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Heimatkunde-Museum des Autonomen Gebietes Tajmyr. „Museumsbote“. Ausgabe 1.

Die Geschichte einer Familie

Dudinka, Valentina Wladimirowna Beilmann

Seid gegrüßt, liebe Neffen und Nichten samt Euren Familien!


Vorkriegskindheit an der Wolga, 1938
Dorothea Degraf (2. von links)

Walja, wir haben Deinen Brief mit der Postkarte erhalten, danke. Du bittest darum, Dir alles zu schreiben, was ich vom Vater in der Erinnerung habe. Dass Ihr vorhabt, nach ihm zu suchen, ist gut. Davon hat schon meine Mama geträumt. Sie hat auf Euren Großvater Adolf Fjodorowitsch gewartet und nach ihm gesucht. Aber er ist verschollen, sein Bruder Jakob hat ihn auch gesucht, aber man hat ihm nicht geantwortet. Natürlich wäre es schön zu wissen, wo er begraben liegt. Ich glaube sogar, dass er erschossen wurde, denn er war ein wahrer Kommunist, soweit ich mich erinnern kann. Ich werde alles schreiben, was ich von Eurem Großvater und meinem Vater Adolf Fjodorowitsch Sabelfeld weiß.


Adolf Fjodorowitsch Sabelfeld mit seiner Ehefrau Pelageja Christoforowna
und den Söhnen Wladimir und Rudolf. Engels, 1937

Vater wurde am 30. Dezember 1899 in Marxstadt (heute Marks) geboren. 1922 oder 1923 kam er nach Engels und fand eine Anstellung als Setzer in der typographischen Anstalt. Irgendwann, 1924-1925, trat er der bolschewistischen Partei bei. 1924 heiratete er Eure Großmutter Pelageja Christianowna Kusina. In Engels lebten wir bis zum 3. September 1941, bis sie uns nach Sibirien zwangsaussiedelten. Am 13. Oktober 1941 trafen wir an unserem neuen Wohnort in der Region Krasnojarsk ein, im Abansker Bezirk, in der Siedlung Ustinka. Dort wohnten wir einen Monat, dann schickten sie ihn und uns auf Anordnung des Abansker Bezirkskomitees der Partei auf eine Kolchose im Dorf Makaschicha, wo sie ihn zum Kolchosvorsitzenden ernannten. 1942, am 2. Januar, holten sie den Vater und noch ein paar Männer im Alter von 17-18 Jahren an die Arbeitsfront, zur Holzfällerei in die 120 km weiter südlich liegende Stadt Kansk.

Ñàáåëüôåëüä Àëåêñàíäð è Âàëåíòèíà 1954 ÊàçàíöåâîUnsere Mama begab sich im Sommer 1942 zusammen mit ihrer Freundin zum Vater und brachte ihm Essen. Zwischen Juni und August legten sie insgesamt dreimal den Weg dorthin zurück. Als sie das erste Mal beim Vater war, sah sie, dass die Männer in der Taiga arbeiteten, aber frei lebten; beim zweiten Mal arbeiteten sie bereits hinter Stacheldraht und unter Bewachung. Als sie ihn zum dritten Mal aufsuchte, war der Vater bereits nicht mehr dort. Jemand sagte, dass man sie wohl mit einer Gefangenenetappe auf einem Lastkahn in den Norden gebracht hätte. Aber Mama und ich glauben, dass sie ihn eingesperrt und erschossen haben; er hatte wohl versucht zu beweisen, dass er ein echter Kommunist war. Kann sein, daß er 1937 neun Monate in Untersuchungshaft saß – solche Schriftstücke trafen aus Engels ein. Aber damals entließen sie ihn, nahmen ihn wieder in die Partei auf und schickten ihn zur Ausbildung nach Moskau. Wäre er am Leben geblieben, dann hätter er uns benachrichtigt und auch gefunden.

Walja, ich weiß, dass in der Stadtzeitung von Engels der Familienname meines Vaters und Deines Großvaters erwähnt ist. Er war vor dem Krieg Mitglied des Allrussischen Zentral-Exekutivkomitees der Räte- und Arbeiter-, Bauern . u. Rotarmistendeputierten in der deutschen Republik und nahm dort irgendeinen Posten ein. Vater sagte immer, dass an erster Stelle die Partei steht und erst dann die Familie kommt, obwohl er ein sehr guter Familienvater war. Er war groß – 188 cm, hatte lockiges Haar und trug eine Brille. Das ist alles, was ich von meinem Vater weiß.

Walja, vielleicht können wir ja erfahren, wie er gestorben ist. Schreibt.

Rudolf Sabelfeld
16. März 1991

Äåãðàô Äîðîòåÿ Áîãäàíîââíà 1947Dieser Brief ist an Valentina Beilmann, die Tochter von Wladimir Adolfowitsch und Dorothea Bogdanowna Sabelfeld, im Tajmyr-Gebiet bekannte Leute, adressiert. Anhand von Valentinas Erzählungen gelang es ihrer russischen Großmutter P. Ch. Kusina, die beiden jüngsten Söhne auf ihren Familiennamen umzuschreiben und sie somit vor dem sicheren Tod in der nördlichen Verbannung zu bewahren. Dem dritten Sohn, Wladimir Sabelfeld war es dagegen nicht möglich, der Sonder-Zwangsansiedlung zu entgehen. Er wurde im Herbst 1942, zusammen mit einer Gruppe Sondersiedler, am Ufer des Jenisej, in der Siedlung Kasanzewo, abgesetzt.

Er machte alle Schicksalsschläge durch, die auf das Los der Sondersiedler nur entfallen konnten; allein, ohne Familie, überlebte er und lernte eine Menge. Mit der Zeit wurde aus ihm ein guter Fischer, zum Stolz und Ruhm des Ust-Jenisejsker Bezirks.

Er war bis 1959 als Fischer tätig, danach leitete er die Fanggenossenschaft „Gardist“ im Kasanzewsker Revier der Ust-Porter Fischfabrik und das Fangrevier der Sowchose „Oktober“. W.A. Sabelfeld bekam die Medaille „Arbeitsveteran“ verliehen, sein Name wurde mehrfach ins Ehrenbuch des Ust-Jenisejsker Bezirks und der Region eingetragen.


Wladimir Adolfowitsch Sabelfeld, 1956

Valentina wurde 1951 in der Siedlung Kasanzewo, Ust-Jenisejsker Bezirk, geboren, sie gehört zur Generation der Kinder, die in der Sonderansiedlung geboren sind; ihr Bruder Alexander war der erste deutsche Junge, der 1949 in der Sonderansiedlung in Kasanzewo das Licht der Welt erblickte. Seine Geburt bedeutete eine große Freude für alle Bewohner der Siedlung, in der seit 1942 unter den Zwangsansiedlern kein einziges Kind zur Welt gekommen war Alle liebten ihn und trugen ihn auf ihren Armen von Haus zu Haus.

Die Geburt des ersten Kindes nach so langer Zeit war ein gutes Zeichen. Man hatte die schweren Schicksalserprobungen der ersten schlimmen Jahre in der Sonderansiedlung hinter sich gelassen. Die Eheleute Sabelfeld zogen vier Kinder groß – zwei Mädchen und zwei Jungen.

Die Erinnerung an den in die Arbeitsarmee geratenen Großvater Adolf Fjodorowitsch Sabelfeld wird in der Familie W.W. Beilmanns sorgsam gehütet. Er selbst leitet die Tajmyrer gesellschaftliche Vereinigung „Schutz der Opfer illegaler politischer Repressionen“ in Dudinka.

Was mit dem Großvater wirklich geschah und wie er ums Leben kann, konnte bis heute nicht geklärt werden.


663220, Region Krasnojarsk
Ust-Jenisejsker Bezirk, Siedlung Karaul

Auf Ihren Antrag bezüglich der Zusendung einer Bescheinigung, welche den Zeitraum bestätigt, in der sich Adolf Friedriechowitsch Sabelfeld in der Arbeitsarmee befand, teilen wir Ihnen mit, sie sich nicht an die richtige Adresse gewandt haben. Aus anderen Behörden, Unternehmen und Organisationen sind keinerlei Dokumente beim Archiv der Verwaltung U-235 eingegangen.

Leiter der Behörde – J.W. Rublew
663840, Stadtsiedlung Pojma,
Nischneingaschsker Bezirk,Region Krasnojarsk
19. Juli 1991


Informationszentrum der Behörde für innere Angelegenheiten
Region Krasnojarsk
z. Hd. W.G. Bogdanow
660017, Krasnojakrsk, Robespierre-Straße 4
z. Hd. des Vorsitzenden der Kommission
für die Rehabilitiering von Opfern politischer Repressionen
beim Obersten Sowjet Rußlands
A-T- Kopylow
Moskau, Weißes Haus, Russische Föderation

Sehr geehrter Valerij Grigoriewitsch!

Die Umstände zwingen mich dazu, mich erneut an Ihr Informationszentrum zu wenden.

Der Grund ist, dass Sie mir auf mein Schreiben vom 24. November 1992 bezüglich der Suche nach dem Staatsbürger Adolf Friedrichowitsch Sabelfeld mit Brief N°1-3-5707 vom 8. Dezember 1992 den Rat gaben, mich an das Abansker Militärkommissariat zu wenden. Dies Tat ich am 04.01.1993.

Vom Abansker Militärkommissariat erhielt ich die Antwort, dass Angaben über in die Arbeitsarmee mobilisierte Personen nicht zur Verfügung stünden und dass sie unser Gesuch an den Leiter der Abansker Bezirksverwaltung weitergeleitet hätten.

Das Schreiben des Bezirks-Militärkommissariats N° 4-80 vom 08.02.93 ist beigefügt. Mit Brief N° 666 vom 12.03.93 erhielt ich von der Abansker Bezirksverwaltung die Antwort, dass keine Informationen vorlägen und dass ich mich an die Abteilung zur Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen wenden sollte: Krasnojarsk, Robespierre-Straße 4, also an Sie.

Wie Sie sehen, hat sich der Kreis geschlossen, und wir sind erneut auf Anraten der Abansker Bezirksverwaltung bei Ihnen gelandet.

Ehrlich gesagt, wundert es mich, dass es da einen Mann gab, der repressiert wurde, den man in die Region Krasnojarsk verschleppte; hier im Abansker Bezirk wurde er dann erneut repressiert als etwas anderes kann man das ja nicht bezeichnen. Denn die Mobilisierung durch die Bezirks-Militärkommissariate wurde nur zum Schein durchgeführt; sie sollte wie eine ruhige, patriotische Einberufung aussehen – und dann wurden diese Staatsbürger unverzüglich ans MWD weitergeleitet, zu deren Kompetenzbereich alle Lager der „Trudarmisten“ gehörten.

So sieht nämlich die Wahrheit aus. Aber nun, da Kinder und Enkelkinder sich darum bemühen herauszufinden, was mit ihren Vätern und Großvätern geschehen ist, da sie erfahren wollen, wo sich ihre Väter und Großväter befinden, von denen sie bis zum heutigen Tage nicht wissen, wo sie gefallen sind, befassen sich die Dienststellen, die eigentlich dazu aufgerufen sind, in jeglicher Weise bei der Suche Hilfestellung zu geben und die notwendigen Informationen über die Verwandten ausfindig zu machen, mit bürokratischen Antwortschreiben. Das ist übrigens nicht nur in der Region Krasnojarsk der Fall. Wir erhalten aus vielen Orten derartige Schreibereien. Alle, die in die Problematik der Repressionen involviert sind, erklären heute ihre Unkenntnis, anstatt sich in operativer Weise anzuschließen und bei den Untersuchungen mitzuwirken. Es kann doch nicht sein, dass Menschen spurlos verschwunden sind, während man sie so „beschützte“ – in von Hunden bewachten und von Stacheldrahtzäunen umgebenen Lagerzonen.

Wir hoffen auf eine operative Mitarbeit bei den Recherchen. Wir erwarten Ihre Antwort, damit wir den Kindern und Enkeln endlich Ergebnisse mitteilen können.

Ihre Rückanwort schicken Sie bitte an: 663210, Stadt Dudinka, Haus der Räte, Kabinett 419, an L.L. Loch.

Hochachtungsvoll
Volksdeputierter des Tajmyrer Regionsrats
der Volksdeputierten,
Mitglied der Kommission zur Rehabilitierung
von Opfern politischer Repressionen
L. Loch
22.3.1993


An den Volksdeputierten des Tajmyrer Regionsrats
der Volksdeputierten
L.L. Loch
663210, Stadt Dudinka, Haus der Räte, Kabinett 419
Kopie: An den Leiter des Infromationszentrums
der Verwaltung für Innere Angelegenheiten
der RegionKrasnojarsk –
A.N. Schelowanow
660017, Krasnojarsk, Robespierre-Straße 4

Ihr Brief vom 22.03.93, der uns von der Kommission zur Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen des Obersten Rates Rußlands zuging und in dem sie um Mitwirkung bei der Feststellung des Schicksals von A.F. Sabelfeld bitten, wurde dem Zentrum für Archivunterlagen und der Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen beim Staatlichen Informationszentrum des Ministeriums für innere Angelegenheit der Russischen Föderation zur erneuten Überprüfung vorgelegt.

Wir teilen Ihnen mit, dass zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges, gemäß Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR und den auf ihrer Grundlage herausgebrachten Beschlüssen des Staatlichen Komitees für Verteidigung der UdSSR, unterschiedliche Kategorien von Staatsbürgern in zahlreiche Zweige der Volkswirtschaft des Landes mobilisiert wurden.

Wie die Arbeitspraxis im Umgang mit Gesuchen der Bürger zeigt, haben die Militärkommissariate in den meisten Fällen Materialien aus ihrer Registratur über diese Personen aufbewahrt und geben die notwendigen Unterlagen auch an Interessenten heraus. Aber leider liegen uns Fakten darüber vor, dass die Bezirksmilitärkommissariate derartige Materialien vernichtet haben.

Registrierungsmaßnahmen bei Personen, die in Arbeitskolonnen mobilisiert wurden, wurden nur dann durchgeführt, wenn sie unmittelbar im Kompetenzbereich der NKWD-Organe lagen; den Organen für innere Angelegenheiten oblag diese Aufgabe nicht. Ein bestimmter Teil dieser Personen wurde zwischen 1945 und 1949 in den Status von Sondersiedlern transferiert und erst dann beim Ministerium für Inneres, der Behörde für innere Angelegenheiten am Wohnort sowie beim MWD der UdSSR registriert (heute Staatliches Informationszentrum des MWD Rußlands).

Unter Berücksichtigung des oben Dargelegten kann man sagen, dass die Organe des Inneren in ihren Möglichkeiten. dem Antragsteller bei dem angesprochenen Problem Hilfestellung zu geben, eingeschränkt sind.

Den zweiten Adressaten bitten wir, einen Teil der Archiv-Personendaten der Sondersiedler durchzusehen – mit dem Ziel, die Wohnorte der Personen herauszufinden, die Anfang 1942 vom Abakansker Bezirksmilitärkomissariat mobilisiert wurden, und der Antragstellerin nach Möglichkeit das registrierte Todesdatum des Verwandten mitzuteilen, damit dies bei den Organen der Personenstandsbehörde überprüft werden kann.

Leiter K.S. Nikischkin

Ministerium des Innern
der Russischen Föderation
Zentrum für Rehabilitation und Archivinformationen
Betr.: Ermittlung des Schicksals von A.F. Sabelfeld
03.06.1993

Somit gelang es also nicht, über das Schicksal von A.F. Sabelfeld etwas herauszufinden.


Anmerkungen der Redaktion der Internetseite der Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist von diesem Mann die Rede:

SABELFELD, Adolf Friedrichowitsch, geb. 1899 im Gouvernement Saratow. Deutscher. Trudarmist in der Arbeitskolonie in Wjerchnjaja Tuguscha, Ilansker Bezirk, Region Krasnojarsk. Am 16.10.1942 verhaftet. Angeklagt nach § 58-10 des Strafgesetzes der RSFSR. Am 30.10.1943 von einem Sonderkollegium des NKWD der UdSSR zu 10 Jahren Arbeits- und Erziehungslager verurteilt. Am 07.03.1955 durch eine Kommission der Region Krasnojarsk zur Prüfung von Gerichtsverfahren rehabiltitiert (P-4624).

In diesem Fall hat der Genosse Rubljow, Leiter der U-235 eine unwahre Information erteilt:
A.F. Sabelfeld verbüßte nicht nur seine Haftstrafe im Kraslag, sondern wurde dort auch zu 10 Jahren verurteilt. Zumindest hat es dann von A.F. Sabelfeld in der U-235 zu dem Zeitpunkt eine Registrierkarte gegeben.

Aus der Zeitung „Sowjetischer Tajmyr“
Vom 28. August 1988


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