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Kawerina . Sie holzten den Wald ab ...

Ich bin 82 Jahre alt. Ich lebe mit meiner Tochter, die auch schon Rentnerin ist, in Krasnojarsk.

In diesem Jahr, 1988, haben wir die Zeitschrift „Ogonjok“ abonniert, in der es eine Rubrik „Aus der Geschichte der Gegenwart“ gibt. Wir lesen sie mit großem Interesse, ja - und wie sollte man sie auch nicht lesen, wenn es einem doch so nahe geht. Und dann sahen wir noch im Fernsehen den Dokumentarfilm „Mehr Licht“, und da tauchte vor mir die Frage auf: warum wird nur von den großen Leuten geschrieben, die unter Stalins Repressionen gelitten haben, - von Soldaten, Gelehrten, Mitgliedern des Zentralkomitees, - warum finden einfache Leute nicht mit einem einzigen Wort Erwähnung?

„Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne“. So flogen auch in den Jahren 1937 und 1938 die „Späne“ in fast jeder Familie. Deswegen will ich auch über mich schreiben, über meinen im Lager verstorbenen Ehemann und über den Direktor des Moskauer Textil-Technikums – Michail Sergejewitsch Tokarew.

In den Jahren 1927-1929 studierten ich und mein Mann Alexej Wassiljewitsch Kawerin am Moskauer Textil-Technikum (MTT), an dem Tokarew Direktor war. Gleichzeitig arbeitete er auch in der MONO, der Moskauer Filiale für Volksbildung. In jenen Jahren hielt die Jugend ihn für einen Freund der Stadt Moskau. Bevor er ans Technikum kam organisierte Michail Sergejewitsch in Moskau die MTSch, die Moskauer Textilschule. An dieser Schule wurde das 1. Kommunistische Internat eingerichtet, in der Donskaja-Straße 45.

Nach Beendigung der MTSch (2 Jahre) zogen die Studenten in das von Tokarew neu einge-richtete Textil-Technikum, Kaluschsker Straße 63, um.

Ich arbeitete zu jener Zeit als Weberin in der Wysokowsker Fabrik (in der Stadt Klin), von der ich dienstlich ans MTT abberufen wurde; während der Zeit war ich Kandidatin für die Mit-gliedschaft in der WKP/B (der All-Russischen Kommunistischen Partei der Bolschewiken). Im zweiten Kurs stellten sie mich als Sekretärin der Kommunistischen Jugendorganisation des Technikums ein.

1928 wurde aus den Studenten des dritten Kurses eine Gruppe für eine Reise nach Deutsch-land zusammengestellt, wo sie sich neue Techniken bei der Textilherstellung aneignen sollten.

Bei uns in der UdSSR gab es zu jener Zeit noch keine Werkbänke ohne Weberschiffchen.

Aus 19 Leuten wurde in diese Gruppe auch mein zukünftiger Ehemann Kawerin aufgenom-men. Nachdem sie aus Deutschland zurückgekehrt waren, schrieben sie ein Buch, das unter dem Titel „Unsere Jugend im Ausland“ erschien.

Am 1. September 1929 starb Michail Sergejewitsch Tokarew plötzlich und unerwartet an einem Blutgerinsel im Gehirn. Das Leben unseres Lehrers, Freundes und Genossen war jäh zuende gegangen. Er war nur 40 Jahre alt geworden. Die Trauerfeierlichkeiten wurden vom Moskauer Komitee der WKP/B und von der MONO organisiert, wo er bis zu seinen letzten Lebenstagen tätig gewesen war. Ich erinnere nur, daß sich eine Lawine von Menschen zum Krematorium bewegte und wir Studenten uns irgendwo ganz am Ende der Prozession verloren hatten. Die Urne mit der Asche des verstorbenen Tokarew wurde in eine Wand des Technikums eingemauert. Auf der Tafel befand sich in goldenen Buchstaben die Aufschrift:

„Freund der Jugend der Stadt Moskau – M.S. Tokarew“, sowie sein Geburts- und Todesjahr.

Bei Beendigung der Ausbildung am Technikum (es war der erste Abgangsjahrgang) traten die lernfähigen Studenten ins Moskauer Textil-Institut ein, und zwei von ihnen, Maxim Resnikow und Grischa Genessin, wurden nach Deutschland abberufen, um dort Erfahrungen zu sammeln. Als man im Altaj-Gebiet, in Barnaul, das Textilkombinat gebaut hatte, wurde Resnikow zum Direktor und Genessin zum technischen Leiter ernannt.

Kawerin (ich werde ihn ab jetzt meinen Mann nennen) fuhr nach Abschluß des Technikums nach Noginsk, wo er für die Gluchowsker Fabrik eingeteilt worden war. Auch ich begab mich dorthin. In der ersten Zeit arbeitete ich als Zeitnehmerin in der Fabrik, mein Mann als Meister. Abends arbeitete ich als Lese- und Rechtschreib-Lehrerin (in jener Zeit gab es unter den weiblichen Textilarbeiterinnen noch viele Analphabetinnen; ich brachte zwei Gruppen bis zum Abschluß.

1930 wird unsere erste Tochter geboren, und 1932 ziehen wir nach Serpuchow um, wo die Eltern meines Mannes leben. Kawerin fängt an in der Fabrikschule namens Kossarew zu arbeiten. Früher war das die Fabrik-Berufsschule gewesen, die Kawerin vor seiner Abfahrt nach Moskau abgeschlossen hatte. Man hatte ihn zum Leiter der Weberei ernannt.

Ich arbeite als Normsachbearbeiterin der Weberei- und Spinnerei-Abteilungen, mit mir arbeiten vier Zeitnehmerinnen. Unsere Abteilung TNB (Tarif- und Norm-Büro), das zum Lehrbereich gehört, kontrollierte die zeitlichen Arbeitsabläufe bei den Lehrlingen.

1935 wird unsere zweite Tochter geboren. Das Leben läuft ganz gut, wir haben bereits eine Zweizimmer-Wohnung. Natürlich keine eigene, sondern in einer Kommunal-Wohnung für vier Familien, aber das beunruhigt uns nicht. Wir leben einträchtig beieinander und merken nicht, daß über uns der Orkan des Jahres 1937 hereinbricht, der durch das ganze Land fegt.

Im März 1937 arbeitet Kawerin bereits als technischer Leiter an einer Schule. Irgendwie schaue ich kurz bei Kislewskij, dem Leiter der Weberei, vorbei, und an dessen Schreibtisch sitzt Kawerin und liest die Zeitung „Leichtindustrie“. Mit Befremden und Entsetzen in den Augen wendet er sich mit den Worten an mich: „Schau mal, es stellt sich heraus, daß unsere Jungs Resnikow und Genessin, die in Barnaul arbeiten, Volksfeinde sind! Hier ist ein Artikel über sie!“

Am 10. April wurde Kawerin auf einer geschlossenen Partei-Versammlung aufgrund von Beziehungen zu Volksfeinden als Mitglied der WKP/B ausgeschlossen. Wie ich später aus Briefen von meinem Ehemann erfuhr, war es offenbar Kislewskij, der eilig der Parteiorga-nisation Mitteilung darüber gemacht hatte, daß Kawerin mit Volksfeinden in Verbindung gestanden hatte. Sofort holte man ihn von der Arbeit weg, während sie mich einstweilen in Ruhe ließen; wir leben in derselben Wohnung. Alle Freunde haben sich abgewandt. Sie bemühen sich darum, uns nicht zu begegnen, und wenn wir uns mal begegnen, dann grüßen sie nicht.

Alexej geht als Schlosser in die Gießerei. Er arbeitet fleißig, aber nach zwei bis drei Monaten steht sein Familienname bereits am Roten Brett, das sich am Werkseingang befindet. Als ich nach seiner Verhaftung zur Gießerei ging, um seinen Lohn abzuholen, habe ich seinen Nach-namen dort selber gesehen.

Inzwischen wurde der Orkan, der über unser Land hinwegfegte, stärker. Jeden Tag erfuhren wir von neuen Verhaftungen, von Familiennamen, die auch unsere Seelen in Aufregung versetzten. Alexej besorgt sich heimlich von mir auf Vorrat Machorka-Tabak an und verbirgt ihn in in einem Versteck, von dem ich erst am Tage seiner Verhaftung erfahre.

Und dann kam dieser unglückselige Tag, der 3. Oktober 1937, der uns für immer auseinander-reißen sollte. Mein Mann arbeitete in der zweiten Schicht, kam sehr spät nach Hause, und wir schliefen noch nicht. Um ein Uhr nachts wurde bei uns an die Tür geklopft, und herein kam ein Mann ohne jegliche Zeugen, sehr höflich. Er überbrachte einen Haussuchungs- und Haftbefehl. Die Durchsuchung führte er nur oberflächlich durch, sah sich einige Bücher an, blätterte sie nicht einmal durch, nahm aus dem Album einige Fotografien heraus, die aus Deutschland mitgebracht worden waren.

Er trat auf mich zu und sagte leise und höflich: „Machen Sie sich keine Sorgen, wir klären das, er kommt zurück“. Er wandte sich an Alexej und meinte: „Wenn Sie Raucher sind, dann nehmen Sie sich etwas zum Rauchen mit. Und Essen für einen Tag und eine Nacht“.

Ich stand nicht vom Diwan auf, begleitete meinen Mann nicht. Ich konnte nicht aufstehen: die Beine versagten mir. Als er sich von den schlafenden Kindern verabschiedete sagte mein Mann: „Paß gut auf die Kinder auf“. Das war alles, was in der Nacht zum 4. Oktober 1937 geschah.

Um fünf Uhr morgens machte ich mich trotzdem mühsam auf den Weg zu meinen Schwie-gereltern, um ihnen die schreckliche Nachricht von dem Unglück zu überbringen, welches uns widerfahren war. Von meinem Posten als Normsachbearbeiterin wurde ich entlassen; man versetzte mich als Rechnungsführerin in die Buchhaltung. Schrecklich diese Zeit, wenn alle, selbst die dir nahestehenden Menschen, sich von dir abwenden, sobald sie dir begegnen.

Irgendwie hielt mich, als ich von der Arbeit nach Hause wollte, unsere alte Ausbilderin an und äußerte sich voller Mitgefühl über Kawerin, und ich ließ während des Gesprächs die Bemerkung fallen: „Die guten Leute haben sie verhaftet, die schlechten haben sie zurückge-lassen“. Diesen Satz hörte die eben an uns vorbeigehende Schumilina, ebenfalls Ausbilderin, und machte offenbar beim NKWD eine entsprechende Meldung, denn der Ermittlungsrichter beschuldigte mich später dieser Worte.

Am 7. Dezember 1937 wurde ich durch einen Telefonanruf ins NKWD bestellt, ins Zimmer Nr. 7. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, daß sie mich wegen meines Mannes kommen ließen, denn während der vergangenen zwei Monate war ich fast täglich zum Untersuchungs-führer gegangen, um ihm zu beweisen, daß mein Mann sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.

Da mir überhaupt nicht der Gedanke kam, daß sie mich verhaften könnten, ging ich auch gar nicht erst nach Hause, um mich von den Kindern zu verabschieden, sondern saß bereits nach dreißig Minuten im Arbeitszimmer des Ermittlungsführers. Vor mir ein grobschlächtiger, ungepflegter Mensch, schon ziemlich alt. Er schlug einen Aktenordner auf und begann mich unsinniger Dinge zu beschuldigen. Vor allem wäre ich angeblich, während ich Sekretärin der Kommunistischen Jugendorganisation am Technikum war, nicht wachsam gewesen und hätte Tokarew nicht als Trotzkisten entlarvt. Er liest weiter: daß Tokarew uns nach der Registrie-rung der Ehe mit Kawerin einen Betrag in Höhe von 1000 Rubel zugeteilt hätte. Diese Beschuldigungen wies ich heftig zurück. Da sagte er äußerst boshaft: „Aber diesen Satz während der Unterhaltung mit der Ausbilderin wirst du doch nicht leugnen – die guten Leute haben sie verhaftet und die schlechten lassen sie zurück?“ Ich antworte: „Ja, das habe ich gesagt, und ich sage es auch jetzt“. Er schien sich über mein Geständnis zu freuen und stieß hervor: „Das bedeutet also deiner Meinung nach, daß dein Mann gut ist und Stalin schlecht?“

Dieser Vergleich empörte mich ganz entschieden, und grob erwiderte ich: „Du bist nur ein dummer Mensch, wenn es doch eine Maschine gäbe, die ganz unvoreingenommen unsere Seelen öffnen könnte und definieren würde, wer ein Feind und wer ein Freund der Sowjet-macht ist!“ Erneut begann er über Kawerin wie über einen Volksfeind zu sprechen. Ich geriet in Wut und wurde noch einmal grob. Er fing nicht an mich zu schlagen, sondern rief sofort einen Wachsoldaten herbei und schickte mich in die Untersuchungszelle, in der ich die erste Nacht verbrachte.

Das erste, was mit wieder in den Sinn kam, waren die Kinder – schließlich habe ich sie bei fremden Menschen zurückgelassen! Werden sie zu den Großeltern komen oder wird man sie abholen und ins Kinderheim bringen? Die ganze Nacht lief ich in der winzigen Zelle hin und her, d.h. drei Schritte hin – und drei Schritte zurück.

Zu Verhören wurde ich nicht mehr gerufen, aber am nächsten Morgen brachte mich ein Milizionär ins Serpuchowsker Gefängnis. Dieses Gefängnis, wie auch jene, in die ich danach kam, war völlig überfüllt: auf den Pritschen war kein Platz mehr frei, nur auf dem Boden. Sobald man mich in die Zelle hineingestoßen hatte, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben

„Schwerverbrecherinnen", und in meinem Kopf blitzte der Gedanke auf: mit denen stellen sie mich also auf eine Stufe! Und sogleich legte ich mir selbst das Gelöbnis ab: Nichts trinken! Nicht schimpfen! Nicht rauchen! Jene bleiben, als die ich in diese „Gesellschaft“ hineinge-raten bin! Ich will nicht verschweigen, was am ersten Tag und vielleicht in der ersten Stunde geschah, als ich mich plötzlich im Gefängnis befand.

Ich habe schon erzählt, daß ich direkt vom Dienst ins Gefängnis kam, so wie ich war, sogar ohne Handtuch. Und als sie die Brotration brachten und mir auf die Knie legten, kam ein Mädchen von etwa 14, 15 Jahren herangelaufen, ergriff das Brot und begann gierig zu essen.

Sofort fielen einige der erwachsenen Gewohnheitsverbrecherinnen über sie her und fingen an erbarmungslos auf sie einzuschlagen und sie zu beschimpfen. Das Mädel tat mir leid, ich wollte mich für sie einsetzen, aber man erklärte mir, daß es unter den Gaunern ein Gesetz gibt: die Eßration ist unantastbar. Brot darf man niemals wegnehmen: alles andere ja, aber Brot nicht.

Nach 8 Tagen, mitten in der Nacht, holen sie mich aus der Zelle und schicken mich auf Etappe, ohne Angabe eines Paragraphen oder der Strafdauer. Beim Einsteigen in den heiz-baren Güterwagen werden Formulare vorgelesen und ich höre, wie sie im Nachbarwaggon den Familiennamen Kawerin ausrufen. Das bedeutet, daß sie uns in ein und demselben Transport bis nach Moskau bringen. In Moskau bringen sie mich ins Nowinsker Frauenge-fängnis - und ihn, wie ich später aus Briefen erfahre, ins Sretensker Gefängnis.

An einem kurzen Januartag hatten sie uns nachts in Serpuchowo aufgeladen und in Moskau, ebenfalls nachts, irgendwo an der Umgehungsstrecke der Eisenbahn abgeladen. Strengste Bewachung, mit Hunden. Anhand von Formularen fand eine Überprüfung statt, und der „Schwarze Rabe“ (ein Bus ohne Fenster) fuhr zum Gefängnis. Man brachte uns in einer Zelle unter, die etwa 50 qm groß war, ohne Pritschen, einem Zement-Fußboden und – vollgestopft mit Menschen. Unser Platz, der Platz derer, die aus anderen Gefängnissen hierher transpor-tiert worden waren, lag neben der Türschwelle, neben dem „Latrinenkübel".

Hier gibt es viele Frauen von verantwortungsvollen Arbeitern, sie haben bereits den Paragraphen „Ehefrau“1 erhalten und eine Haftdauer von – 10 Jahren.

Nach sieben Tagen werde ich aus der Zelle in den Korridor hinausgerufen und soll für den mir vorgewiesenen Paragraphen ASA (antisowjetische Agitation), Haftstrafe 10 Jahre, quittieren. Einen Tisch gibt es im Korridor nicht, ich muß an der Wand unterschreiben. Über den Paragraphen entschieden hat eine Trojka des NKWD2.

Am 22. Januar 1938 werden viele aus unserer Zelle, darunter auch ich, zum Gefangenen-Transport herausgerufen. Wieder der „schwarze Rabe“, beim Aufladen strengste Bewachung, Hunde.

Das erste Gefängnis befand sich in Sysran. Das war nich nicht einmal ein Gefängnis, sondern eine einfache Baracke, die man in aller Eile im Gefängnishof errichtet hatte, verputzt mit frischem Stallmist und Lehm. Es herrschte eine schreckliche Feuchtigkeit. Zwar gab es hier Pritschen, doch sie waren alle belegt mit Ortsansässigen, und so mußten wir wieder an die Türschwelle rücken. Das nächste Gefängnis – Nowosibirsk. Wir fahren in beheizten Güter-wagen, wie viele Tage – ich weiß es nicht mehr, aber es hat lange gedauert: es ist bereits Februar. Die Berufsverbrecher besetzen die Pritschen, wir, die „Volksfeinde“ müssen wieder an die Tür.

Das nächste Gefängnis – das schrecklichste von allen, das Irkutsker Zentral-Gefängnis. Hier waren wir nicht lange3, man transportierte uns weiter in die Stadt Swobodny (am Fluß Seja).

Erst Ende April kam unser Zug im Durchgangslager, an der Station Iswestkowaja4, im Gebiet Chabarowsk, an.

Nach einer zweiwöchigen Quarantäne wurden wir auf verschiedene Kolonien verteilt: nach Kuldur, Urgal und andere Stationen.6

Das Lager ist bei weitem kein Gefängnis. Hier atmen wir soviel frische Luft wie wir wollen, und wenn du eine ernsthafte Einstellung zur Arbeit hast – dann wirst du satt, obwohl es schlecht schmeckt.

Meine erste Arbeit im Durchgangslager war: Wäscherin im Sanitätszug. Am Ufer irgendeines kleinen Flüßchens stellten sie zwei Waggons hin, in einem von ihnen gab es zwei Kessel und darunter einen Ofen. In den Kesseln wird Wasser heißgemacht. In dem anderen Waggon steht ein Behälter für sauberes Wasser. Alles wird mit der Hand gemacht. Den Menschen aus dem Gefangenentransport wird die Unterwäsche (wenn man das so bezeichnen kann) abgenom-men, zu viert stopfen wir die Wäsche in das heiße Wasser und rühren mit einem Stock um.

Zwei Stück Seife gaben sie uns. Dann nahmen wir die Wäschestücke mit einem gegabelten Stock heraus und warfen sie in das saubere Wasser. Getrocknet wurde auf den Büschen, direkt bei den Waggons.

Nach fünfmonatigem Sitzen in Gefängnissen und Güterwagen wollte ich unbedingt arbeiten, mich mit irgendetwas, egal was, beschäftigen, nur nicht tatenlos herumsitzen, aber auch das Alter einer zweiunddreißigjährigen Frau verlangte nach Beschäftigung, d.h. Arbeit. Gegen 3 – 4 Uhr waren wir mit unserer Aufgabe bereits fertig und gaben alles in der Kleiderkammer ab.

Zu dieser Zeit stand an der Station Iswestkowaja ein Waggon, in dem Dawydow wohnte – ich weiß nicht, ob er General oder Oberst war, ich hatte lediglich auf seiner Brust ein paar Orden gesehen. Wie ich später erfuhr, war er Mitarbeiter von Blücher, der sich damals in Wladiwo-stok befand.

Während der Quarantänetage zählte das Durchgangslager bis zu tausend Menschen. Im Juni ist es warm, und weil keine Kantine alle Gefangenen fassen konnte, wurden sie in Gruppen eingeteilt und aßen auf der Straße, an Tischen, die in aller Eile zusammengestellt worden waren. Nach meiner Arbeit, um sechs Uhr abends, hat man mich zum Austeilen des Abend-essens eingeteilt, so eine Art Kellnerarbeit. Und einmal, während des Abendessens, als Dawydow die Vorübergehenden beobachtete, rief er den Leiter des Durchgangsgefängnisses zu sich heran und sagte irgendetwas zu ihm. Am nächsten Tag schickte man mich mit einem Wachmann in die Kantine für die Freien. Sie befand sich etwa einen Kilometer vom Durch-gangslager entfernt.

Und nun bin ich schon Ober-Kellnerin. Die Leiterin dort war auch eine Freie, die meisten der Arbeiter sind mit einem gewöhnlichen Alltagsparagraphen verurteilt worden, und mein Paragraph „ASA“ (antisowjetische Agitation) wurde wahrscheinlich gleichgesetzt mit "SWE" (gesellschaftsgefährdendes Element).

Nach ein paar Tagen, auf Anordnung Dawydows, begann ich die Mitarbeiter des NKWD zu bedienen, die zur Nachtzeit in die Kantine kamen, und da brauchte ich schon nicht mehr ins Durchgangsgefängnis gehen. Gelegentlich schaute Dawydow kurz in der Kantine vorbei, aber meistens kam sein Wachmann und holte das Mittagessen in den Waggon.

In der Kantine aßen auch Mitarbeiter der Sichote- Alinsker Expedition zu Mittag; zwischen ihnen und mir entstand ein gutes Verhältnis. Von ihnen erbat ich ein Schreibheft und einen Stift. Jetzt kann ich eine offizielle Beschwerde an Stalin schreiben. Irgendiwe im September, das Datum erinnere ich nicht mehr, kam niemand aus Dawydows Waggon, um das Mittag-essen zu holen, und da wußten wir, daß der Waggon nicht mehr da war, man hatte ihn nach Moskau fortgeschickt. Damals wurde bekannt, daß man Blücher ebenfalls verhaftet hatte. Nach einigen Tagen wurden alle Häftlinge mit dem Paragraphen „KR“ (Konterrevolutionär), die in der Kantine arbeiteten, ins Isolationsgefängnis gesteckt, hier, in Iswestkowaja.

Auch meinen Paragraphen änderten sie von „ASA“ in „KR“ um und brachte mich per Etappe, zusammen mit allen anderen, zum Bau der Eisenbahntrasse. Und da bin ich in der 3. Kolonne, beim Aufschütten des Bahnkörpers. Das ist 20 km von Iswestkowaja entfernt, in Richtung Kuldur und Urgal.

Bald wurde klar, daß in meine Akte noch in Moskau ein Papier dazugeheftet worden war: „Zur Verwendung im BamLag gemäß fachlicher Fähigkeiten". So fing ich auch an als Normsachbearbeiterin zu arbeiten. In den Händen halte ich bereits die „Mittel“, das heißt Papier und Stift, und habe einen Platz, wo man schreiben kann; ich fange an, die offizielle Beschwerde an Stalin zu schreiben, bitte darum meine Akte noch einmal zu überprüfen. Die Antworten kommen schnell: „Abgelehnt“. Ich quittierte den Empfang des Ablehnungsbe-scheids und schrieb sogleich eine neue Beschwerde.

Während wir in Iswestkowaja waren hörten wir, daß es Jeschow schon nicht mehr gibt, daß im NKWD bereits Berija herrscht. Ich richte die Beschwerde an den Namen Berijas und erhalte wieder negative Antworten. Und so setzt sich diese Korrespondenz bis ins Jahr 1944 fort, als ich mich endlich entschloß, nicht mehr ein Gesuch zu schreiben, sondern einfach einen Brief, zu Händen des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjet, M.I. Kalinin.

In diesen Jahren mußte ich auch in der Ziegelei arbeiten, ebenfalls als Normsachbearbeiterin, wobei ich dies mit den Aufgaben einer Kontrolleurin im Wald (wieviel von welcher Baumart abgeholzt wurde) zu vereinbaren suchte, wo Holz zum Brennen der Ziegel beschafft wurde. Diese Ziegel wurden für die Schule in der Stadt Tyrma hergestellt, dem einzigen Ziegelstein-Gebäude in der Stadt. Heute existiert Tyrma bereits auf der Landkarte8.

Nach der gesamten Haftstrafe, 6 Jahre und 8 Monate, mußte ich auch noch im Zentral-Labor arbeiten, in dem Zement-, Kies- und Boden-Analysen vorgenommen wurden. Meine Aufgabe war es, die Resultate zu sammeln und an Adressen zur verschicken, an irgendwelche Bau-Abteilungen. Ich mußte ebenfalls als Normsachbearbeiterin in den zentralen Schneider-Werkstätten und auf dem Flugplatz „Elga“7 arbeiten. Dies war ein dringendes Bau-Projekt, ein kleiner Fluplatz am Berg. Wahrscheinlich wollte man sich bereits auf den Krieg mit Japan vorbereiten.

Ab Elga gingen wir schon zufuß, denn die Schienen waren weggenommen und irgendwohin abtransportiert worden, was offensichtlich mit dem Krieg zusammenhing. So liefen wir also einfach auf dem Bahnkörper entlang, den wir selbst drei Jahre zuvor angelegt hatten.

Ich muß noch anmerken, daß, sobald ich an Papier und einen Stift herangekommen war, ich einen Weg suchte, um mit meinem Mann und den Kindern, die in Serpuchowo zurückgeblie-ben waren, in Briefwechsel zu treten. Von den Eltern meines Mannes hatte ich erfahren, daß er sich in Rybinsk an der Wolga8 befand. Man hatte uns das Recht auf Korrespondenz nicht entzogen, und hin und wieder erhielt ich Briefe. Auf meine Frage, weshalb er denn keine offizielle Beschwerde nach Moskau schriebe, antwortete mein Mann: „Ich glaube daran, daß die Gerechtigkeit siegen wird“. Aber er erlebte keine Gerechtigkeit mehr; im Jahre 1943 verstarb er – am 23. November in Nischnij Tagil, im Ural, wohin man das gesamte Lager aus Rybinsk verlegt hatte, als dort die Front immer näher kam.

Von den Kindern, die bereits zur Schule gingen, kam auch gelegentlich ein Brief. Ich hatte erfahren, daß sie nicht ins Kinderheim gekommen waren, sondern bei den Eltern meines Mannes leben. Die Kleine schrieb: „Wir leben gut, wir haben Kartoffeln, Weißkohl und Zuckerrüben“. Über die Bombardierungen schrieben sie nichts, obwohl Serpuchowo bombardiert wurde und sie sich im Keller versteckten.

Am 10. August 1944 arbeitete ich in der 6. Abteilung9 und dachte überhaupt nicht an meine Freilassung, denn zu jener Zeit wurden selbst die, die ihre Haftstrafe abgesessen hatten, nicht in die Freiheit entlassen, sondern wurden „aufgrund einer Verordnung“ bis zum Ende des Krieges dabehalten. In der Tat zahlte man ihnen damals schon Lohn und siedelte sie in separate Baracken um, getrennt von den Häftlingen.

Und plötzlich, in der Mittagspause, ruft mich der Leiter der Allgemeinen Versorgungsstelle, Gelfond, zu sich ins Arbeitszimmer und fragt: „Was hast du heute Nacht geträumt?“ Ich antworte: „Nichts“. Und er fragt weiter: „Hast du Kinder?“ Ich antworte: „Ja, zwei“.

„Nun, man hat dich freigelassen. Geh' in die 2. Abteilung, dort werden sie dir alles sagen“.

Was jetzt in mir und um mich herum geschah, läßt sich schwer beschreiben. Tränen der Freude und gleichzeitig der Fsssungslosigkeit darüber, daß ich weder eine einzige Kopeke besaß noch Lebensmittelkarten, geschweige denn ein Dach über dem Kopf. Ich wußte zu dem Zeitpunkt auch noch nicht, daß ich für 3-4 Tage in ein Durchgangsgefängnis kommen sollte, während meine Dokumente rechtskräftig ausgestellt wurden. Ich empfand es als sehr krän-kend, daß ich dort von einem Wachmann begleitet wurde.

Dennoch verbrachte ich die erste Nacht in der Stabskolonne. Wahrhaftig, der Wachmann lachte und sagte: „Du kannst allein gehen, du brauchst mich nicht“. Aber ich ging mit allen zusammen in Reih und Glied.

ANMERKUNGEN.

1. Paragraph 58-12 (Familienangehöriger eines Vaterlandsverräters). In der Zelle befanden sich auch die Ehefrau Uglanows (sie legte ein äußerst stolzes Verhalten an den Tag), sowie Sinaida Nikolajewna Posnanskaja (geb. um 1890), die bereits 1925 von ihrem Mann geschieden worden war (man hatte sie mit jener Etappe bis zur Station Iswestkowaja gebracht, von dort jedoch umgehend nach Akmolinsk weitergeschickt, ins Lager ALSCHIR).

2. Anordnung der Trojka der Moskauer Gebiets-UNKWD vom 20.12.1937.

3. Ungefähr drei Wochen.

4. Oblutschensker Kreis, im Jüdischen Autonomen Gebiet, Region Chabarowsk.

5. BamLag, später BurLag (Bureinskij ITL). Die Rede ist von einer Zweiglinie der Transsib,

die von der Station Iswestkowaja nach Norden geht, in Richtung Urgal am Fluß Bureja.

6. Station am Bahnabzweiger nach Urgal (siehe oben), auf halber Strecke zwischen Iswestkowaja und Urgal, im Werchnebureinsker Kreis, Region Chabarowsk.

7. Vorübergehender Flugplatz, gebaut ab 1941 an der Station Elga, an jenem Bahnabzweiger nahe Urgal (gleicher Kreis wie oben).

8. Alexej Wassiljewitsch Kawerin (1906-1943) saß im WolgoLag (in Rybinsk, Gebiet Jaroslawl) und arbeitete als Bauleiter beim Kanalbau. Im Herbst 1941 kam er ins TagilLag (Nischnik Tagil, Swerdlowsker Gebiet).

9. Die 6. Lager-Abteilung des NischamurLag (Nischneamursker ITL, auch ITL „AS“ genannt), in Komsomolsk-am-Amur, Region Chabarowsk. 


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