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Heimatkunde-Museum des Autonomen Gebietes Tajmyr. „Museumsbote“. Ausgabe 1.

Brigitte Genrichowna (Heinrichowna) WAKKER (Hinz)

Geboren 1927 in der Ortschaft Hussenbach, Autonome Republik der Wolgadeutschen (im folgenden ASSR WD genannt). Wurde als Folge des Ukas vom 28. August 1941 in die Region Krasnojarsk, Scharypowsker Bezirk, ausgesiedelt. Ab 1942 als Zwangsangesiedelte in der Siedlung Ust- Chantajka, Bezirk Dudinka. Arbeitete als Fischerin, tierärztliche Helferin und Rentierzüchterin. Berühmte Rentierzüchterin auf der Halbinsel Tajmyr. Lebt in Dudinka.

- 1941 war ich vierzehn Jahre alt, mein Bruder sechzehn. Die Eltern starben früh. Um weiter zur Schule gehen zu können, zogen wir zu Bekannten in die Stadt Engels, die uns wie ihre eigenen Verwandten aufnahmen. Am 31. August machten wir uns auf den Weg zur Schule, um an einer Festveranstaltung teilzunehmen, aber unsere Freude wurde verdunkelt. Der Schuldirektor befahl: „Alle Deutschen, zwei Schritte vortreten!“ Und mit diesen beiden Schritten begannen unsere Qualen.Am 2. September näherten sich den Häusern, in den Deutsche wohnten, Fuhrwerke; die allernotwendigsten Sachen wurden aufgeladen, unter denen sich allerdings keine Gegenstände aus Holz befinden durften, und dann mußten wir uns für immer von unserer kleinen Heimat verabschieden.

In Sibirien arbeitete ich in der Kolchose und erledigte dort die gleichen Arbeiten wie die Erwachsenen: ich grub Kartoffeln aus, brachte das Getreide ein, hütete Tiere, war Kindermädchen. Im Juni 1942 wurde verkündet, dass Familien, in denen es keine kleinen Kinder gab, für einen Zeitraum von vier Monaten in den Norden fahren sollten.

Am 24. Juni wurden die Deutschen im Alter von 14 bis 30 Jahren am Ufer des Jenisej an Land gesetzt. Wir waren insgesamt 105 Personen.

In Erinnerung geblieben sind die riesigen Findlinge, der breite Fluß und die nie untergehende Sonne ...

Die kleine sibirische Siedlung, in die sie uns gebracht hatten, hieß Ust-Chantajka. Es gab dort lediglich vier Häuser und einen Laden. Man organisierte die deutsche Kolchose „Nordweg“. Vorsitzender der Kolchose wurde der Deutsche Wladimir Andrejewitsch Schott. Wir machten uns daran, dass Gelände in Ordnung zu bringen und uns Laubhütten zu bauen, in den wir wohnen würden. Dann stellten wir Fischfang-Brigaden zusammen. Am 9. Juni fuhr die erste Brigade zum Fischfang aus, aber die Fischer wurden sogleich von einem Mißerfolg heimgesucht.

Auf dem Jenisej kam ein heftiger Sturm auf, und wir schafften es nicht rechtzeitig, das große Fangnetz auszuwerfen. Die Insekten quälten uns. Uns umschwirrten derartige Schwärme von Stech- und Kriebelmücken, dass es schien, als würde irgendjemand uns mit vollen Händen damit bewerfen. Von den Stichen schwollen unsere Genitalien an; es war unmöglich sich zu bewegen, und dazu noch die zugeschwollenen Augen. Jeder versuchte sich zu retten so gut es ging. Wir rieben uns die Beine und Arme mit Schlamm ein. Nach einer derartigen Prozedur platzte überall die Haut auf, wurde rissig. Wind, Wasser und Schmutz verursachten Wunden. Als der Sturm sich gelegt hatte, warfen wir das 500 m lange Netz aus, aber wir fingen damit nur wenige Fischchen. So ging unsere erste Feuertaufe zuende.

Wie man das Netz richtig wirft und aus dem Wasser zieht und wie man es flickt – das zeigte uns der Enze Petr Spiridonowitsch Bolin.

Als es auf den Herbst zuging, wurde es kälter, häufig wehten die Nordwinde, aber das Waser speicherte die Wärme immer noch. Um uns ein wenig aufzuwärmen, gingen wir bis zum Gürtel ins Wasser. Als wir wieder ans Ufer zurückkamenen, fingdie Kleidung fast augenblicklich an zu gefrieren. In den kurzen Ruhepausen trocknete sie nicht vollständig, sondern blieb die ganze Zeit klamm und feucht. Der Fischfang mit dem großen Schleppnetz dauerte noch bis zum 5. Oktober. Gearbeitet wurde barfuß, 12-18 Stunden pro Tag.

Im September wurde die letzte Partie Sondersiedler dorthin geschafft – Deutsche, Letten, Litauer, Esten. Man brachte sie auf den Dachböden sowie in Zelten am Ufer des Jenisej unter. Im Dorf befanden sich bereits mehr als 500 Menschen. Es fehlte an Wohnraum. Sie fingen an Erdhütten zu bauen. Meist gruben sie sich in irgendeiner Niederung ein. Die Finnen fanden eine Vertiefung im Boden unterhalb des Friedhofs, Deutsche und Letten – an der Flußseite. Bald darauf kam eine Ladung auseinandergetriebens Flößholz auf dem Jenisej angeschwommen. Die Frauen zogen das Holz ans Ufer. Ein kläglicher Anblick war das. Sie umwickelten die Stämme, jeder mit dem, was er gerade zur Verfügung hatte, und zogen die schweren Stämme, einen nach dem anderen, aus dem Wasser. „Wils net gein, so losen wir stein“. Und Schritt für Schritt wurden die Bäume voranbewegt. Und die Kinder brachten die kleineren Latten, Bretter und Rahmen herbei.

Der Jahresübergang 1942-1943. Winter, Kälte, Hunger. Der Skorbut hatte die Hälfte der Einwohner erfaßt. Allein in den Monaten März und April starben, unvollständigen Angaben zufolge, mehr als 80 Personen. Es gelang nicht, so schnell so viele Särge zu bauen. Tagsüber transportierte die Bestattungsbrigade die Särge mit den Toten ab, des Nachts wurden die Verstorbenen in Gruben geworfen; die Särge wurden für die „Nächsten“ wieder zurückgefahren. Es kam vor, dass Angehörige ihre Toten versteckt hielten, um noch einen Tag länger dessen Lebensmittelration zu erhalten. Es starben die Eltern, die Kinder blieben zurück. Ganze Familien starben aus. Die Menschen waren so geschwächt, dass sie die verwaisten Kinder nicht aus den Erdhütten heraustragen konnten. Einmal räumten sie eine solche Erdhütte und trugen die kleinen Waisen gleich körbeweise hinaus.

Im Frühjahr, als die Menschen aus ihren Behausungen wieder herausgekrochen kamen, konnte man sie kaum noch wiedererkennen: bleich, mit vor Hunger aufgetriebenen Leibern, schwarz von Ruß und wegen des Skorbuts unfähig sich auf den Beinen zu halten.

Diejenigen, die noch am Leben waren begannen nun damit, ihren Alltag irgendwie zu organisieren. Aber man verhielt sich uns gegenüber nach wie vor schlecht, als wären wir Volksfeinde. Es war den anderen erlaubt, uns in einen riesigen Holzbottich zu jagen, aus dem wir Kaulbarsche herausfischen sollten. Ohne Salz verdarb der ganze Fisch, aber sie zwangen uns trotzdem ihn zu fangen – bei jedem Wetter. Der rote Fisch wurde beim Brunnen aufgestapelt und anschließend in der Erde vergraben. Aber wir duften uns noch nicht einmal den faulenden Fisch zum Essen nehmen. In der Nacht buddelten einzelne „Draufgänger“ auf eigene Gefahr und unter großer Angst den Fisch doch aus und brachten ihn nach Hause.

Einmal im Monat mußten sich die Sonderumsiedler in der Kommandantur melden. Und jedesmal hörten wir dann: „Sie sind hier – für immer. Bei Fluchtversuch werden sie erschossen“. Aber wohin sollten sie denn schon fliehen – so hungrig, schwach und ohne Kleidung wie sie waren? Wir hatten begriffen, dass Krieg herrschte und wir gut arbeiten sollten.

Wir warteten auf das Ende des Krieges, lebten in der Hoffnung auf bessere Zeiten. In der Nacht zum 9. Mai 1945 arbeiteten wir in der Brennholzbeschaffung. Ich weiß noch, dass wir strengen Frost hatten. Als wir uns am Morgen der Siedlung näherten, kam uns Maria Groo entgegengerannt. Sie schwenkte ein rotes Tuch und schrie uns zu: „Sieg! Laßt den Schlitten stehen! Geht zur Versammlung!“ Die Freude kannte keine Grenzen. Wir glaubten fest daran, dass wir nun in unsere kleine Heimat zurückkehren würden ....

Leitung für Kultur und Kunst der Verwaltung des Autonomen Gebietes Tajmyr (Dolganen / Nenzen).
Heimatkunde-Museum des Autonomen Gebietes Tajmyr. „Museumsbote“. Ausgabe 1.
Dudinka, 2001


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