftliche Art und Weise ihr Stückchen Land in Ordnung zu bringen. An einer für ein Feldlager geeigneten Stelle errichteten sie ein Vordach unter einem Stohdach sowie eine bequeme Bude.

Das Brachland ackerten sie mit dem Pflug um, zogen zweimal mit dem Kultivator Furchen und bearbeiteten dreimal das Feld mit der Egge. Jeder im Frühjahr umgepflügte Streifen wurde seiner Bestimmung entsprechend vorbereitet – mit Weizen, Roggen, Hafer und Hirse.

Semjon Konstantinowitsch ließ sich jedoch Zeit damit, die Saat auf gut Glück in den Boden zu bringen. Der in dieser Gegend geborene Ortsansässige hatte ein feines Gespür für die Natur, berechnete die günstigen Tage für die Aussaat, in Abhängigkeit von den Wetterbe-dingungen und unter Berücksichtigung der Windbeschaffenheit. Er verglich die Merkmale der vergangenen Jahre miteinander: die Ankunft der Vögel, das Aufbrechen der Knospen, das Verhalten der Tiere und ähnliches mehr. Auch berücksichtigte er das Vorhandensein von Feuchtigkeit im Boden, den Wechsel der Mondphasen, die Veränderung atmospherischer Erscheinungen. Auf solch einzigartige Methode dieses urwüchsigen Meteorologen war immer Verlaß. Mit Sonnenaufgang machten sie sich ans Aussäen. Schritt für Schritt ging Semjon Konstantinowitsch über den Acker, streute immer im Wechsel eine Handvoll Korn links und rechts von sich aus, das er aus dem Leinensack nahm, der ihm an einem Seil um die Schultern hing. Iwan brachte dem Vater des Saatgut und sobald dieser den Acker verlassen hatte, kam Mascha, hoch oben auf dem Pferd sitzend, mit der Egge. Semjon Konstantinowitsch war ein erfahrener und erfolgreicher Sämann. Nicht umsonst rief ihn die Verwandtschaft herbei, damit er auf ihrem Feld säen sollte.

In jenem Jahr reifte auf den Feldern keine schlechte Ernte. Und schon rollte im Juli der rote Sommer heran und trieb die Bauern zur Eile an, damit sie zur Heumahd hinausfuhren. Es begann eine lange, schwere Erntezeit, während der den Bauern jede vertane Stunde teuer zu stehen kam. An den Feldarbeiten waren Erwachsene und Kinder beteiligt, und aus Minussinsk kam sogar Nikolaj Schilkin zur Hilfe.

Auf den alten Brachländereien, wo sie Grundstücke zur Mahd zugewiesen bekommen hatten, mähten sie zwei Fuhren Getreide, das man im Winter, wenn die Tiere im Stall gehalten wurden, nur an die Pferde, Schafe und Kälber verfütterte. Die zwei Milchkühe fraßen das Stroh vom Sommerweizen und Hafer unter Zugabe von Wurzeln. Von einem solchen Futter wurden die Kühe wohl genährt, gemästet – jedenfalls verringerten sich die Milcherträge nicht.

Das Korn in vollen Ähren – so standen Weizen und Roggen wie eine Wand. Die Ernte und das Einbringen des Getreides fielen ungewöhnlich aus, vor allem deswegen, weil in jenem Jahr die Sichel und die zum Grasschneiden verwendete Litowka zu Objekten der Vergangen-heit wurden.. An ihre Stelle trat die Erntemaschine. Und wie sehr freute sich die Ackerbau-ernfamilie, wenn auf dem Ackerstreifen die nagelneue Erntemaschine im Pferdegespann fuhr, welche die Getreidehalme abschnitt und sie zu gleichmäßigen Haufen auf dem Stoppelfeld zusammenlegte. Die Minderjährigen banden das Stroh zu Bündeln zusammen und brachten sie den Garbensammlern, die diese flink zu Gruppen aufstellten. Die Ackerbauernfamilie verbrachte in dieser harten Erntezeit Tag und Nacht auf dem Feld und ging nur einmal die Woche nach Hause, um sich in der Badestube zu waschen.

Indem die Erntetermine voll ausgenutzt wurden, erhöhten die Bauern die Effektivität von getrennten Arbeitsgängen bei der Getreideernte. Jetzt blieben die milchig-wächsern ausse-henden Ähren nicht mehr so lange im Boden verwurzelt und fielen nicht ab. Wegen der Nährstoffe, die sich in den Stengeln befanden, gediehen die Ähren nun auf dem Ackerstreifen in den Garbenbündeln, unter der Sonne, und in den Scheunen auf der Tenne, bis zur vollen Reife. Die Verluste beim Einbringen der neuen Getreideernte waren auf ein Minimum reduziert worden.

Vom Acker bis zur Tenne war es nur ein Katzensprung, drei Werst, immer geradeaus. Auf einem der langen Leiterwagen wurden die Garben vom Feld auf dem Pferd Sokol transpor-tiert. Und gelenkt wurde das Pferd von der elfjährigen Mascha, die auf dem Fuhrwerk saß, die Zügel in der Hand hielt und dort wie eine richtige Kutscherin schaltete und waltete. Der Vater hatte seine Tochter ohne jegliche Bedenken mit dieser Rolle beauftragt, denn er wußte sehr gut, daß Sokol die Fracht ohne Zwang bis zur Tenne brachte, wo die Erwachsenen die Garben in den Heuschober packten. Und auf dem ihm bekannten Weg brachte das kluge Pferd Mascha in leichtem Trab mit der leeren Kutsche zurück auf den Acker.

Der Boden gab es den Getreidebauern hundertfach zurück – gegenüber den Vorjahren war ein vielfacher Anstieg an gemahlenem Korn zu verzeichnen. Die Ähren trugen nun beinahe das Zweifache.

Auf den ersten Blick gingen im Dorfsowjet die Dinge alle ihren Gang. Unter den Bewohnern des Dorfes verlief mit Erfolg die schriftliche Verpflichtung für die 2. Staatsanleihe zur Industrialisierung. Unter den 13 aktiven Unterzeichnern dieser Anleihe befanden sich auch drei Schilkins: Michail Andrejewitsch – 50 Rubel, Stepan Semjonowitsch – 20 Rubel, Innokentij Pawlowitsch – 35 Rubel. Der Dorfrat eröffnete eine Schule zur Beseitigung des

Analphabetentums bei der erwachsenen Bevölkerung in der Altersgruppe von 16-35 Jahren.

Damals begann auch meine Mama zusammenhängende Wörter zu lesen und zu schreiben.

Der Vorsitzender des Dorfrates erweiterte den Kreis der Aktivisten und zog für die Arbeit der Selbstverwaltungsorgane die beiden Komsomol-Führer Filipp Kusewanow und Iwan Burzew heran. Letzterer stammte auch aus einer Umsiedler-Familie der Nachkriegsjahre und war ebenfalls ohne Vater aufgewachsen, dem es gelungen war eine einfache, abseits gelegene Bauernkate zu errichten, der aber bald darauf an Typhus starb.

In jenem Jahr 1928 wurde anläßlich der Sitzungen des Dorfrates und anderer öffentlicher Versammlungen die Frage über die Getreidebeschaffung aufgrund der entstandenen ernst-haften Schwierigkeiten bei ihrer Durchführung nicht aus der Tagesordnung herausgenommen. Es war nämlich so, daß viele Wirtschaften immer wieder und in ganz erheblichem Maße die Auflagen bezüglich der Getreidelieferungen nicht erfüllten, und manche hörten sogar voll-ständig damit auf, Getreide an die Regierung zu verkaufen. Und das in jener Zeit, als die Bauernhöfe nicht gerade wenige Vorräte anhäuften.

Wie erklärte sich die entstandene Lage? Die Bauernschaft weigerte sich, ihre Getreideüber-schüsse mit Verlust zu verkaufen, den sie aufgrund der niedrigen Beschaffungspreise erlitten. Der Dorfsowjet forderte sie auf, verpflichte solche Bauern dazu, keinen Widerstand zu leisten, wobei er ihnen gegenüber keinerlei Zwangsmaßnahmen anwandte.

Die Nichterfüülung bei der Getreidebeschaffung hörte nicht auf. Und da wurden per Direktiven von übergeordneten Stellen höhere Besteuerungen der Bauern eingeführt.

 

Aus dem Buch des W. Schilkin „Die letzte Landaufteilung“. Erzählung eines Nachkommen im Namen betroffener Bauern. Abakan, 2000


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