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Gertruda Kliwans. Brief aus Russland nach Amerika (1930-1931)

… Wundert Euch nicht, dass ich nichts über unsere Vergangenheit schreibe. Versucht mich richtig zu verstehen. Erstens: das, was wir hier nach 1937 durchgemacht haben, lässt sich einfach nicht auf einem Stück Papier darstellen; zweitens: das, was wir erlebt haben, befindet sich jenseits Eures Vorstellungsvermögens. Ihr werdet niemals die vielen tausend Schicksale begreifen können, denn bei Euch gibt es keine adequaten Kriterien für eine Bewertung.

Ihr sollt nur das Wichtigste verstehen: ich bin jetzt glücklich und war es auch in all den Jahren, ich bedaure keine einzige der schwierigen Entscheidungen, die ich in meinem Leben getroffen habe. Die neuzeitliche Geschichte habe ich nicht aus Büchern und Zeitschriften erfahren. Ich habe in dieser Geschichte selber gelebt und war ein Teil von ihr.

(Aus dem ersten Brief der Gertruda Kliwans an die Verwandten in Amerika nach 17-jähriger Unterbrechung – Moskau, 5. August 1964).

… Prozesse gegen Saboteure“

In letzter Zeit sind hier lautstarke Prozesse gegen sogenannte Saboteure veranstaltet worden. Besonders viel wird über die Folgen dieser Prozesse geredet. Zuerst wurden alle Angeklagten zur Todesstrafe verurteilt, und dann zeigte die Regierung unerwartet Großherzigkeit und wandelte die Todesstrafe in Gefängnis-Haftstrafen ab. Die meisten Leute können das nicht verstehen. Erst hat man sie gezwungen unter dem Banner mitzulaufen und die Todesstrafe zu fordern, und jetzt werden die Urteilssprüche plötzlich aufgehoben. Heute Morgen haben meine Studenten mir erzählt, dass in den Unternehmen und Fabriken spontane Versammlungen stattfinden, auf denen die Arbeiter gegen den Beschluss des Zentralen Exekutivkomitees über die Aufhebung der Todesurteile.

Die Psychologie, die hinter all dem steckt, ist äußerst interessant. Offenbar weiß und erfährt niemand, ob all diese Urteile gerecht sind.

Technische Spezialisten werden durch andauernde Verhaftungen eingeschüchtert. Jeder Ingenieur zittert vor Angst, weil er glaubt, dass er der Nächste sein könnte. Wenn aus einem der zahlreichen erklärbaren oder nicht erklärbaren Gründe irgendein Projekt nicht so realisiert werden kann, wie es ursprünglich geplant war, dann kann jederzeit damit rechnen, wegen Sabotage angeklagt zu werden. Abkömmlinge aus bourgeoisen Familien fürchten sich natürlich in zweifacher Hinsicht.

Hier sind jede Menge Gerüchte über Aufstände und Anschläge im Umlauf. Obwohl ein großer Teil davon Hirngespinste sind, hat man ständig das Empfinden, dass irgendwann die Unzufriedenheit des Volkes, das sich ganz allgemein in einer verzweifelten Lage befindet, . zum Ausbruch kommen könnte. Der Staat ist auf jede mögliche Weise bemüht, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass der Schuldige an allem Übel, allen Schwierigkeiten, die Konterrevolutionäre und Saboteure sind.

Umzüge und Versammlungen, auf denen die Todesstrafe für Konterrevolutionäre und Saboteure fordern, werden hier ziemlich häufig organisiert. Unternehmen und Einrichtungen sind während dieser Zeit geschlossen, die Straßen mit Sticken und Schranken abgesperrt. In diesen Stunden verbreiten sich zahlreiche Gerüchte in der Stadt, darunter auch Gerüchte über die Ermordung Stalins und anderer führender Persönlichkeiten. Wenn die Umzüge beendet sind, beginnt die Straßenbahn erneut damit, die riesigen Menschenmassen von einem Ende der Stadt ins andere zu fahren.

In den Zeitungen und im Radio werden derartige Aufmärsche und Demonstrationen als Ausdruck des Volkswillens dargestellt, aber um sie richtig bewerten zu können, muss man berücksichtigen, dass sie eigentlich Zwangscharakter in sich tragen.

In diesen Tagen gehen in Moskau wichtige Ereignisse vor sich – es läuft wieder einmal ein Prozess gegen eine „Bande von Revolutionären“. Ich nehme an, dass ihr davon in den amerikanischen Zeitungen gelesen habt. Hier wird aus dem Ganzen eine große Show gemacht. Gestern marschierten tausende Arbeiter durch die Straßen und forderten die Todesstrafe für die „Schädlinge“, wie sie die Konterrevolutionäre hier nennen. Heute nahm ich mittels einer Sonder-Eintrittskarte als Zuhörerin an einer der Sitzungen dieses Gerichts teil. Alles hat großen Eindruck auf mich gemacht, aber davon erzähle ich Euch, wenn wir uns sehen.

Im allgemeinen ist es sehr schwierig, von hier Briefe zu schreiben. Einerseits kommt es mit so vor, als ob man alles so beschreiben kann, wie es tatsächlich ist, denn es entsteht der Eindruck, dass die Staatsmacht sowieso über jeden alles weiß. (Hier machen sie Witze darüber, dass, sogar wenn du dich im Schlaf auf die andere Seite wälzt, irgendjemand sofort die Behörden darüber informiert!). Andererseits geben viele einem den Rat, mit dem, was man in seinen Briefen schreibt, vorsichtig und wachsam zu sein. Berücksichtigt also immer, dass ich Euch vieles von dem, was ich gern schreiben würde, nicht mitteile. Ich zweifele sogar mitunter daran, ob meine Briefe Euch auch wirklich immer erreichen. Warum sonst schickt Ihr mir so oft besorgte Telegramme?

Macht Euch um mich keine Sorgen. Ich bin gesund, glücklich und von wunderbaren Menschen umgeben, ich habe eine sehr interessante Arbeit. Ach, übrigens – glaubt bitte nicht, was die amerikanischen Zeitungen über Russland schreiben. In Wirklichkeit ist es hier noch dreimal schlimmer als das, was sie dort schreiben! …

 


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