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Friedrich Krüger. Ausgestoßene. Erinnerungen

Krüger, Friedrich (geb. 1918)

Ökonom

1918. — Geboren in einer kinderreichen wolgadeutschen Familie. Vater - Hirte.

1928. — Die Eltern Brüder Johannes (gest. 1939) und Heinrich (gest. 1983) helfen dem Vater. Stärkung des Hofes, Ankauf von Pferden.

1929. — Beitritt des Vaters in die Kolchose. Wahl zum Mitglied des Kolchosvorstands.

1931, Herbst. — Hungersnot an der Wolga. Bruder Johannes wird zum Arbeiten nach Rybinsk geschickt. Die gesamte Familie bricht zum Arbeiten nach Rybinsk auf.

1932, Frühjahr. — Alle Tagelöhner werden entlassen und zu Beginn der Frühlingsaussaat nach Hause zurückgeschickt. Erkrankung der Mutter und der älteren Schwester an Typhus. Der Vater kehrt mit drei klienen Kindern nach Hause zurück. Hunger.

Die Familie erhält Hilfe durch den Schwager des Vaters David Faber, der 1933 verhaftet wird, weil er Stalin ein Paket mit einem aus Kleie und Melde gebackenen Fladen schickte. Genesung von Mutter uind Schwester und ihre Rückkehr nach Hause. Unterstützung durch Adam, den Bruder der Mutter, der im Amt des Kolchosversitzenden steht und später (wegen der Herausgabe von Getreide als Bezahlung für geleistete Tagesarbeitseinheiten) zu 7 Jahren verurteilt wird und im Gefängnis stirbt. Tod von Tochter Erna.

Besuch der Mittelschule in Mannheim. Arbeit mit dem Vater auf der Weide.

Ausbildung an der Arbeiterfakultät in Rosenheim. Leiter der Studenten-Bibliothek. Verhaftungen in Rosenheim. Beendigung der Lehrkurse. Verschickung als Deutschlehrer an die Mittelschule an der Bahnstation Tinskaja, Region Krasnojarsk.

? — Heirat. Ehefrau – geborene Geibel (Göbel?). Geburt eines Sohnes (1941).

1942, März. — Einberufung in das Militärische Meldebüro des Bezirks Nischne-Ingasch zur Rekrutierung in die Rote Armee. Verhaftung der Sowjetdeutschen und ihre Mobilisierung an die Arbeitsfront. Das Schicksal der Brüder. Überstellung nach Krasnojarsk, von dort weiter mit einem Häftlingstransport nach Krasnoturansk, Gebiet Swerdlowsk. Lebensbedingungen im Lager. Wiedersehen mit dem Bruder der Ehefrau Karl Geibel (Göbel?). Arbeit in einer Erdarbeiterbrigade. Unfall. Krankheit. Ernennung zum Badewart, Meister der Materialversorgung auf dem 5. Montage-Abschnitt bei der Annahme von Arbeitskräften aus anderen Lagern im 1. Industrie-Aufbauprojekt, Vorarbeiter, Normierer.
1948. — Freilassung der Deutschen ohne das Recht, in ihre Heimatorte zurückkehren zu dürfen. Ankunft der Ehefrau mit Sohn und Mutter sowie dem jüngeren Bruder David und Schwester Dorothea.

1955. — Erhalt eines Ausweises. Tätigkeit als Leiter der Planungsabteilung bei der kommunalen Wirtschaft des BAS-Stro-Trusts (Bogoslowsker Aluminium-Fabrik).

1988, März. — Aufzeichnung der Erinnerungen.


Friedrich KRÜGER. AUSGESTOSSENE. Erinnerungen.

Ich wurde in einer wolgadeutschen Familie im schwierigen Jahr achtzehn geboren. Mutter erinnerte sich oft daran, dass ich, nachdem ich zur Welt gekommen war, derart laut, anhaltend und verzweifelt schrie, als ob ich alle Qualen, die im Leben noch auf mich zukommen sollten, bereits im Voraus erahnte.

Mein Vater, Dorfhirte, hatte zwölf Kinder, allerdings starben sieben von ihnen als Kinder aufgrund von Mangelernährung und Krankheit. Vater musste durch Losentscheid fünf Jahre lang in der zaristischen Armee zu dienen, da bekanntlich die Lose immer "zufällig" auf die Armen entfielen. Drei Jahre lang kämpfte er an der türkischen und persischen Front, und als die Oktoberrevolution ausbrach, hängte er das Gewehr an den Nagel und kehrte nach Hause zurück. Nur so zu leben, wie er es sich wünschte, sollte nicht sein. Es herrschte noch die alte Ordnung, und mein Vater musste sich vor der Verhaftung in einer fremdenScheune eines anderen verstecken. Nach einer Woche entdeckten sie den Vater, und er wurde auf Befehl des Dorfältesten in der Nähe der Scheune erschossen. Dort ließen sie ihn in der Überzeugung liegen, dass sie ihn getötet hatten. Wie durch ein Wunder überlebte der Vater. In der Nacht verabschiedete er sich von seiner Mutter und ging im Dunkeln mit der Roten Armee nach Zarizyn. Er verbrachte weitere drei Jahre im Bürgerkrieg.

Ich war das fünfte Kind in der Familie. Meine Mutter arbeitete sehr hart, um uns allein aufzuziehen, aber sie hatte nicht die Kraft, uns alle zu beschützen, denn meine älteren Schwestern Maria und Amalia starben. Als unser einziges Pferd, unser Hungerretter, starb, packte uns die Not buchstäblich an der Gurgel. Mit der Rückkehr meines Vaters wurden die Dinge ein wenig einfacher. Aber nicht für lange. Im einundzwanzigsten Jahr wurde die Wolgaregion von einer noch nie dagewesenen Dürre heimgesucht. Die Hungersnot begann.

Ich erinnere mich lebhaft an meine frühe Kindheit. Einige Episoden daraus stehen mir noch vor Augen, als hätten sie sich erst gestern ereignet. Ich erinnere mich an die "weiße Küche" im Jahr zweiundzwanzig. Jeden Morgen bildete sich eine lange Schlange hungriger Menschen mit Löffeln und Schüsseln vor der Kirche, die vor unserem Lehmhäuschen stand. Die Essensausgabe erfolgte streng nach Liste. Nachdem wir eine Kelle Brei erhalten hatten, aßen wir ihn gleich in der Nähe. Es war nicht erlaubt, Lebensmittel mit nach Hause zu nehmen.

Wenn wir an der Reihe waren, hob mich meine Mutter hoch, und ich selbst reichte dem Mann im Arztkittel die Schale. Diese lebensrettende "weiße Küche" war amerikanische Hilfe für die hungernde Wolgaregion.
Wir hatten nur noch eine Legehenne in unserem Haushalt. Mein Vater verbot mir strikt, sie zu schlachten, und sagte mir, ich solle als Jüngster in der Familie die Eier bringen, die sie legen würde. Bevor sie ein Ei legte, kam die Henne unter den Fenstern hervorgelaufen, schlug mit den Flügeln und hüpfte, bis sie ins Haus gelassen wurde. Sie ging in die Küche und ließ sich in ihrem Nest unter dem Herd nieder. Ich kuschelte mich daneben und wartete ungeduldig auf das begehrte, noch warme Ei. Meine Mutter kochte es sofort und ließ es mich essen, wobei ich versuchte, es nicht vor meinen hungrigen Brüdern und Schwestern zu tun.
Ich erinnere mich, wie meine älteren Brüder Johannes und Heinrich in der Abenddämmerung zu den Gräbern des verendeten Viehs gingen, das kürzlich vergrabene Pferd eines anderen ausgruben, ihm die Schenkel abschnitten, sie über einem Feuer absengten und nach Hause schleppten. Die Eltern waren wütend und sagten, dass totes Fleisch zum Tode führen kann, aber die Brüder gehorchten nicht, kochten das Fleisch und aßen es.
Der vom Hunger geschwächte und mit Ödemen übersäte Vater konnte sich kaum noch selbständig bewegen. Nur dank der "weißen Küche" konnten wir bis zur neuen Ernte überleben.

Im Frühjahr verdingte sich mein Vater als Hirte und arbeitete zusammen mit Johannes und Heinrich von morgens bis abends auf den Weiden. Er glaubte an ein besseres Leben, so wie alle unsere Dorfbewohner, die unermüdlich auf den Feldern schufteten. Aber es war unmöglich, den Klauen der Not zu entkommen. Ohne Pferd konnten meine Eltern das Land nicht richtig bewirtschaften, und der Lohn des Hirten war sehr, sehr mager. Außerdem wuchs unsere Familie alle anderthalb Jahre, einmal mit Zwillingen. Für meine Eltern war es schwierig.

In dem Dorf gab es keine medizinische Versorgung. Krankheiten waren weit verbreitet und forderten einen hohen Tribut von den Kindern. Auch ich hatte Diphtherie, Malaria, Röteln, Lungenentzündung und - was am schlimmsten war - die Pocken. Meine Mutter arbeitete auf den Feldern eines reichen Bauern, und ich war den ganzen Tag unbeaufsichtigt, und als sie zurückkam, waren mein Gesicht, mein Körper und meine Kleidung rot vor Blut: Ich kratzte mich unbarmherzig an den juckenden Pocken. Bevor ich zur Arbeit ging, fesselte mir meine Mutter weinend die Hände auf dem Rücken, aber dann begann ich, meine Stirn, mein Gesicht und meinen ganzen Körper an verschiedenen Gegenständen zu reiben. Infolgedessen waren meine Augen stark entzündet und meine Augenlider geschwollen. Ich konnte sie nicht öffnen. Das hat sehr lange gedauert. Meine Eltern dachten, ich würde blind werden. Das hätte ihnen bei all ihren Sorgen und ihrer Armut gerade noch gefehlt: ein blindes Kind!

Doch eines Sonntagnachmittags, als ich auf dem Schoß meiner Mutter saß, öffnete ich meine Lider und Eiter floss aus den Augen. Meine Mutter war erschrocken und lief mit mir zu unserer Nachbarin Sophia Keller, einer alten Frau, die Menschen mit Kräutern behandelte. Die alte Frau wusch mir die Augen mit irgendetwas aus, trocknete sie sorgfältig mit einem sauberen Tuch und sagte zu meiner Mutter: "Nicht weinen, Dummerchen! Er ist nicht blind, er wird es bald überwinden!" Aber meine Mutter konnte ihr Schluchzen vor Freude nicht unterdrücken, und ihre heißen Tränen fielen auf meinen Scheitel.

Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, war damals ein wohlhabender Bauer mittleren Alters, mit mehreren Pferden, Kühen, Kamelen, vielen Ziegen, Schafen, noch mehr Geflügel, großen Scheunen und Ställen. Er hätte uns helfen können, wieder auf die Beine zu kommen, aber er tat es nicht, weil er zornig auf die unartige Tochter war, die den armen Jungen, meinen Vater, gegen seinen Willen geheiratet hatte.

Der Großvater nutzte die Arbeitskraft anderer nicht aus, aber seine drei Söhne - Johannes, Ludwig und Adam - waren sehr vernünftige und fleißige Männer, obwohl zwei von ihnen als Krüppel aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrten: Beide konnten ihr rechtes Bein nicht beugen. Die ganze Familie meines Großvaters, einschließlich seiner Frau und Tante Dorothea, der jüngeren Schwester meiner Mutter, arbeitete von früh bis spät, bestellte die Felder und kümmerte sich um das Vieh und das Geflügel. Der Großvater gab ihnen nur die notwendigen Anweisungen und baute Tabak, Wassermelonen und Melonen an.

Großvater war unter den Dorfbewohnern als der Gebildetste und Belesenste bekannt. Er war groß, stark, stämmig und ein großer, stolzer Mann. Er rauchte eine lange Pfeife mit einem weichen, geriffelten Mundstück, und im Winter trug er dünne weiße Filzstiefel mit glänzenden Galoschen, die alle Blicke auf sich zogen.

Als meine älteren Brüder Johannes und Heinrich herangewachsen waren und anfingen, meinem Vater ernsthaft zu helfen, entwickelte sich auch unsere Hofwirtschaft. Wir hatten zwei Kühe, Schafe, Schweine, viel Geflügel, und im Herbst des achtundzwanzigsten Jahres kauften wir ein schönes junges Pferd. Jetzt bewirtschafteten wir bereits ein großes Kartoffelfeld und ein Wassermelonen- und Melonenfeld. Im Frühjahr konnten wir ein weiteres Pferd kaufen. Der lang gehegte Traum meines Vaters, ein echter Landwirt zu werden, ging in Erfüllung. Er hörte auf, als Schafhirte zu arbeiten, und stieg voll in den Betrieb ein.

Mitte der zwanziger Jahre wurde das Leben auf dem Lande reicher, sinnvoller und interessanter. Eine Baugenossenschaft errichtete schnell und gut Gebäude für unser Clubhaus und den Laden, und in der Kirche hatten wir tragbare Trennwände, mit denen wir den Raum in vier Klassenräume unterteilen konnten. So hatten wir endlich unsere eigene Schule. An Sonntagen wurden die Trennwände entfernt und der Gottesdienst fand wie gewohnt statt.

Im Herbst '29 begannen sich in unserem Dorf Bauerngruppen zu bilden, und am Ende des nächsten Tages war die Kollektivierung abgeschlossen. Mein Vater war der erste, der sich für die Kolchose anmeldete und sofort die Pferde, Kühe, Schafe, Schweine und sogar das gesamte Geflügel dorthin brachte. Als er herausfand, dass es seiner Mutter gelungen war, ihre Nachbarin zu bitten, heimlich einen einjährigen Ochsen zu schlachten, löste er zu Hause fast einen weltweiten Skandal aus. Wir haben das Fleisch in aller Eile gegessen, mitten in der Nacht, damit, Gott bewahre, niemand davon erfährt. Das Schlachten von Vieh war streng verboten. Aber die meisten Dorfbewohner taten ses trotzdem und kochten das Fleisch heimlich in der Nacht.

Mein Vater wurde sofort in den Vorstand der Kolchose gewählt und zum Wirtschaftsleiter ernannt. Der Großvater, der noch nie einen Fuß in unser Haus gesetzt hatte, beschloss, seine Tochter zu besuchen und seine Enkel wiederzusehen, da er sah, dass die armen Leute im Dorf Rechte erworben hatten und jedem jederzeit alles wegnehmen konnten.

Mein Vater war nun also in die Kolchose geraten und versuchte, da er nicht in der Lage war, Menschen Befehle zu erteilen, alles selbst zu machen. Aber er konnte den riesigen Hof nicht allein bewirtschaften. Es gab keine geeigneten Häuser für die Überwinterung des Viehs, sie konnten nicht so schnell gebaut werden, es fehlte an Futter, und im Laufe des Winters starben viele Herden und Geflügel. Und im Frühjahr gab es die Anweisung, dass jeder der Kolchose Weizen und Hirse als Saatgut geben sollte. Die Menschen standen buchstäblich vor dem Nichts, ohne das Allernötigste und ohne Vieh. Mein Vater konnte das nicht ertragen, gab seinen Posten als Wirtschaftsleiter auf und bat darum, ihn aus dem Vorstand zu entlassen.

Im Frühjahr des einunddreißigsten Jahres kam aus Leningrad ein Fünfundzwanzigtausender, einer der Arbeiter, die in die Dörfer geschickt wurden, um die Kollektivierung durchzuführen. Dieser magere kleine Mann hatte noch nie in seinem Leben gesehen, wie die Getreidefelder bestellt wurden. Er berief eine Versammlung aller Dorfbewohner ein und ordnete unter Berufung auf eine Anweisung von oben an, die Hütten, die überlebenden Pferde, die Pflüge und andere Geräte zu den Aussaatfeldern zu bringen und sofort mit der Frühjahrssaat zu beginnen. Einige Bauern wandten ein, es sei zu früh, um mit der Aussaat zu beginnen, da die Felder noch halb mit Schnee bedeckt seien, die Feldhäuser und Geräte noch nicht vollständig repariert worden seien und die unbefestigten Wege nicht benutzt werden könnten. Selbst die Deichseln (auf Deutsch: Spielwaage) reichten nicht für zwei Pferdefuhrwerke aus.

All dies gefiel dem Vertreter der Stadt nicht, und er rief wütend:

- Am Sonntag ist alles und jeder auf dem Feld! Säen wir erst Weizen und Hirse und dann kommen die Deichselwaagen dran!
Alle haben laut und lange gelacht. Von diesem Tag an wurde der Vertreter hinter seinem Rücken "Spielwaage" genannt.

Am Montag begannen sie mit der "Schlammsaat". Der Weizen wurde von Hand gestreut. Die Männer bewegten sich langsam und mühsam über das rutschige, schlammige Feld und warfen die Saatkörner direkt in das Schmelzwasser und den Schnee. Schon am dritten Tag waren die Stiefel aller zerfetzt und mussten mit Lumpen und Schnüren umwickelt werden. Mobile Hütten und landwirtschaftliche Geräte konnten nicht auf dem Geländewagen zum Feld transportiert werden. Dafür war ein Vertreter der Stadt der erste im Bezirk, der stolz über den frühen Abschluss der Aussaat berichtete. Nach dieser "Aussaat" wurde mein Vater wieder als Hirte angestellt und blieb es für den Rest seines Lebens.

Bald wurde es warm, es regnete, und der Schnee auf den Feldern schmolz schnell. Ströme von Wasser flossen in das darunter liegende Land und spülten das gekeimte Getreide fort. Das führte dazu, dass an manchen Orten der Weizen in Büscheln sprießte, während an anderen nur Unkraut wuchs.

Die Vertreibung der Kulaken bzw. der Mittelbauern - kluge, fleißige Menschen -, die kompakte Kollektivierung, das Massensterben des Viehs, die "Schlammsaat", der heiße, trockene Sommer, die obligatorische Ablieferung von Getreide an den Staat - all dies führte im Sommer und Herbst des einunddreißigsten Jahres zu einer Hungersnot. Viele Bauern aus unserem Dorf machten sich mit ihren Familien oder allein auf die Suche nach Brot. Unter ihnen war auch mein älterer Bruder Johannes, der gerade aus dem Fernen Osten zurückgekehrt war, wo er zusammen mit seinem besten Freund Karl Michel drei Jahre lang als Freiwilliger in der Roten Armee gedient hatte.

Johannes unterzeichnete einen Vertrag mit einem Anwerber und ging nach Rybinsk. Er teilte uns bald mit, dass wir dringend zu ihm kommen sollten: Es gab Arbeit, Brot, Kartoffeln und sogar reichlich Honig. Johannes schrieb, dass alle anderen Dorfbewohner mit uns gehen könnten.

Wir waren sechs Brüder (der jüngste, David, war noch ein Kind) und zwei Schwestern. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits sechs andere Schwestern gestorben.

Zur Freude aller gab es in Rybinsk tatsächlich Brot, Kartoffeln und Honig; so viel Honig hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Doch die Unterbringung erwies sich als schwierig, und wir verbrachten die Nacht in einem Kloster. Mein Vater und ein paar Verbrüderte waren als Verlader in einem Eisenbahngüterlager beschäftigt.

Es gelang uns bald, fünfzig Kilometer von der Stadt entfernt bei einer einsamen alten Frau unterzukommen. Ich hatte den Eindruck, dass diese Frau nicht ganz normal war, aber sie behandelte uns sehr freundlich. Sie hatte eine Kuh, Schafe, Schweine und viel Geflügel. Auf allen Regalen und Bänken in der Küche standen immer zehn oder fünfzehn Kannen Milch. Sie war sauer, bis sie schließlich schimmelig wurde. Dann schüttete die Frau sie in einen Trog und gab sie den Schweinen. Sie hat nie den Rahm von der Milch abgeschöpft, nie körnigen Käse gemacht, geschweige denn Butter geschlagen.

So fand ich eines Tages in der Scheune einen hohen und schmalen Bottich, baute daraus ein Butterfass und fertigte einen Stößel. Ich wartete, bis die Vermieterin gut gelaunt war, und bat sie um die Erlaubnis, aus saurer Sahne Butter herzustellen. Als ich die erste Portion heruntergeschlagen hatte, legte sie einen gelblichen Klumpen auf einen Teller und ging von Haus zu Haus. Überraschenderweise wusste niemand im Dorf, wie man Butter herstellt, und die Kunden für meine saure Sahne kamen in Scharen. Ich habe hart gearbeitet. Jeder gab mir die Hälfte von dem, was er verdient hatte. Innerhalb weniger Monate hatte fast jeder Haushalt sein eigenes Butterfass. Und ich wurde als sein Erfinder bekannt. Nur die Frauen arbeiteten im Dorf, die Männer gingen nach Rybinsk, um Geld zu verdienen. Sogar die Felder mussten die Frauen im Frühjahr selbst pflügen.

Später brachte unsere Vermieterin noch einen anderen Mieter, einen kräftigen, breitschultrigen Mann mit einem dichten, silbernen Bart, bei sich unter. Er besaß zwei Pferde, mit denen er aus seinem Dorf weggelaufen war, weil er nicht in die Kolchose wollte. Hier schloss Onkel Aljoscha - wie er genannt werden wollte - einen Vertrag mit der Forstwirtschaft und begann, Lebensmittel aus der Stadt für die örtlichen Arbeiter zu transportieren. Er wurde oft ausgeraubt, während er alle möglichen Papiere ordnete oder Waren im Lagerhaus entgegennahm. Also bat er mich, mit ihm mitzufahren und den Wagen zu bewachen, während er seinen Geschäften nachging. Ich habe immer bereitwillig zugestimmt. Viermal pro Woche fuhren wir in die Stadt. Onkel Aljoscha war sehr freundlich, umgänglich und fröhlich. Er versorgte unsere Familie mit Nahrung, und wir lebten gut und wurden satt.

Mein Vater erkrankte schwer an Rheuma, das er sich an der Front zugezogen hatte, und musste bald seine unerträgliche Arbeit als Lader aufgeben. Außerdem hatte er großes Heimweh.

Im Frühjahr 1932 erließ Stalin einen Erlass, wonach jeder, der die Ukraine oder das Wolgagebiet ohne Erlaubnis und ohne Pass verlassen hatten (damals besaßen die Kolchosbauern überhaupt keine Pässe), überall von der Arbeit entlassen und zur Zeit der Frühjahrsaussaat an seinen früheren Wohnort zurückgebracht werden sollte. Wir hatten natürlich weder Dokumente noch eine Erlaubnis zur Ausreise gehabt. Meine Brüder wurden sofort entlassen und mussten zurückgeschickt werden. Aber Johannes und Heinrich wollten auf keinen Fall zurück, und so schlichen wir uns nach Kaschira, nicht weit von Moskau, davon. Onkel Aljoscha flehte meinen Vater an, mich bei ihm zu behalten, und ich wollte das auch sehr, aber mein Vater war unnachgiebig.

Direkt vom Bahnhof aus machten sich unsere Männer auf die Suche nach Arbeit, während wir in einem überfüllten Warteraum zurückblieben. Um Mitternacht trieben die Polizei und die Soldaten alle, die unter dem Dach Schutz gesucht hatten, in den Regen und in die Kälte hinaus. Diejenigen, die sich widersetzten, wurden grob hinausgeworfen.

Glücklicherweise gelang es meinem Vater, eine Arbeit als Forstwirt zu finden. Aber es gab keinen Platz für die Brüder, also gingen sie fort. Mein Vater übernahm den Stall, putzte ihn, reinigte alles gründlich und reparierte das Geschirr. Dem Förster gefiel das sehr gut, und zum Dank machte er mich auch noch zum Gehilfen des Pferdepflegers. Außerdem stellte er uns ein Zimmer in der Nähe des Stalls zur Verfügung und gab uns Lebensmittelkarten, mit denen wir sofort Zucker, Öl, Reis, Nudeln und Mehl kaufen konnten. Mein Vater sagte: "Hier werden wir für immer leben."

Doch nicht einmal einen Monat später holte uns Stalins Dekret auch hier ein. Der Aufseher unterschrieb die Entlassung mit großem Bedauern, und wir wurden zum Bahnhof geschickt. Ein Zug voller Wolgadeutscher, die aus verschiedenen Richtungen gekommen waren, war bereits zusammengestellt worden. Die Menschen wurden mehrere Tage lang in den Güterwaggons festgehalten. Natürlich gab uns niemand zu essen. Der Zug fuhr nirgendwo hin, und es war nicht bekannt, wann er abfahren würde. Meine Mutter und meine ältere Schwester Dorothea erkrankten unter diesen unhygienischen Verhältnissen an Typhus. Sie wurden in ein drei Kilometer vom Bahnhof entferntes Krankenhaus gebracht.

Am nächsten Morgen sagte mein Vater, er wolle meine Mutter besuchen. Ich blieb mit meiner kleinen Schwester Erna und meinem kleinen Bruder David, der noch nicht laufen konnte, zurück. Mein Vater kam lange Zeit nicht wieder. Ich bekam es mit der Angst zu tun, und als der Wachsoldat sich vom Wagen entfernte, um seiner Arbeit nachzugehen, sammelte ich unsere spärlichen Habseligkeiten ein, nahm meinen kleinen Bruder und meine Schwester an die Hand und ging mit ihnen durch den Bahnhof. Wir setzten uns auf eine Bank. David weinte laut, er war hungrig und durstig. Weder Erna noch ich wussten, wie wir ihn beruhigen konnten, also weinten wir auch. Eine nette, gut gekleidete Frau setzte sich neben uns und fragte uns, was passiert sei. Als wir ihr alles erzählt hatten, wischte sie uns die Tränen mit ihrem Taschentuch ab, nahm Wurst, Butter, Zucker, Süßigkeiten und Krümel aus ihrer Einkaufstasche, steckte sie in eine Leinentasche, reichte sie mir und entfernte sich mit einem tiefen Seufzer.

In diesem Moment pfiff die Lokomotive, der Zug schüttelte sich endlich, ratterte und fuhr langsam davon. Und wir blieben auf der Bank sitzen. Erst am Abend kam mein Vater aus dem Krankenhaus zurück und freute sich, uns zu sehen. Er sah sehr aufgebracht aus und hatte Tränen in den Augen. Meine Mutter und meine Schwester hatten hohes Fieber und der Arzt sagte, sie hätten kaum eine Überlebenschance. Sie hatten beide den Vater nicht erkannt.

Wir kauften im Personenwagen Fahrkarten und fuhren los, meine Mutter und meine Schwester allein zurücklassend. Am frühen Morgen kamen wir in Saratow an, und von dort aus mussten wir über die Wolga nach Engels fahren. Mein Vater erkundigte sich nach dem Zug, mein Bruder und meine Schwester schliefen auf dem Koffer ein, und ich schlenderte über den Bahnhofsvorplatz. Und genau das habe ich gesehen! Auf fast jeder Bank außerhalb des Bahnhofs lagen und saßen Menschen in seltsamen Posen. Vier riesige Männer kamen, einer nach dem anderen, packten sie an Armen und Beinen und zogen sie zu einem Wagen, so wie man normalerweise streunende Hunde einfängt, sie umdreht und hinten auf den Wagen wirft. Ich vermutete, dass die Männer tot waren.

Erschrocken rannte ich zurück ins Bahnhofsgebäude. Dort sah ich, wie eine hagere, abgemagerte Frau ein Stück Ölpapier vom Boden neben der Urne aufhob, es in den Mund steckte und zu kauen begann. Ich hockte mich neben meine schlafenden Geschwister und weinte:

- Ich will nicht nach Hause! Ich will zurück nach Rybinsk oder Kashira! Ich... Ich will nicht, ...

Mein fassungsloser Vater näherte sich uns. Während er in der Schlange vor dem Fahrkartenschalter stand, wurden ihm die Zugfahrkarten und die letzten Groschen abgenommen. Jetzt konnten wir nicht mehr weiterfahren. Ich brüllte so laut, dass sich alle im Saal in unsere Richtung drehten. Ein Mann mit einer Aktentasche kam auf mich zu und fragte mich, warum ich weinte. Als er erfuhr, worum es ging, ging er zum Kartenschalter und kaufte die benötigten Karten. Dann gab er meinem Vater etwas Geld und wünschte uns eine gute Reise.

Der freundliche Mann und die schön gekleidete Frau waren Russen. In allen Völkern, und ganz besonders in Russland, gab und gibt es in allen Zeiten der Not Menschen mit Herz und Mitgefühl, die bereit sind, denen zu helfen, die in Not sind. Manchmal habe ich den Eindruck, dass meine Begegnung mit diesen Menschen, die Umstände selbst und die Tatsache, dass ich heute noch lebe, kein Zufall waren. Es war Schicksal.

Am nächsten Morgen erreichten wir den Bahnhof von Mokrous, achtzehn Kilometer von unserem Dorf entfernt. Am Bahnhof gab es kein einziges Fuhrwerk, so dass wir beschlossen, zu Fuß zu gehen. Mein Vater war sehr geschwächt vom Hunger und den vielen Strapazen, die er durchgemacht hatte, und konnte sich kaum bewegen. Also band er David auf meinem Rücken fest. Ich trug einen kleinen Koffer mit unseren spärlichen Habseligkeiten in hielt Erna an der anderen Hand. Unterwegs hielten wir oft an, um uns auszuruhen.

Mehrere Male wurden wir von Wagen überholt, aber keiner hielt an. Erst kurz vor Sonnenuntergang erreichten wir unser Dorf. Unser Lehmhaus war fast vollständig eingestürzt, und wir konnten nicht mehr darin wohnen. Wir wandten uns an unsere Verwandten und Bekannten, aber niemand wollte uns hereinlassen. Wahrscheinlich hatten sie Angst, dass wir um Essen betteln würden. Der Hunger hatte den Menschen das Mitgefühl geraubt.

Wir ließen uns in Onkel Andrejs großem, leerem Haus nieder. Ein paar Tage später wurde mein Vater zum Heuen auf einen benachbarten staatlichen Bauernhof geschickt, und Erna, David und ich standen ganz allein da, ohne einen Krümel Brot. Alles, was wir besaßen, trugen wir auf dem Leib.

Die einzige Rettung vor dem Hunger waren die Erdhörnchen. Jeden Morgen ging ich mit den anderen Jungen in die Steppe, um die Tiere aus ihren Höhlen zu vertreiben. Ich brachte die Beute nach Hause, zog eilig die Häute ab, kochte die kleinen Kadaver und verfütterte sie an die Kinder.

Den ganzen Tag saß David allein auf einem Stuhl am Tisch und wartete auf meine Rückkehr. Er hatte noch nicht laufen gelernt und wollte sich nicht hinlegen, denn das Bett war so voller Läuse, dass sie manchmal die schmutzigen alten Lumpen, die uns als Bettzeug dienten, in Bewegung setzten. Während meiner Abwesenheit irrte Erna im Dorf herum und hoffte, dass jemand ihr zu essen geben würde. Aber niemand wollte sie hereinlassen oder ihr etwas geben. So haben wir bis Ende Mai gelebt. Vater ist nicht gekommen. Die Männer auf der Heu-Wiese waren vom Hunger und der harten Arbeit völlig erschöpft, keiner von ihnen hatte die Kraft, nach Hause zu gehen. Und es gab von Tag zu Tag immer weniger Erdhörnchen, da jeder, der laufen und Eimer mit Wasser tragen konnte, nach ihnen jagte. An einem ganzen Tag konnte ich nur ein einziges Erdhörnchen fangen, und manchmal auch gar keins. Ich musste Melde aus dem Boden reißen, die an jeder Ecke wuchs, und jeden Tag eine Suppe daraus kochen. Ernas Hände, Füße und Gesicht waren vom Hunger geschwollen. Sie weinte den ganzen Tag lang und verlangte ständig nach Essen. Wenn ich sie morgens berührte, blieben meine Fingerabdrücke bis zum Abend sichtbar. Ich musste unverzüglich etwas Essbares für meine kleine Geschwister beschaffen. Aber wie und woher? Ich erinnerte mich daran, dass Tante Dorothea, die jüngste und einzige Schwester meiner Mutter, sechs Kilometer von unserem Dorf entfernt wohnte.

Als ich zu ihrem Haus kam, waren alle Türen verschlossen. Ich schaute in den Hof der Nachbarn, um zu sehen, wo meine Tante war. Die Fenster des Nachbarhauses waren mit Rollläden verschlossen, und die Türen standen weit offen. Das kam mir seltsam vor. Vorsichtig überschritt ich die Schwelle und rief: "Samuel!" Das war der Name eines Nachbarjungen, den ich vor einigen Jahren kennen gelernt hatte. Es kam keine Antwort. Ich betrat den Raum. Zuerst roch ich einen ekelhaft süßen Geruch, und dann sah ich Samuel mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester auf dem Bett liegen. Alle drei waren tot.

Das Entsetzen packte mich. Ich stürzte auf die Straße und rannte nach Hause, aber nicht auf der Straße, sondern aus irgendeinem Grund am Flussufer entlang. Und dann hatte ich großes Glück: Ich stieß auf das Nest einer Wildente. In dem Nest befanden sich elf große Eier. Zu Hause habe ich dieses Geschenk des Schicksals auf drei Tage verteilt. Aber was passiert dann? Was?!

Ich beschloss, zu Onkel David Faber, dem Schwager meines Vaters, zu gehen, ohne wirklich auf Hilfe zu hoffen: Mein Onkel schien der geizigste Mann der Welt zu sein. Er hatte einen kleinen, aber üppigen Garten, in dem er eine Hütte aus Brettern gebaut hatte, um seine Ernte Tag und Nacht vor Dieben zu schützen. Ich bat ihn, mir ein paar Äpfel zu geben.

- Friedrich, du kommst zu einem schlechten Zeitpunkt", sagte Onkel David zu mir. - Der rote Teufelswind ist heute ruhig, er hat noch keine Äpfel von den Bäumen geschüttelt.

Er stand von der Holzcouch auf und führte mich in die Mitte des Gartens.
Es gab einen ausgetrockneten Brunnen, dessen Boden mit Äpfeln bedeckt war, die von einem Apfelbaum in der Nähe gefallen waren.

- Nehmt sie alle mit", sagte mein Onkel, nahm das Seil, das an der Klinke über dem Brunnen befestigt war, und band einen Stock an das andere Ende des Seils.

Ich habe mich hingesetzt, das Seil ergriffen und gesagt:

- Gehen Sie hinunter!

Aber sobald mein Onkel David den von der Zeit und der Witterung verrosteten Griff berührte, fing er an, sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zu drehen, und ich flog in Windeseile hinunter. Im Nu steckte ich hüfthoch im dicken Schlamm. Der klebrige, stinkende Schlamm hat mich gerettet. Wenn der Boden trocken gewesen wäre, wäre ich in den Tod gestürzt.

- Friedrich! Bist du da unten am Leben?! - rief mein Onkel ängstlich, so laut, dass es mir die Sprache verschlug.

- Ja, ich bin noch am Leben", antwortete ich.

- Kreuz, Blitz, Feuer, Donner nochmal! - fluchte mein Onkel im Inneren des Brunnens. - Ich lasse dir jetzt den Eimer hinunter.

Er seilte den Eimer ab, und ich sammelte alle Äpfel hinein, die ich im Schlamm finden konnte. Der Eimer war weniger als halb voll.

Nachdem er mich hochgehoben hatte, rannte Onkel David zu einem der Apfelbäume und begann, ihn mit Schimpfworten zu schütteln. Ohne mit dem Schimpfen aufzuhören, hob er die heruntergefallenen Äpfel auf und brachte sie zu mir.

- Nimm, die sind für dich.

Zusammen mit den Äpfeln aus dem Brunnen stellte sich heraus, dass es zwei volle Eimer waren. Wir gingen zur Hütte. Mein Onkel wusch dort meine alten Hosen und hängte sie zum Trocknen an den Apfelbaum. Nachdem ich mich gewaschen hatte, setzte ich mich in die Sonne, um mich zu wärmen. Mein Bein und meine Hand, die ich beim Sturz gegen die Wand des Brunnens geschlagen hatte, schmerzten. Sobald meine Hose trocken war, eilte ich zu meinen Kleinen. Mein Onkel rief mir nach:
- Friedrich! Wenn der rote Teufel kommt, komm wieder!

Der Ausdruck "roter Teufel" war bei unseren Dorfbewohnern sehr beliebt. Wahrscheinlich, weil der Himmel am Vorabend eines windigen Tages bei Sonnenuntergang immer rot ist. Und ein starker Wind macht es einem Landwirt sehr schwer, auf den Feldern zu arbeiten.

Ich greife vorweg und sage, dass Onkel David im dreiunddreißigsten Jahr verhaftet wurde, weil er Stalin ein Paket mit Fladen aus Kleie und Melde geschickt hatte. In dem Brief berichtete er, wie viele Menschen in unserem Dorf innerhalb von zwei Jahren verhungert waren, und schrieb, dass dies alles von den Feinden des Volkes eingefädelt wurde und Stalin nichts davon wusste. Ein Jahr später wurde Onkel David freigelassen, vielleicht aus Krankheitsgründen, vielleicht aber auch, weil sie ihn damals nicht so hart bestraften, wie sie es später taten.

Nach seiner Entlassung kam der Onkel oft zu mir, vor allem, wenn ich im siebenunddreißigsten Jahr in den Ferien nach Hause kam. Er betrachtete mich als den gebildetsten Mann des Dorfes. Eines Abends, beim Tee in der Küche, schaute mich mein Onkel eindringlich an:

- Friedrich, ich werde mich wohl wieder an den da oben wenden - meinte er und zeigte dabei an die Decke. - Als sie mich freigelassen und mir mein Parteibuch zurückgegeben haben, habe ich es ihnen wieder auf den Tisch gelegt, und jetzt denke ich, dass es mit diesem Kommunismus nichts werden wird. Was ist deine Meinung? - fragte er, wobei er stark stotterte.

- Und meine Meinung, sagte ich, ist, dass ein echter Kommunist immer ein Kommunist sein wird, egal was passiert.

Onkel David hat wahrscheinlich eine andere Antwort von mir erwartet.

Er saß eine Weile schweigend da, stand dann auf und ging schweigend davon.

Aber ich habe die Abfolge der Ereignisse unterbrochen und übersprungen. Zurück ins zweiunddreißigste Jahr.

Eines Nachmittags kam meine Großmutter mütterlicherseits unerwartet zu uns und forderte uns alle drei auf, sie sofort zu begleiten. Dies war das erste Mal seit unserer Rückkehr. Nicht ein einziges Mal hatte sie uns hineingebeten, uns ins Haus gelassen oder uns etwas zu essen gegeben. Onkel Adam, der jüngste Sohn meiner Großmutter, war der Vorsitzende der Kolchose, und sie hatten reichlich Brot und Milch. Auf dem Weg dorthin sagte die Großmutter, dass es die Schuld der Schwiegertochter, Tante Sophia, sei, die nicht zulasse, dass etwas ohne ihr Wissen getan werde, und dass es für die Großmutter selbst nicht einfach sei. Doch dort erwartete uns eine noch größere Überraschung.

Zusammen mit Onkel Adam saßen in der Sommerküche ... Mutter und Schwester Dorothea. Die Mutter schluchzte und warf Onkel Adam vor, sich nicht um ihre Neffen zu kümmern. Unsere liebe Mutter umarmte uns alle drei auf einmal und weinte lange und bitterlich.

Onkel Adam schwor, dass er uns gesagt hatte, wir sollten jeden Tag zwei Liter Milch und drei Stück Brot bekommen. Als er erfuhr, dass Tante Sophia dies meiner Großmutter verboten hatte, wurde er wütend und befahl, uns von nun an jeden Tag zu essen zu geben. Außerdem beschloss er, uns in einem leerstehenden Haus in seiner Nähe unterzubringen.

Und wir konnten unseren Augen nicht trauen: Mutter und die kleine Schwester haben überlebt! Meine Mutter erzählte mir, wie der Chefarzt des Krankenhauses ihnen Zugtickets gekauft, sie mit Essen für die Reise versorgt und ihnen selbst beim Einsteigen in den Zug geholfen hatte. Hier ist ein weiterer selbstloser, mitfühlender Mann! Ich verneige mich heute vor all den freundlichen Menschen, die uns geholfen haben und deren Namen ich leider nicht kenne. Mutter, so schwach sie auch noch war, machte sich sofort an die Arbeit mit uns. Alle unsere verlausten Lumpen wurden verbrannt, und mit Hilfe meines Onkels und meiner Großmutter bekamen wir neue Kleidung. Aber für Erna waren sie nicht mehr nötig. Vielleicht weil das Mädchen zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig gegessen hatte, bekam es einige Tage später starke Bauchschmerzen und starb.

Onkel Adam war auf dem Feld, mein Vater war immer noch nicht zurück. Niemand kam, um uns zu helfen. Der Hunger hat allen das Mitgefühl geraubt und die Menschen auf das Niveau von Tieren reduziert.

Ich habe selbst einen Sarg gebaut, eher eine Kiste. Meine Mutter und ich legten Erna hinein, stellten den Sarg auf eine Schubkarre, und, nachdem ich noch eine Schaufel danebengelegt hatte, begab ich mich zum Friedhof. Meine Mutter hatte keine Kraft, mich zu begleiten. Ernas Tod hatte sie zutiefst erschüttert.

Ich suchte auf dem Friedhof lange nach einem geeigneten Platz, bevor ich mit dem Graben begann. Ich musste mich oft ausruhen, die Arbeit war zu schwer für mich. Ich maß lange die Tiefe des Lochs aus, bis ich schließlich entschied, dass es tief genug war. Mit großer Mühe gelang es mir, den Sarg hineinzupressen. Er lag nur knapp unter dem Boden, aber ich konnte ihn nicht wieder herausheben, um das Grab zu vertiefen. Ich bedeckte ihn mit Erde und setzte mich schließlich erschöpft daneben, wobei ich mich auf den Stiel der Schaufel stützte. Die Sonne war schon untergegangen, ich betrachtete den abendlichen Sonnenaufgang und ...merkte nicht, wie ich einschlief. Als ich aufwachte, sangen die Lerchen am blauen Himmel. Ich nahm Schaufel und Schubkarre und kehrte ins Dorf zurück. Meine Mutter saß am Fenster und weinte, weil sie dachte, dass mir auf dem Friedhof etwas zugestoßen wäre.

Eine Woche später begann der Roggen zu reifen. Onkel Adam ließ heimlich zwei Hektar mähen. Nachts wurde es gedroschen und unter den Mitgliedern der Kolchose entsprechend der Anzahl der Esser in der Familie aufgeteilt. Da der Roggen noch nicht reif genug war, wurde er zunächst getrocknet und dann in einer Handmühle gemahlen. Die Dorfbewohner verwendeten das Mehl zur Herstellung von Brei und zum Backen von Kuchen. Doch leider waren ihre ausgehungerten Körper nicht mehr in der Lage, diese Nahrung zu verkraften. Und viele Menschen starben, nachdem sie endlich die scheinbar lebensrettenden Fladen gegessen hatten. Ähnliches geschah in anderen Dörfern. Diejenigen, die überlebten, nahmen ihre Arbeit mit besonderem Eifer auf.

Nach der Übergabe des Getreides an den Staat gab Onkel Adam jedem Kollektivbauern sofort zwei Kilo Getreide pro Arbeitstag. Und im Herbst, nach der Ernte, weitere vier Kilogramm. Keine andere Kolchose außer unserer hat solche Ergebnisse erzielt. Unser Vorsitzender wusste, wie man wirtschaftet. Das hat er zweifellos von seinem Vater, meinem verstorbenen Großvater, gelernt. Alle Kolchosbauern waren sehr zufrieden. Weil er aber ohne die Erlaubnis höherer Behörden so viel an Arbeit verteilte, wurde er im dreiunddreißigsten Jahr zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Und das, obwohl die Kolchose jedes Jahr den Plan für die Getreidelieferung an den Staat übertraf und sein Betrieb von Jahr zu Jahr stärker wurde. Es stellte sich heraus, dass Onkel Adam wegen seiner guten Arbeit und seiner Sorge um das Schicksal der Kolchosbauern verurteilt worden war. Er kehrte nie aus dem Gefängnis zurück.

Erst nach der neuen Ernte kam mein Vater endlich nach Hause. Seine Gesundheit war ernsthaft gefährdet, und er hatte keine andere Wahl, als wieder als Hirte zu arbeiten. Von meinen Brüdern gab es keinerlei Nachrichten.

Ich bin in Mannheim zur Realschule gegangen. Im Sommer habe ich meinem Vater immer geholfen, die Herde zu hüten. Und als ich die siebte Klasse beendet hatte, wollte ich unbedingt weiterlernen. Aber wie? Ich hatte kein Geld und keine Kleidung. Mein Vater wollte auch, dass ich eine Ausbildung mache, er sah mich als seine einzige Hoffnung und Unterstützung.

Mein Vetter Karl Ungefug war damals, im Jahr sechsunddreißig, Sekretär des Bezirkskomitees des Komsomol. Als Karl eines Tages an unserem Haus vorbeikam, fragte er mich, wie ich die Schule abgeschlossen hätte. Als er erfuhr, dass meine Noten nur gut waren, sagte er, dass das Komsomol-Komitee eine Bewerbung für drei junge Männer mit einer siebenjährigen Ausbildung zum Studium an der Arbeiterfakultät in Rosenheim erhalten hatte. Er sagte auch, dass die Studenten dort ein Stipendium bekämen, und wenn ich wollte, könnte ich morgen mit zwei klugen Freunden zu ihm kommen.

Am nächsten Morgen ging ich mit Johann Heimann und Rudolf Kecksel zum Komsomol-Komitee. Karl übergab uns die notwendigen Papiere, wünschte uns alles Gute und wir fuhren nach Rosenheim. Wir bestanden die Aufnahmeprüfung und wurden alle drei Studenten.

1937 wurde Karl verhaftet und kehrte nicht mehr nach Hause zurück. Der Grund für seine Verhaftung blieb mir unbekannt.

Ich habe mein Studium ernst genommen. Trotz meiner früheren Probleme, Armut und Unterernährung war ich fröhlich und energisch, hatte in allen Fächern außer Russisch nur Einsen und erhielt ein erhöhtes Stipendium. Ich war auch Mitglied des Komsomol-Komitees und leitete eine Theatergruppe. Vielleicht war mein akademischer Erfolg darauf zurückzuführen, dass ich schlecht gekleidet war und schlechtes Schuhwerk trug, mich schämte, mit Mädchen auszugehen, nirgendwo hinging und stattdessen an Büchern saß und viel las.

Der Direktor der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften beschloss, mir zu helfen und übertrug mir die Leitung der Studentenbibliothek. Dreimal pro Woche lieh ich abends Bücher an die Schüler aus. Ich wurde für meine Arbeit bezahlt. In der Bibliothek gab es ein Radio, das nicht eingeschaltet werden durfte, vielleicht wegen des Krieges in Spanien, vielleicht wegen der zahllosen Volksfeinde. Aber manchmal schaltete ich es spät nachts doch noch an.

Jede Nacht wurden in Rosenheim Menschen abgeführt, meist Männer, darunter viele unserer Lehrer und Studenten. Man sagte uns, sie seien Feinde des Volkes. Alle Festgenommenen kehrten nicht mehr zurück. Diejenigen, die noch zu Hause waren, zuckten bei jedem Klopfen zusammen und hielten einen Vorrat an Unterwäsche in ihrem Rucksack bereit.

Im Herbst '37 schrieb mir meine Mutter, dass unser siebzigjähriger Nachbar verhaftet worden war, weil er in betrunkenem Zustand auf der Bank vor seinem Haus ein Lied gesungen hatte: "Es war einmal ein fröhliches Leben in meiner deutschen Heimat...". In der Nacht wurde er abgeholt und mitgenommen. Auch der Schwager von Karl Kecksels Mutter wurde abgeholt.

Das hat mich ganz besonders erschüttert. Ich wohnte bei Onkel Karl, als ich in der fünften Klasse war. Er war ein strenger, pünktlicher Mann, ein angesehener Schreiner im Dorf. Er hatte sein Handwerk in Deutschland gelernt, wo er während des Ersten Weltkriegs in Kriegsgefangenschaft war. Das war wahrscheinlich der Grund für seine Verhaftung. In jenen Jahren, als ich noch Schüler war, arbeitete Onkel Karl an unserer Schule als Arbeitslehrer. Zusammen mit seinen Schülern richtete er eine wunderbare Werkstatt mit Holzdrehbänken ein, die von einer auf dem Dach angebrachten "Windmühle" angetrieben wurden. Die Kinder schlossen Onkel Karl sehr ins Herz und verbrachten ihre Freizeit am liebsten bei ihm in der Werkstatt. Er hat uns eine Menge beigebracht.

All diese Massenverhaftungen von ehrlichen und hart arbeitenden Menschen brachten mich dazu, mich zu fragen, warum es plötzlich so viele Volksfeinde gab, und warum sich unter diesen Leuten auch Leute befanden, die ich kannte und die mich nie in Zweifel gezogen hatten. Aber ich konnte es nicht ganz begreifen.

1936 kehrte mein älterer Bruder Johanns aus der Region Orjol nach Hause zurück, nahm eine Tätigkeit als Mähdrescherfahrer auf und verdiente gutes Geld. Ein Jahr später kam auch mein Bruder Heinrich von dort zurück. Es war uns gelungen, sie mit Hilfe des Roten Kreuzes aufzuspüren. Beide Brüder waren sicher gewesen, dass wir alle längst tot waren.

Aber das Schicksal brachte unsere Familie für kurze Zeit zusammen. 1938 wurde Heinrich wegen eines geringfügigen Vergehens zu drei Jahren Haft verurteilt und nach Wolschsk zur Arbeit in einer Zementfabrik geschickt. Das Wichtigste war, dass sein Bruder nichts damit zu tun hatte, sondern dass der Vorarbeiter, den Heinrich einmal beim Schnapsbrennen erwischt hatte, einen persönlichen Rachefeldzug gegen ihn führte. Heinrich lief aus Wolschsk weg, um es dem Vorarbeiter heimzuzahlen, aber auf dem Heimweg wurde er aufgegriffen und für zehn Jahre nach Workuta in die Kohlegruben geschickt, weil er geflohen war.

Ein wenig vorweggreifend erzähle ich, dass Heinrich nach dem Ende seiner Haft in sein Heimatdorf Sichelberg zurückkehrte, ohne zu wissen, dass 1941 alle Sowjetdeutschen unterdrückt und aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. Heinrich wurde aufgefordert, das Dorf sofort zu verlassen. Er wanderte lange Zeit auf der Suche nach seiner Familie umher, fand sie aber nicht (bis heute wissen wir nichts über das Schicksal seiner Frau und seiner Kinder); er heiratete erneut, zog sechs Kinder groß und starb 1983.

Mein Bruder Johannes wurde 1939 als pensionierter Oberleutnant zur Roten Armee eingezogen und in den Krieg nach Finnland geschickt. Er wurde in der Nähe der Stadt Onegaja im Kampf getötet.

Im Frühjahr desselben Jahres beendete ich mein Studium an der Arbeiterfakultät und schrieb mich für einen einjährigen Lehrerkurs ein, zu dem nur Partei- und Komsomol-Mitglieder zugelassen waren. Die Studenten erhielten ein erhöhtes Stipendium und wurden intensiv für den Deutschunterricht an russischen Schulen ausgebildet. Die besten Professoren des Deutschen Pädagogischen Instituts in Engels unterrichteten uns. Besonders gut gefallen hat uns August Losinger, der Phonetik und Pädagogik lehrte.

Ich hatte die Gelegenheit, mit Prof. Losinger unter vier Augen zu sprechen. Zusammen mit vier anderen Studenten mietete ich ein Zimmer in der Nähe des Bauernmarktes. Losinger wohnte gegenüber von uns, und nach den Vorlesungen fragte er oft, ob er mitkommen dürfe. Er litt an Rheumaanfällen, die er sich im Gefängnis von Saratow zugezogen hatte, wo er unter schrecklichen Bedingungen in Haft gewesen war, weil er bei seinen Vorträgen am Institut die deutsche Sprache "zu sehr" lobte. Als er und ich die Straße hinuntergingen, stützte er sich mit einer Hand schwer auf seinen Stock und hielt sich mit der anderen an meiner Schulter fest. Ich konnte mir vorstellen, dass der Weg für ihn eine Qual war, aber damals gab es noch keine Busse oder Straßenbahnen.

Einmal meinte Losinger:

- Genosse Krüger, die Tatsache, dass wir so schnell deutsche Lehrer für russische Schulen ausbilden müssen, kann nur eines bedeuten - der Krieg mit Deutschland kommt!

Ich wollte es nicht glauben und lehnte kategorisch ab:

- Nein, Herr Professor, ich glaube nicht, dass es um einen drohenden Krieg geht, sondern im Gegenteil um eine enge Freundschaft mit Deutschland. Schließlich haben wir einen Pakt des gegenseitigen Nichtangriffs.

- Seien Sie nicht so naiv! Vor dem Ersten Weltkrieg war die Situation des Deutschunterrichts in Russland genau dieselbe. Sie werden sich meine Worte mehr als einmal merken müssen.

Und es stellte sich heraus, dass ich seine prophetischen Worte oft in Erinnerung habe und mich bis heute daran erinnere.

Der Krieg brach aus. Absolventen von Lehrerkursen wurden von der Einberufung an die Front befreit. Im Jahr 1940 wurde ich in die Region Krasnojarsk in das Dorf Tinskaja geschickt, um an einer Mittelschule Deutsch zu unterrichten. Doch im März des zweiundvierzigsten Jahres erhielt ich eine Aufforderung, mich beim Kriegskommissariat des Bezirks Nischne-Ingasch zur Einberufung in die Rote Armee zu melden.

Am nächsten Morgen ging ich mit meiner Frau und meinem einjährigen Sohn zum Bahnhof. In der Nähe des Bahnhofs stand ein kleines Holzhaus, aus dem ich Kindergeschrei hören konnte. Kinder saßen auf den Fensterbänken, die Nasen gegen das Glas gedrückt, und weinten. Eines der Fenster war zerbrochen, durch das mir ein sehr kleiner Junge die Hand entgegenstreckte und auf Deutsch schrie:

- Onkel! Lieber geliebter Onkel! Bitte bring mich weg von hier! Nimm mich mit! Es ist so kalt hier drinnen und ich habe Hunger!

Als ich zur Tür lief, sah ich, dass sie verschlossen war und ein junger Polizist danebenstand. Ich versuchte ihn zu fragen, warum die hungrigen Kinder in einem ungeheizten Raum eingesperrt waren, wo ihre Eltern waren. Der Polizist erwiderte scharf, dass ich das nicht wissen dürfe. Als ich weiter insistierte, zog er seinen Revolver aus dem Holster und befahl mir, sofort weiterzugehen.

Am Bahnhof hatte sich bereits eine große Gruppe von Sowjetdeutschen mit ihren Frauen und Kindern versammelt. Man teilte uns mit, dass gemäß einem von den Genossen Stalin und Molotow unterzeichneten Befehl ausnahmslos alle deutschen Männer und alle deutschen Frauen, deren Kinder älter als drei Jahre waren, sowie alle Mädchen, die das sechzehnte Lebensjahr vollendet hatten, sofort mobilisiert und an die Arbeitsfront geschickt werden sollten.

Jetzt war mir klar, warum die Kleinen in einem kalten Haus mit zerbrochenen Fenstern eingesperrt waren. Ein nervöser Schauer durchlief meinen Körper. Ich erkannte das Elend, zu dem die Kinder verurteilt worden waren.

Einige der Männer am Bahnhof kannte ich. Als ich eines Sonntagnachmittags am Bahnhof vorbeikam, sah ich einen ungewöhnlichen Güterzug. Die Leute wuselten umher, unterhielten sich laut auf Deutsch und zogen Säcke, Taschen und Koffer aus den Waggons. Ich hatte meine Muttersprache schon lange nicht mehr gehört, denn meine Frau und ich waren die einzigen Deutschen im Arbeiterlager. Ich ging auf eine Gruppe von Männern zu, um mich vorzustellen. Von ihnen erfuhr ich zum ersten Mal, dass gemäß dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 alle Deutschen aus der ASSRNP (Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen) nach Kasachstan und Sibirien umgesiedelt werden sollten. Das war eine große Überraschung für mich, denn wir erhielten die zentralen Zeitungen zwei bis drei Wochen zu spät.

Und nun stand ich auf demselben Bahnsteig wie diese Einwanderer, und niemand wusste, was uns erwartete.

Es wurden so viele Deutsche nach Ingasch gebracht, wo sich das Melde- und Einberufungsbüro befand, dass viele von ihnen von morgens bis spät in die Nacht im Frost ausharren mussten. Wenigstens durften wir für die Nacht hinausgehen, unter der Bedingung, dass wir um Punkt acht Uhr wieder da sind.

August Schmidt, der nach der Vertreibung hier in Ingasch als Kreislandwirt gearbeitet hatte, lud mich und sieben andere ein, die Nacht bei ihm zu verbringen. Augusts Frau begrüßte uns freundlich und forderte uns auf, abzulegen, unsere Rucksäcke abzunehmen und sie in die Ecke des Flurs zu stellen. Bald darauf brachte sie zwei Kessel in den Raum. Der heiße Tee kam uns sehr gelegen, da wir alle bis auf die Knochen durchgefroren waren. Wir holten die rudimentären Lebensmittel aus unseren Rucksäcken und aßen gemeinsam zu Abend. Dann saßen wir nebeneinander auf dem Boden im selben Raum. Jeder versuchte, heiter und fröhlich zu sein, um die Traurigkeit und Angst in uns zumindest für kurze Zeit zu unterdrücken. Wir haben gescherzt, Witze und lustige Geschichten erzählt und gesungen. David Roth war besonders gut darin. Er nahm seine Gitarre von der Wand und begann, ein deutsches Volkslied nach dem anderen zu singen, was uns zu Tränen rührte. Nach einer Stunde hatten wir einen anständigen Chor, und wir haben bis zum Morgen kein Auge zugetan. Es war eine unvergessliche Nacht für uns, denn wir hatten noch nie so viel Freude und Frohsinn in unserem Leben erlebt.

Pünktlich um acht Uhr kamen wir beim Einberufungsbüro an. Es waren sogar noch mehr Leute da. Viele Leute hatten den Ort die ganze Nacht nicht verlassen. Gegen Mittag wurden wir auf einen Güterzug verladen und nach Krasnojarsk gebracht. Dort wurden wir in kalten Baracken am Ufer des Jenisseis untergebracht. Die Baracken wurden eilig aus nassen Brettern gebaut, auf denen wir zwei Tage lang schliefen, ohne Bettzeug.

Dann waren wir wieder in Güterwaggons mit zweistöckigen Etagenbetten und kleinen Fenstern mit Metallgittern. Die Türen der Waggons waren mit schweren Schlössern verriegelt, und zusätzlich zu diesen "Vorsichtsmaßnahmen" befand sich auf der Ladefläche jedes dritten Waggons ein Rotarmist mit einem Maschinengewehr und einem Schäferhund.

Wir fuhren langsam, hielten oft an und standen lange Zeit auf Abstellgleisen. Wir bekamen Brot und Wasser und gelegentlich warme Suppe oder Brei. Die Vorräte, die wir von zu Hause mitgenommen hatten, gingen bald zur Neige. Wenn jemand etwas übrighatte, teilte niemand etwas, jeder wollte für sich allein länger durchhalten. Auf dem Weg dorthin wurden wir zu den Bädern gebracht. Aber das Wasser und das Bad waren kaum warm und viele von uns erkälteten sich nach so einer "Badeaktion". Hungrig, kalt, schmutzig und verlaust reisten wir achtzehn Tage lang, bis wir eines frühen Morgens - es war der fünfte April - durch lautes Hundegebell, schreiende Menschen und einen lauten Schlag gegen die Waggonwände geweckt wurden.

Die Riegel klirrten und klapperten, und die schwere Wagentür öffnete sich abrupt. Das stechende Licht der Scheinwerfer blendete. Als unsere Augen sich ein wenig daran gewöhnt hatten, sahen wir bewaffnete Soldaten mit angeleinten Schäferhunden rund um den Waggon. Wir fühlten uns alle äußerst unwohl. Ein lauter Befehl ertönte:

- Hier herüber mit dem Steg!

Die Soldaten zogen ihn in Richtung unseres Wagens. Die Kommandanten waren zwei schwarzhaarige Männer in Uniform. Später hat mich das Schicksal oft mit ihnen in Kontakt gebracht. Entin und Papperman waren ihre Namen. Papperman befahl:

-Ihr da im Waggon! Steht in Vierergruppen auf und steigt aus! Aufgrund der beengten Verhältnisse war es jedoch schwierig, den Befehl auszuführen. Paperman fluchte und schimpfte die ganze Zeit. Wir alle stießen und stolperten übereinander und stiegen schließlich unter lautem Zählen aus dem Wagen.

- Wie viele sind es denn? - fragte Papperman.

- Ich habe mich verzählt. Die Schafe können nicht einmal richtig aufstehen! rief Entin gereizt und mischte jedes Wort mit einer unflätigen Sprache.

- Steigt wieder in den Waggons, ihr verdammten Faschisten! - rief Papperman wütend. Wir mussten uns wieder in den Wagen quetschen und uns zu viert aufstellen. Erst beim dritten Mal zählte Entin uns richtig und schrieb eine Zahl auf die Sperrholzplatte. Ein neuer Befehl war zu hören:
- Formular vier! Vorwärts marsch! Marsch! Marsch!

Später erfuhr ich, dass es sich um das fünfte Ausweichgleis handelte, wo sich heute die Stadt Krasnogurinsk in der Region Swerdlowsk befindet.

Begleitet von bewaffneten Soldaten und bellenden Hunden, verließen wir langsam das Ausweichgleis in einem schwarzen, stillen Strom. Wie eine endlos lange Schlange bewegten wir uns entlang des Flusses Turja, der mit dickem Eis bedeckt war.

- Halt! Macht den Weg frei! - wurde der Kolonne plötzlich befohlen sich rückwärts zu bewegen.

Wir traten zur Seite und blieben stehen. Wir hörten das Knarren von Kufen im Schnee und das Schnauben eines Pferdes. Direkt vor unserer Linie bäumte sich das verängstigte Pferd auf, aufgeschreckt durch den großen deutschen Schäferhund an der Leine des Wachmanns.

- Weiter geht's! Los, los, los! Wovor diese Angst? - rief der Fuhrmann und schwang die Peitsche.

Wir waren erschrocken, als wir sahen, was sich auf dem Schlitten befand.

- Hör mal, Mann, was transportierst du da? - fragte Reinhold Steinert den Fahrer.

- Bist du blind? Kannst du das nicht selbst sehen? - Der Wagenlenker spuckte vor Wut. - Es sind Menschen wie du, die ich fahre. Bald wirst du auf die gleiche Weise abtransportiert. Geh schon, du verdammter Gaul! - Er schlug dem Pferd auf den Rücken, und der Schlitten rollte vorbei.

Verwirrt zählte ich die einspännigen Wagen: "Eins, zwei, drei... acht." Alle acht waren mit den erstarrten Leichen von Männern in schmutziger Unterwäsche beladen.

- He, ihr! Von wo kommt ihr denn? - Eine Stimme ertönte von den Hügeln her. Wir drehten unsere Köpfe wie auf Kommando. Auf der hohen Bank stand ein Mann in einem langen Mantel, dessen Kragen bis zum Boden reichte. Später erfuhren wir, dass es der Nachtwächter des Steinbruchs war.

Steinert, der einen ganzen Rucksack mit Proviant von zu Hause mitgebracht hatte, war immer noch zu Scherzen aufgelegt.

- Von dort nach hier. Wenn wir es satthaben, gehen wir wieder dorthin zurück", versuchte er zu lachen.

- Mal sehen, wie du in einem Monat singst! - Der Wachmann rief. -Hier ist noch nie jemand rausgekommen!

Ich erschauderte bei dem, was ich sah und hörte. Als das Kommando zum Aufbruch gegeben wurde, konnte ich mit meinen zittrigen Beinen kaum vorwärtsgehen. Ich musste mich dazu zwingen. Und alle um mich herum senkten ihre Köpfe und setzten mühsam einen Schritt vor den anderen. Die Soldaten begannen, uns wütend mit ihren Gewehrkolben zu stoßen und ihre Hunde auf uns zu hetzen.

Wir waren jetzt etwa zehn Kilometer von der Eisenbahn entfernt. Wir wurden zu riesigen Gemüselagern geführt, die von zwei Reihen Stacheldraht umgeben waren. Auf den Wachtürmen standen Wachposten mit Maschinengewehren. Entlang des Zauns waren wilde Schäferhunde an langen Ketten.

Die Soldaten öffneten das Tor weit und befahlen uns, in das Gemüselager zu gehen. Im Inneren erstreckten sich lange Reihen von zweistöckigen Kojen aus unbehauenem Holz. Es gab keinen Holzboden, sondern nur ein paar Holzbretter, die wahllos auf dem feuchten Lehmboden in den Gängen lagen. Lange Eiszapfen hingen von der Decke.

Wir durften bis zum Abendessen schlafen. Ich machte es mir auf dem unteren Regal bequem. Ich zog meinen noch neuen Eisenbahnermantel und meine Jacke aus, rollte letztere als Kopfkissen zusammen, legte mich auf die Planken und schlief, zugedeckt von meinem Mantel, sofort tief und fest ein. Ich wachte von der Kälte und der Feuchtigkeit auf. Die Eiszapfen an der Decke schmolzen, und der ganze Raum war mit Wasser geflutet. Ich hatte weder einen Mantel noch eine Jacke unter meinem Kopf. Keiner meiner Nachbarn hatte gesehen, wohin sie verschwunden waren, oder sie taten so, als wüssten sie es nicht. Meine Verzweiflung wuchs, als ich mich daran erinnerte, dass sich in meiner Jackentasche hundertvierzig Rubel und mein Komsomol-Ausweis befanden.

Jemand riet mir, ins benachbarte Gemüselager zu gehen, um Papperman aufzusuchen.

- Genosse Oberst! - wandte ich mich an ihn. - Ich wurde im Schlaf beraubt.

Jemand hat meine Kleidung, mein Geld und vor allem meinen Komsomol-Ausweis mitgenommen. Helfen Sie mir, bitte!

Du verdammter Faschist! - Papperman unterbrach mich. - Ich bin nicht dein Genosse, ich bin hier der Chef. Verstanden?! Verschwinde hier! Du Hund, du hast dich an deine Komsomol-Karte erinnert! Wozu brauchst du die hier noch? Faschistischer Abschaum!

Ohne ein weiteres Wort taumelte ich zurück. Tränen strömten aus meinen Augen, leise Schluchzer erschütterten meinen Körper. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf und ließ meinen Kopf auf die Knie fallen. Mir war sehr schwer ums Herz. Ein Schäferhund bellte mich an, aber auf eine lässige Art und Weise, mit einer Art Neugierde.

Der Text des deutschen Liedes "Moorsoldaten", das Studenten in der Vorkriegszeit sangen, kam mir in den Sinn:

Auf und nieder gehen die Posten.

Keiner kann hindurch.

Flucht wird nur das Leben kosten.

Vierfach ist umzäunt die Burg...

Das Lied passte so gut zu unserer Situation, als ob es speziell für uns geschrieben worden wäre. Ich erinnerte mich an Ernst Busch, der es fest, selbstbewusst und mutig sang

Doch für uns gibt es kein Klagen.
Ewig kann 's nicht Winter sein.
Einmal werden froh wir sagen:
Heimat, du bist wieder mein!

Ich stand auf und wischte mir die Tränen weg. Das ist richtig! Du darfst nicht aufgeben, du darfst nicht nachgeben. Wir müssen für das Leben kämpfen, der Winter kann nicht ewig dauern!

Am Morgen wurden wir in kleinen Gruppen zum ersten OLP gebracht, einer Lageraußenstelle, was im normalen Sprachgebrauch ein Badehaus bedeutete. Wir standen eine Weile vor der Tür und warteten darauf, dass die vorherige Gruppe sich wusch. Mehrere hagere, abgemagerte Männer kamen auf uns zu und schauten sich unentwegt um. Sie hielten uns kleine Brotstücke hin und baten uns, sie gegen Tabak einzutauschen. Eine Scheibe Brot entsprach einer Streichholzschachtel voll Tabak. Diese Männer entpuppten sich als Deutsche aus der Ukraine und anderen westlichen Regionen, die bereits im einundvierzigsten Jahr hierher deportiert worden waren.

Plötzlich sprang ein riesiger, pausbäckiger Kommandant des ersten Wohnblocks wie aus dem Nichts hervor. Die Brothändler stürmten davon, aber sie konnten nicht vor ihrer Schwäche davonlaufen, und der Kommandant packte sie und schlug ihnen mit der Faust ins Gesicht. Viele stürzten hilflos zu Boden. Der Kommandant drückte die kostbaren Brotstücke, die er in den Schlamm geworfen hatte, mit seinen Stiefeln in den Boden und zerdrückte sie. Dann wandte er sich an uns und drohte:

- So wird es jedem ergehen, der es wagt, hier etwas zu verkaufen.
Am nächsten Tag kamen drei Juden und zwei Deutsche in unser Gemüselager und setzten sich an einen eilig hergerichteten Tisch. Wir traten der Reihe nach hinzu, nannten unsere Namen und unseren Beruf. Dementsprechend wurden wir in Brigaden eingeteilt und auf die Anlagen des BAS-Stroi, des Bogoslowsker Aluminiumwerks in der Nähe der Stadt Krasnoturinsk in der Region Swerdlowsk, verteilt.

Ich gehörte zur Erdarbeiterbrigade, dessen Vorarbeiter Alexander Reisch war, der ehemalige Direktor der pädagogischen Fachschule in Marxstadt, wo meine Frau damals studiert hatte. Sie sprach oft über den Direktor - ehrlich, gewissenhaft, fürsorglich und anspruchsvoll, sowohl zu sich selbst als auch zu den Menschen. So war er auch hier, wo er eine Brigade von neunundfünfzig Personen anführte. Sie waren alle Grund- und Sekundarschullehrer sowie Universitätsdozenten.

Unsere Werkzeuge bestanden aus Schaufeln, Spitzhacken, Brechstangen und Schubkarren mit einem Rad und zwei Griffen. Wir haben einen langen Graben für die Wasserleitung ausgehoben, zwei Meter tief und zwei Meter breit. Der Boden war steinig, gefroren und mit den stumpfen Schaufeln in unseren geschwächten Händen schwer aufzugraben. Unterkühlt, in viel zu leichter Kleidung, hungrig und durchnässt, meißelten wir vom frühen Morgen bis zur Dunkelheit. Und solange die tägliche Norm nicht erfüllt war, durften wir die Tore des Lagers nicht betreten. Oder man schickte uns in den Wald, um Holz zu holen, mit dem wir dann sonntags unsere eigenen Baracken bauten.

Nicht weit von uns entfernt war eine andere Brigade dabei, einen Graben auszuheben. Eines Tages schlich sich ein Mann von dort herein, um ein zweihundert Gramm schweres Stück Brot gegen eine Streichholzschachtel Tabak einzutauschen. Ich fragte ihn, wer er sei, woher er komme und wie lange seine Brigade schon dort arbeite. Er antwortete, dass er und Brigadier Karl Geibel vor dem Krieg in Artyschew, Gebiet Saratow, gelebt hätten und im Januar des zweiundvierzigsten Jahres hierhergekommen seien. Ich rief überrascht aus: "Carl Geibel ist der Bruder meiner Frau!" Ich überredete den Soldaten, der uns mit einem Schäferhund und einem Maschinengewehr in der Hand bewachte, mich für ein paar Minuten zur Nachbarbrigade gehen zu lassen. Es stellte sich heraus, dass es sich um meinen Schwager handelte. Wir vereinbarten, dass ich am Abend in seine Baracke kommen würde.

Nach dem Abendessen ging ich zu Karl, aber er war nicht da, er holte gerade Brot für seine Brigade. Brot gab es nur für die Vorarbeiter. Wurde die Tagesnorm zu hundert Prozent erfüllt, wurden 800 Gramm verabreicht, andernfalls 400 Gramm. Der Brotstand befand sich in der Mitte des Lagers, und die Vorarbeiter standen jeden Tag stundenlang dort an. Das Brot wurde für jedes Mitglied der Brigade separat gewogen. Wenn der Brotmacher eine ungenaue Portion von einem Laib abschnitt, heftete er ein zusätzliches Stück mit einem Holzsplitter an das Hauptstück. Ein erfahrener Brotschneider bestimmte die Ration auf das Gramm genau, aber dann hegte die Brigade den Verdacht, dass der Vorarbeiter auf dem Weg vom Verkaufsstand zur Kaserne die Überschüsse essen würde. Jeden Tag wechselte sich also jemand anderes mit dem Brigadier ab, um das Brot zu holen.

Als mein Schwager mit der Kiste in der Kaserne erschien, stürzten allein Scharen auf ihn los, da sie nicht die Kraft besaßen, noch länger zu warten. Der Schnellste schnappte sich ein Stück Brot, nahm sofort einen hastigen Bissen und begann es zu essen. Fast die gesamte Brigade stürzte sich wütend auf ihn. Aber der Mann gab das Brot nicht heraus. Er fiel mit dem Gesicht nach unten zu Boden und steckte sich trotz der Schläge gierig ein Stück in den Mund. Erst als er es geschluckt hatte, beruhigten sich alle wieder und standen danach friedlich hintereinander.

Nachdem er das Brot verteilt hatte, sackte der Schwager bleich auf der Pritsche zusammen. Es stellte sich heraus, dass er selbst ohne Verpflegung zurückgelassen worden war. Der Mann, der immer noch auf dem Boden lag, war kein Mitglied der Brigade. Ich bot Karl die Hälfte der Ration an, die ich für das Frühstück übrighatte, aber er lehnte rundheraus ab. Aufgrund dieses erschreckenden Vorfalls hatten wir weder die Energie noch die Worte, um zu reden, und ich kehrte in meine Baracke zurück. Einige Tage später, als ich meinen Schwager wieder traf, erfuhr ich von ihm, dass der Mann, der seine Ration gegessen hatte, dann auf dem Boden liegen blieb, weil er tot war.

Karls Brigade arbeitete auf die gleiche Weise wie die unsere und grub von morgens bis abends mit Spitzhacken in der gefrorenen Erde und den Steinen. Als der Schnee zu schmelzen begann, mussten wir knietief im kalten Wasser stehen. Zu Beginn waren zweiundvierzig Männer in seiner Brigade, aber im Frühjahr waren nur noch neun am Leben.

Viele Jahre später wurde ich gefragt, weshalb wir einverstanden gewesen wären, unter solch unmenschlichen Bedingungen zu arbeiten. Erstens, weil die Deutschen ein sehr fleißiges Volk sind, unsere Vorfahren waren so und wir sind es auch. Zweitens wurden wir sofort über den Erlass der Regierung informiert, der besagte, dass wir bei Arbeitsverweigerung oder Fluchtversuchen sofort auf der Stelle erschossen würden.

Gemäß diesem Erlass wurde Karl Michel, ein Freund meines älteren Bruders, mit dem sie in den dreißiger Jahren gemeinsam als Freiwillige in der Roten Armee gedient hatten, erschossen. Michael war von Kriegsbeginn an an der Front, aber dann wurde er wie alle deutschen Soldaten aus der Armee abberufen und kam in unser Lager. Michael und zwei weitere seiner ehemaligen Mitstreiter beschlossen, wieder an die Front zu fliehen. Es gelang ihnen, das Lager auf einem "Brot-LKW" zu verlassen und die Stadt Serow zu erreichen, aber dort wurden sie aufgegriffen, unter Eskorte zurückgebracht und noch am selben Tag ohne Gerichtsverfahren vor unseren Augen hingerichtet.

Die Menschen waren so erschöpft, dass sie auf dem Rückweg von der Arbeit hinter dem Konvoi zurückblieben und kraftlos zu Boden fielen. Einige von ihnen bettelten:

- Nehmt mich mit! Lasst mich nicht hier auf der Straße zurück! Um Himmels willen, wir sind doch Landsleute!

Man versuchte, ihnen zu helfen, nahm sie unter den Arm und zog sie mit, aber dann fielen sie selbst von der schweren Last zu Boden. So kam es oft vor, dass die um Hilfe Bittenden übergangen wurden und wie große alte Pinguine ihren Weg fortsetzten. Hinter uns hörten wir das Schimpfen der Wachen und das Bellen der Hunde, aber wir wussten nicht, was dort vor sich ging, niemand sagte es uns, und wir hatten keine Kraft, uns umzudrehen, und das war das Schreckliche: Man hatte uns unserer Menschenwürde, unseres Mitgefühls beraubt. Wir waren nicht mehr menschlich, nicht mehr in der Lage, wie Menschen zu denken und zu handeln. Es gab einen unerträglichen Gedanken, der alles überschattete: Wo, wie, auf welche Weise bekomme ich etwas zu essen. Es war furchtbar, sich im Badehaus anzuschauen: Skelette in ihre eigene Haut gehüllt.

Nachts gingen Vertreter der Kommandantur durch die Baracke, um zu überprüfen, ob alle an ihrem Platz waren. Jeder musste in seiner Koje bleiben; das Zusammensitzen war verboten. Wenn ich lese, dass es den Kriegsgefangenen in den deutschen Konzentrationslagern gelang, geheime Gruppen zu organisieren, denke ich, dass unsere Lager strenger waren als die deutschen Lager.

Eines Tages waren meine Schuhe völlig zerrissen und die von Deis auch. Am Abend gingen wir zum Arbeitsanweiser und zeigten ihm unsere Füße. Er stellte uns am nächsten Tag von der Arbeit frei. Am Morgen, nachdem alle Arbeiter zur Arbeit geführt worden waren, gingen Deis und ich zur Latrine, dem einzigen Ort, an dem wir unter vier Augen über unser schreckliches Leben sprechen und von der Zukunft träumen konnten. Aber auch dort konnten wir nicht aufatmen: Kanewski, der Lagerkommandant, machte seine Runde durch das Gebiet. Er riss ruckartig die Tür der Latrine auf, schlug mit der Faust dagegen und brüllte:
- Sitzt hier nicht herum, ihr verdammten Faschisten! Hunde, die nicht arbeiten wollen!

Wir erstarrten vor Schreck. Sobald wir seine Schritte hörten, sprangen wir auf und beeilten uns, aus der Gefahrenzone zu kommen. Wir kehrten in die Baracke zurück. Aber auch hier wurde geschrien und geschimpft. Der Arbeitsanweiser unserer Kolonne, Grossman, schrie jemanden an, der auf der zweiten Ebene im Gang zwischen den Kojen lag. Der ab dem Kopf zugedeckte Mann reagierte nicht auf die Schelte. Dies trieb Grossman schließlich in den Wahnsinn. Er sprang mit den Füßen auf die unteren Kojen, packte den widerspenstigen Mann und zerrte ihn mit aller Kraft nach unten.

- Verdammter Hund! Du Penner! Du kommst in den Karzer! - Mit Wucht trat er auf den regungslos vor ihm auf dem Boden liegenden Mann ein.
- Grossman, was machst du da?! Er ist tot! - rief ich. Hör auf, du bist doch ein menschliches Wesen!

Bis heute weiß ich nicht, wie ich plötzlich diesen verzweifelten Mut fand. Grossman war verblüfft. Er starrte sein Opfer an, warf dann einen grimmigen Blick auf uns und schrie:

- Raus mit euch! Los, schneller! Oder ich bringe euch auch um, wie ich ihn umgebracht habe! Wir eilten zu unseren Kojen am Ende der langen Baracken und warfen uns mit dem Gesicht nach unten darauf. Am Abend rief Grossman uns in sein Zimmer und gab jedem von uns ein Paar Tschuni und Strümpfe.

- Morgen zur Arbeit, wie immer", sagte er fast freundlich. - Wegen euch habe ich heute einen Verweis bekommen.

Kein Wort über den Vorfall von heute Morgen.

Am nächsten Tag begann meine Quälerei mit den Tschuni. Es waren schwere, unbequeme Schuhe, die an meinen Füßen baumelten. Ich konnte meine Füße kaum bewegen. Außerdem hatte ich mir noch nie die Beine mit Fußlappen umwickeln müssen, ich war nicht wegen meiner schlechten Sehkraft zur Roten Armee eingezogen worden. Auf dem Weg zur Arbeit blieb ich immer hinter der Kolonne zurück. Die Soldaten drängten mich immer wieder mit ihren Gewehrkolben und ihren Hunden. Als ich es schließlich bis zum Graben geschafft hatte, war ich nicht mehr in der Lage, eine Hacke oder Schaufel zu halten.

Alexander Reisch, unser Vorarbeiter, sagte einige aufmunternde Worte zu mir und ließ mich erst einmal ausruhen. Er selbst ging immer als Erster in den Graben und kam als Letzter wieder heraus. Er arbeitete fleißig und behandelte die Mitglieder der Brigade auf humane Weise. Das Erstaunlichste daran war, dass er nie den Mut verlor.

- Wir haben einen Graben begonnen, wir müssen ihn fertigstellen", sagte er entschlossen.

Und es waren seine Zuversicht und seine Entschlossenheit, die uns Hoffnung für die Zukunft gaben. Später, als ich mit Alexander befreundet war, vertraute ich ihm meine geheimsten Gedanken an. Als Antwort auf meine Beschwerden sagte er mit Überzeugung:

- Alle Ungerechtigkeiten gegenüber den Sowjetdeutschen sind nichts anderes als ein politischer Unfall, wie ein Betriebsunfall. Wenn der blutige Krieg vorbei ist, wird alles wieder an seinem Platz sein. Der Unfall wird behoben, Sie werden sehen. Alles wird gut werden!

Die Zahl der Mitglieder unserer Brigade schrumpfte von Tag zu Tag. Einigen gelang es, mit dem Einverständnis des Chefs, leichtere Arbeiten zu finden. Einige von ihnen fanden Arbeit als Rationsmeister, Dispatcher, Buchhalter, Diensthabende oder, wie der schmächtige bebrillte Reinhold Schlotthauer, als Sekretär des Lagerkommandanten Kanewskij, der schließlich - erschöpft, krank und zerschlagen - am Ufer des Flusses Turia, unweit des damaligen dreizehnten Gefangenenlagers, seine letzte Ruhestätte fand. Unser Brigadier, ich und neun andere überlebten die Tortur - der Graben war fertig! Danach wurde unsere kleine Brigade aufgelöst.

Alexander Reisch wurde Elektriker in der Bauabteilung. Mich versetzte man zu einem anderen Grabungsteam, das einen Platz für das Fundament des hohen Metallrohres am Kesselhaus des künftigen Sägewerks vorbereitete. Die Häftlinge begannen mit dem Ausheben dieses Lochs, transportierten die Erde jedoch nicht ab, so dass der große Erdhaufen den Bauarbeitern bei der Installation der Dampfkessel und der Ausrüstung in die Quere kam. Der Vorarbeiter befahl uns, ohne die Hauptarbeiten zu unterbrechen, den Erdberg abzutragen. Wir konnten ihn nicht durch das Tor des Kesselraums entfernen, weil der gesamte Bereich mit Geräten und Metallkonstruktionen vollgestopft war. Wir beschlossen, eine Brücke über die Grube zu legen und damit die Erde bis zu einer kleinen Öffnung in der Wand abzutragen, die wir offenließen, bis der Schornstein installiert war. Um die Arbeit nicht zu verzögern, fuhren ein anderer Mann und ich damit fort, das Loch am Boden zu vertiefen, während beladene Schubkarren über die über uns schwingenden Bohlen rumpelten. Morgens hatte es genieselt, aber nachmittags war es eiskalt, und ich hörte die Schubkarren über unseren Köpfen ständig stolpern und rutschen.

- Sollen wir die Arbeit hier unten vorerst einstellen? - rief ich dem Vorarbeiter zu.

- Dann werden wir unsere Quote nicht erfüllen", antwortete er in einem gereizten Ton. - Wollen Sie, dass die Ration für alle gekürzt wird?

Keine fünf Minuten nach diesem Gespräch hörte ich einen großen Knall, ein rumpelndes Geräusch... und dann konnte ich mich an nichts mehr erinnern...

- Warum sind nicht alle hinter ihm her? Er wird hier sterben", hörte ich wie durch Watte, und öffnete die Augen. Drei von meiner Brigade saßen am Feuer, einer von ihnen schürte die Glut. Ich versuchte aufzustehen, aber ich spürte einen starken Schmerz im Rücken und im Kopf und stöhnte.

- Er ist aufgewacht! - sagte derjenige, der die Glut geschürt hatte, und legte seine Hand auf meine Stirn. - Hab Geduld, mein Freund, sie werden dich sicher bald von hier wegholen.

Mehr als drei Stunden lang lag ich regungslos auf dem gefrorenen Boden. Schließlich kam ein Lastwagen und sie brachten mich in die Krankenhausbaracke. Aber auch dort musste ich lange auf einen Platz zum Schlafen warten. Als ich auf eine Liege gelegt wurde, diagnostizierte man bei mir eine Gehirnerschütterung und eine Lähmung der Wirbelsäule im unteren Rückenbereich.

Ein paar Tage später fühlte ich mich so fiebrig, dass ich darum bat, einen Arzt zu rufen. Zu meiner großen Freude stellte sich heraus, dass es sich um Michelson handelte, einen Mann, den ich aus Krasnojarsk kannte und der genau wie wir alle hierhergebracht worden war.

-Ja, mein Freund, ich kann nichts Tröstliches sagen", seufzte er, während er mich untersuchte. - Zu allem Überfluss hast du auch noch eine Lungenentzündung und Malaria. Ich kann es nicht allein schaffen, aber wenn du gesund werden willst, können wir es vielleicht gemeinsam schaffen. Bleib einfach bei guter Laune!

Er ordnete an, mir ein sauberes weißes Laken und ein wattiertes Kissen zu geben. Dann zog er Chinin hervor, hob meinen Kopf an und half mir, die Medizin zu trinken.

- Ich habe diese Pillen von zu Hause mitgebracht", sagte Michelson. - Nimm eine zur Nacht und eine morgen früh ein. Ich habe keine Tabletten mehr, aber es ist ein gutes Mittel, und wenn es so sein soll, werden wir beide die Malaria besiegen. Wenn es besser wird, werden wir alles andere behandeln.

Meine Malaria hörte zwar auf, aber mein Fieber war weiterhin sehr hoch und ich fiel oft in einen Zustand der Bewusstlosigkeit. Zum Glück war ein Bettnachbar mit dem Familiennamen Rakk ein mitleidiger Mann. Er kümmerte sich um mich und legte immer wieder feuchte Tücher auf meine Stirn. Ich konnte nichts essen, also gab ich ihm mein Kontingent - 400 Gramm Brot und einen halben Liter Perlgraupensuppe mit einem Löffel Baumwollsamen-Öl. Dafür flößte er mir fünfzig Gramm Zucker, aufgelöst in heißem Wasser, ein.

Eines Nachts lag ich bewusstlos da, und der diensthabende Arzt ordnete an, mich näher an die Hintertür zum Bett für die Hoffnungslosen zu verlegen. Wahrscheinlich hatte ich gerade in dieser Nacht eine Krisis, denn als ich vor dem Morgengrauen aufwachte, war ich erleichtert: Meine Schmerzen im unteren Rücken waren gelindert, und mein Kopf fühlte sich nicht mehr wie aus Gusseisen an, ich stand auf, steckte meine nackten Füße in die Hausschuhe, wickelte eine Decke um mich und ging durch die Hintertür auf die Veranda hinaus. Ein paar Schritte von der Kaserne entfernt wurde gerade etwas auf ein Auto verladen. Ich ging etwas näher heran und sah im Licht des Suchscheinwerfers, dass die Leichen in den hinteren Teil des Lastwagens geworfen und dort gestapelt wurden. Mir wurde übel und schwindlig und ich verlor erneut das Bewusstsein.

Am Morgen wachte ich auf, als Rakk mir einen Becher mit heißem, süßem Wasser an die Lippen hielt und mich aufforderte, davon zu trinken. Ich war zum ersten Mal hungrig. Er brachte mir sofort etwas Brot und fütterte mich. Ich erzählte ihm von dem Albtraum, den ich hatte, von dem Auto mit den Leichenstapeln. Rakk hörte zu und erklärte mir, dass es kein Traum war, sondern Realität, die sich jede Nacht wiederhole, und dass es dieselben Verladearbeiter gewesen wären, die mich von der Veranda zurück in die Kaserne gebracht hätten. Dabei haben sie auch gescherzt:

- Er wollte ohne uns zu unserem Auto gehen, er muss ungeduldig sein.
Nach der morgendlichen Visite beorderte Michelson mich zurück auf meinen alten Posten neben Rakk. Von diesem Tag an begann meine Genesung, wenn auch langsam. Ich konnte jetzt meine eigene Portion Brot und Brühe essen.

Eines Tages kam Rakk mit leuchtenden Augen aus dem Büro des Chefarztes gelaufen: Er war entlassen worden und durfte nach Hause zurückkehren. Als er seine Sachen zusammensuchte und sich von uns verabschiedete, konnte er seine Tränen nicht zurückhalten. Wir haben sogar vergessen, unsere Adressen auszutauschen, was ich immer noch bedauere. Seitdem haben wir uns nie wieder gesehen. Von Michelson erfuhr ich, dass Rakks Lunge durch Tuberkulose völlig zerstört war, und man ließ ihn nach Hause gehen, um dort seine letzten Tage zu verbringen. Es war der einzige derartige Fall, alle Schwerkranken beendeten ihr Leben im Lager.

Nach ein paar Wochen entließ mich Michelson mit der Diagnose, dass ich gesund sei. Er hatte nicht mehr das Recht, einen Rekonvaleszenten im Krankenhaus zu behalten. Das Einzige, was er tun konnte, war, den politischen Offizier des Lagers anzurufen und ihn zu bitten, mir eine leichte Arbeit zuzuweisen. Der politische Offizier sagte mir, ich solle zu ihm kommen. Nachdem ich mich rasiert und ein sauberes Hemd angezogen hatte, das ich noch von zu Hause hatte, ging ich zum Lagerhauptquartier.

Der politische Leiter des Lagers war ein Russe, ich habe seinen Nachnamen vergessen. Er ließ mich hinsetzen und befragte mich. Ich erzählte ihm, wie ich meine Komsomol-Mitgliedskarte verloren hatte und wie Papperman mich einen Faschisten genannt hatte. Der politische Offizier runzelte die Stirn und sagte mir, dass wir keine Faschisten seien, sondern Sowjetbürger, die vorübergehend isoliert seien, dass er selbst an der Front nicht gegen die Deutschen, sondern gegen den Faschismus gekämpft habe und dass er trotz dreimaliger Verwundung keinen Hass gegen die Deutschen hege. Er sagt, dass er seinem deutschen Arzt Michelson, der ihn nach seinen Verwundungen behandelt, sehr dankbar ist und dass er ihn als Mensch sehr gern hat. Pappermans Aussagen waren sicherlich nicht gut, aber nicht jeder denkt wie Papperman.

Er sagte, er würde mich gern als Dolmetscher an die Front schicken, aber ich sähe aus wie ein kranker Mann, und ich müsste erst einmal gesund werden. Dafür bot er mir eine Stelle im Badehaus an, in einer separaten Kabine, die extra für ihn und den Lagerkommandanten eingerichtet worden waren. Zu meinen Aufgaben gehöre es, die Waschbecken und Handtücher sauber zu halten und morgens und abends Wasser in dem Blechbehälter auf dem Eisenofen zu erhitzen. Michelson hatte ihm zweimal am Tag ein Bad verordnet. Natürlich willigte ich ein und wurde Bademeister.

Jedes Mal während des Badens lobte mich der politische Beamte für meine Sauberkeit und Pünktlichkeit und sprach immer mit mir, fragte mich etwas. Er sagte mir einmal, dass der Feind besser bewaffnet sei als unsere Armee und dass wir große Verluste erleiden würden, obwohl die Rote Armee bald siegen würde. Ich bemerkte, dass die Zahl der Opfer im Lager entsprechend höher war als an der Front. Er zeigte sich entrüstet und nervös und wollte wissen, woher ich das wüsste. Ich erklärte, dass ich mit eigenen Augen gesehen hatte, wie viele Leichen aus dem Krankenhaus und anderen Baracken sowie von Baustellen abtransportiert worden waren und wie viele Menschen auf ihrem Weg zur und von der Arbeit getötet wurden. Der Politiklehrer sah mich lange schweigend an und sagte mir dann streng, ich solle nicht so offen mit jemandem sprechen. Ich spürte die Sorge in seiner Stimme und versprach ihm das.
Auch Papperman und Entin kamen oft ins Badehaus. Sie hackten ständig auf mir herum; ich bekam nicht ein einziges Mal ein freundliches, menschliches Wort von ihnen zu hören.

Bald wurde der Politoffizier zurück an die Front gebracht. Einige Zeit später hörte ich, wie Papperman Entin mitteilte, dass im Lagerhauptquartier die Meldung eingegangen sei, der politische Instrukteur sei am zweiten Tag seines Frontaufenthalts in Stalingrad gefallen. Tränen liefen mir über die Wangen.

Ich wollte nicht mehr im Badehaus arbeiten und bat Papperman, mich zum Bau der Aluminium-Fabrik zu versetzen, da die feuchte Luft nach Meinung des Arztes schädlich für meine Lungen war. Glücklicherweise war gerade die fünfte Baustelle unter der Leitung von Wladimir Posnanskij begonnen worden, der mich als Materialwart einstellte. Posnanskij war ein wohlwollender Mensch, ganz im Gegensatz zu seinen Kollegen, die uns bei jeder Gelegenheit für das von den Nazis verursachte Leid schikanierten. Einen ganzen Monat lang gab Posnanskij mir überhaupt keine Anweisungen - er wollte, dass ich gesund werde. Ich werde seine Sensibilität und Freundlichkeit nie vergessen.

Unsere Brigade hatte die Aufgabe, die Innenwände riesiger Druckbehälter, die in der Aluminiumhütte von Tichwin demontiert worden waren, von Ablagerungen zu befreien. Wenn sie unter Eskorte ankamen, verschwand die Brigade in den Metalltanks, und ich ging mit Posnanskijs Erlaubnis draußen hin und her und hörte das wilde Getöse von Hämmern, Spitzhacken und Meißeln. Ich musste so gehen, dass der Wachmann mich jederzeit sehen konnte. An einem warmen, sonnigen Tag, als die Lerchen sangen, entspannte ich mich, vergaß, wo ich war, und sank ins Gras und fiel in einen tiefen Schlaf. Die Soldatenwache und der Schäferhund schliefen sogar noch früher ein.

Der scharfe Schlag eines Stiefels unter meinen Rippen ließ mich aufspringen. Papperman und Entin standen vor mir.

- Was machst du hier, du mieser Hund? - rief Papperman. Ich schlug mir überrascht die Hand an die Schläfe und berichtete:

- Aufwärmen, Genosse Aufseher!

Sie starrten mich beide verwirrt an und lachten dann laut, ich muss wohl sehr komisch ausgesehen haben.

- Zur Hölle mit dir! - Papperman machte eine scheuchende Bewegung mit der Hand.

Meine Seite schmerzte noch wochenlang von seinem Tritt, aber ich dachte, ich wäre trotzdem ziemlich glimpflich davongekommen.

Nachdem die Verschmutzungen entfernt worden waren, kehrte unsere Brigade auf die Baustelle zurück und begann mit der Errichtung eines isolierten Schuppens zur Lagerung von Werkzeugen und Materialien. Ich war inzwischen merklich kräftiger geworden, und Posnanskij sagte mir, ich solle mich um die Logistik kümmern. Ich hatte eine Brigade von fünfzehn Männern zur Verfügung. Außerdem teilte mir der Disponent jeden Tag mehrere Pferdewagen und einen Lastwagen zu. Ich sah mich auf der Baustelle nach Dingen um, die wir gebrauchen konnten, und wir schleppten sie in die Lagerscheune. Stahlseile, Wagenheber, Werkzeuge, Geräte für Installationsarbeiten und andere nützliche Gegenstände wurden von den Gefangenen auf den Baustellen zurückgelassen. Posnanskij beglückwünschte uns zu der Tatsache, dass alles, was für die Montage der Gasturbinen, Generatoren und der Ausrüstung für die Rohr- und Gasgebläse-Anlage benötigt wird, zusammengetragen worden war.
Der Bau der Aluminiumschmelze war von größter Bedeutung. Die Nachfrage nach diesem strategischen Metall war sehr groß, und alle Baustellen standen unter der strengen Kontrolle des NKWD.

Wir haben sehr hart gearbeitet, und es durfte keine Ausfallzeiten geben.
Eines Tages fiel ein zwanzig Meter hoher Elektrofilter aus. Es stellte sich heraus, dass etwas im Inneren beschädigt war, wahrscheinlich die Verkabelung. David Monastyrskij, Leiter der Bau- und Installationsabteilung, fürchtete sich vor einem Verweis oder einer noch härteren Bestrafung und schimpfte mit den Elektrikern, stampfte mit den Füßen und zwang sie, in das Innere des Filters zu klettern, um den Fehler zu beheben. Aber niemand war dazu bereit - es war lebensbedrohlich. Plötzlich meldete sich einer der Elektriker und sagte, er würde versuchen, etwas zu unternehmen. Es war Alexander Reisch.

Die Anwesenden hielten den Atem an. Während der gesamten dreißig Minuten, die Reisch in dem heißen Filter verbrachte, herrschte angespannte Stille. Endlich kroch er durch die schmale untere Öffnung ins Freie. Der Schweiß rann ihm in schmutzigen Rinnsalen über das Gesicht, und er hatte blutige Abschürfungen an Händen und Stirn. Er atmete ein paar Mal tief durch und ließ ein Flüstern hören:

- Es ist alles in Ordnung... Machen Sie den Schalter an...

Monastyrskij kam auf ihn zu, um ihm die Hand zu schütteln.

- Ich brauche Ihren Händedruck nicht", sagte Reisch und atmete schwer. -Ich wünschte nur, Sie würden aufhören zu schreien und die Leute zu beschimpfen, Ihre Untergebenen, - und sackte ohnmächtig auf dem Boden zusammen.

Ich möchte noch ein paar Worte über Alexander Reisch verlieren. Das Schicksal führte uns im achtundvierzigsten Jahr wieder zusammen, als alle Deutschen bereits aus den Lagern entlassen worden waren. Wir hatten jedoch immer noch nicht das Recht, die Orte zu verlassen, an die wir deportiert oder mobilisiert worden waren. Andernfalls drohte uns per Gesetz Zwangsarbeit. Die Frau unseres Hauptbuchhalters wurde festgenommen und zu zwanzig Jahren Haft in einem Hochsicherheitslager verurteilt, nur weil sie ihre schwerkranke Tochter in der Region Omsk ohne Erlaubnis der Kommandantur besuchen wollte, nachdem ihr Antrag offiziell abgelehnt worden war.

- Was sagen Sie also zu diesem barbarischen Befehl von oben?

- fragte ich Alexander. - Der Krieg ist vorbei, und uns, zwei Millionen Sowjetdeutschen, wollen sie immer noch nicht die Bürgerrechte zurückgeben.

- Doch, das werden sie! - antwortete Alexander selbstbewusst. - Es muss einfach sein! Alles wird sich zum Besseren wenden, du wirst sehen. Es ist nur so, dass sich der politische Unfall ein wenig in die Länge gezogen hat.

Ich arbeitete mit ihm in der Treuhandanstalt Krasnoturinsk im selben Raum: ich war Rationierer und Ökonom, er war Hausverwalter. Vor meinen Augen, an seinem Schreibtisch sitzend, fasste er sich mit den Händen an den Kopf, dann an die Brust. Ich dachte, das käme vom Hunger. Seine Frau, seine Kinder und seine alten Eltern waren mit Erlaubnis der Kommandantur zu ihm gekommen, aber die Lebensmittelversorgung war schlecht, und die ganze Familie war am Verhungern. Ich bot Alexander ein Stück Brot an, aber er lehnte ab. Er weigerte sich auch, mir zu gestatten, einen Krankenwagen zu rufen, und fuhr selbst ins Krankenhaus, ohne Begleitung. Bald rief das Krankenhaus an und bat mich, die Familie zu benachrichtigen, dass Reischs Leben in Gefahr sei. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus, um mich von meinem Freund zu verabschieden.

Wieder werde ich in meinen Erinnerungen zurückgehen. Ende Februar des vierundvierzigsten Jahres wurde ich aufgefordert, mich in der Zentrale des Lagers zu melden. Außer mir waren noch einige andere Männer zum verabredeten Zeitpunkt dort versammelt. Wir wurden einer nach dem anderen in ein Büro gebeten, wo sich außer dem Lagerkommandanten Kanewskij ein General aus Swerdlowsk und zwei weitere unbekannte Männer in Zivil befanden. Auf dem Tisch lag ein Stapel Akten.

Als ich mich auswies, zog der General einen ziemlich dicken Ordner hervor - meine Personalakte. Mein Gott, wie viele Papiere waren da drin, und was könnte man über meine bescheidene Person schreiben? In diesem Moment hatte ich ein wenig Angst.

Ein paar Minuten lang blätterte der General schweigend in den Papieren und fragte mich, wer ich sei und woher ich käme. Dann legte er die Akte beiseite und sagte:

- Ab heute stehen sie nicht mehr unter Wachbegleitung. Sie erhalten einen Ausweis, mit dem Sie selbst zur Arbeit gehen können. Alles andere über die mobilisierten Deutschen bleibt für Sie gültig.

Es war eine große Freude, allein zur Arbeit zu gehen, ohne den Atem von bewaffneten Soldaten und wilden Schäferhunden im Nacken zu spüren. Es gab mir die Illusion von Freiheit, obwohl ich nicht von der auf meinem Pass angegebenen Route abweichen durfte. Andernfalls hätte ich verhaftet werden können. Ich würde in eine Strafzelle gesteckt und nur Brot und kaltes Wasser bekommen. Ich könnte dort fünf Tage ohne Bett verbringen, weil ich auf dem Markt Knoblauch gegen Skorbut gekauft hatte.

Zu diesem Zeitpunkt waren bereits viele Objekte gebaut worden. Nach und nach wurden die Häuser für die Freigelassenen errichtet. Fast täglich trafen Etappen von Kriegsgefangenen und Häftlingen ein, meist Frauen aus der Region Kursk, die angeblich während der Besatzung mit deutschen Soldaten und Offizieren in Kontakt gestanden hatten. Jetzt gab es mehr Menschen, die freien Ein- und Ausgang aus der Zone hatten und in verschiedenen Einrichtungen arbeiteten.

Als die Installation der Turbinen und Ausrüstungen für die Gasturbinenanlage kurz vor dem Abschluss stand, erwartete man einen General aus Moskau, der sich persönlich von der Fertigstellung der Anlage überzeugen sollte. Es waren noch einige Schweißarbeiten zu erledigen. Posnanskij sagte mir, ich solle dringend die Sauerstoffflaschen holen. Als ich sie hereinbrachte, begannen mehrere Häftlinge, sie auszuladen. Aber jeder Zylinder wog etwa achtzig Kilogramm, und vier erschöpfte Männer konnten ihn kaum heben. Posnanskij, der sah, wie langsam die Arbeit gemacht wurde, schrie sie an. Es war das erste Mal, dass ich ihn schreien hörte und so wütend sah. Offenbar mussten die Gasschweißarbeiten vor der Ankunft des Generals abgeschlossen sein. Ich suspendierte die Gefangenen, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnten, hielt den Zylinder mit beiden Händen fest und trug ihn allein. Als ich in der Werkstatt ankam, hatte ich die schlimmsten Bauchschmerzen. Als Posnanskij sah, dass ich kreidebleich geworden war, befahl er, mich in ein Krankenhaus für Freiberufler zu bringen. Ich hatte durch die schwere Last einen Leistenbruch erlitten und wurde sofort operiert.

Als ich das Krankenhaus verließ, wurde Posnanskij als erfahrener Spezialist an einen anderen Arbeitsplatz versetzt. Bevor er ging, riet er David Monastyrskij, dem Leiter vom Promstroi-1, mich einzustellen.
Damals arbeiteten auf den Baustellen mobilisierte Sowjetdeutsche, Kriegsgefangene, Häftlinge und nach Artikel 58, d.h. wegen "politischer Verbrechen" Verurteilte - Menschen verschiedenster Nationalitäten. Monastyrskij wies mich an, Arbeitskräfte aus anderen Lagern, von denen es in der Nähe von Krasnoturinsk fünfzehn gab, einzustellen, und wies mich streng darauf hin, welche Berufe wir brauchten und welche nicht. Die Lagerkommandanten versuchten jedoch, Menschen, die nicht arbeiten wollten oder nicht mehr konnten, abzuschieben. Aus diesem Grund gab es häufig Streit und Auseinandersetzungen mit den Chefs. Monastyrskij wollte keine Gefangenen und Usbeken auf dem Bau haben. Die einen versuchten, so wenig wie möglich zu arbeiten, und die anderen konnten die Kälte nicht ertragen und starben. Aber er schätzte die Deutschen sehr, er erlaubte mir sogar, die fünf Gefangenen-Brigaden durch eine Brigade Sowjetdeutscher zu ersetzen. Er setzte sie immer dort ein, wo es nötig war, um schneller und besser zu arbeiten. Und auch die Deutschen arbeiteten gut und erfüllten die Aufgaben pünktlich. Doch Monastyrskij hatte Angst vor ihnen, obwohl sie auch ihn fürchteten. Diese Menschen wollten nicht mehr töten oder kämpfen, aber trotzdem nahm mich Monastyrskij immer mit, wenn er die Objekte besuchte, in denen Kriegsgefangene oder Häftlinge arbeiteten.

Увидев нас, военнопленные тут же передавали по цепочке друг другу: "Работать, работать! Еврей идет!"

Als die Kriegsgefangenen uns sahen, teilten sie sich sofort per Kettenreaktion mit: "Los, los - arbeiten! Der Jude kommt!"

Als die Fundamente des wichtigsten Objekts, der Elektrolyse-Anlage, fertig waren und der Metallbau errichtet worden war, wurde ich zum Wirtschaftsleiter einer Zehnerbrigade ernannt. Ich erhielt den Auftrag, alle Fahrzeuge für den Transport der Fertigprodukte aus der Ziegelei anzuschließen. Aber von der Hauptstraße aus mussten die beladenen Fahrzeuge noch fünfzig Meter über den Lehmboden fahren. Die Räder setzten sich in dem schweren, klebrigen Lehm fest und die Motoren wurden abgewürgt. Monastyrskij ordnete an, dass während der Beladung der Fahrzeuge in der Anlage eine eilig angelegte Zufahrtsstraße von der Straße zum Elektrolyseraum gebaut werden sollte. Um die Frist einzuhalten, befahl Vorarbeiter Kosulkin den Kriegsgefangenen, eine Straße aus Brettern und Balken anzulegen und vier Lastwagen zur Hauptstraße zu bringen, auf die die Ziegelsteine von den Fahrzeugen geladen werden sollten. Die Kriegsgefangenen führten die ihnen erteilten Befehle sorgfältig aus. Als die Steine jedoch auf die Lastwagen verladen wurden, sank die Promenade aufgrund ihres Gewichts sofort in den weichen und schlammigen Boden ein. Als das letzte Auto ankam, sah ich folgende Szene: Auf der Straße standen Lastwagen, und die Kriegsgefangenen versuchten, die mit Steinen beladenen LKWS, mit allen Kräften vorwärtszustoßen. Der erste trug eine Plakette mit der Aufschrift "Ural Express".

Als Monastyrskij den Stau und die spöttische Aufschrift sah, drehte er durch. Er rief mich und Kosulkin ins Büro und schrie, dass wir uns von den Nazis tyrannisieren ließen, dass wir Dummköpfe, mit Stroh ausgestopfte Vogelscheuchen und schwindsüchtige Schreckgespenster seien, dass er uns sofort in den Steinbruch schicken würde, aus dem es nur einen Weg hinaus gäbe - den in die andere Welt.

Er schickte mich nicht in den Steinbruch, aber da ich seine Beleidigungen nicht vergessen konnte, bat ich einige Wochen später unter Berufung auf postoperative Magenschmerzen darum, von meiner Arbeit als Zehner-Brigadeführer entbunden zu werden. Nun wurde ich Normsachbearbeiter.
Ich glaube, dass Monastyrskij selbst ständig in Angst war, verhaftet zu werden. Denn besonders rücksichtslos waren diejenigen, die beschuldigt wurden, die Arbeit zu stören und die Inbetriebnahme von Bauten und Werkstätten zu verzögern. Alle wurden unablässig gehetzt und mussten bei jedem Wetter arbeiten.

In der Bauxit-Sinterwerkstatt mussten Fundamente für Kugelmühlen betoniert werden. Aber draußen war es eiskalt, 35 Grad unter null. Der erste Vorarbeiter Spetter, ein angesehener Bauingenieur, sagte, dass diese Arbeit bei dem eisigen Wetter auf keinen Fall möglich sei, es könnte sehr ernste Folgen haben. Monastyrskij bestand jedoch auf einer sofortigen Betonierung, da sich sonst der gesamte Bau verzögern würde, und das war für ihn ein großes Risiko. Spetter war gezwungen, den Befehl zu befolgen. Zwei fünfzig Meter lange Mühlen mit einem Durchmesser von mehr als dreieinhalb Metern wurden auf Betonfundamenten errichtet. Von da an war alles so, wie Spetter es vorausgesagt hatte: Der gefrorene Beton taute im Frühjahr auf, die Mühle und die Stirnwand stürzten ein. Alle führenden Experten des Objektes wurden sofort verhaftet, ihnen drohte der Tod durch Erschießen. Doch zu ihrer großen Überraschung und Freude forderte Monastyrskij ihre Freilassung. Er nahm alle Schuld auf sich. Alle wurden freigelassen. Warum Monastyrskij frei blieb, weiß nur er selbst. Später wurde er zum Geschäftsführer des BAS-Stroij-Trusts ernannt.

Die Nachkriegsjahre waren äußerst schwierig. Wir haben noch mehr gehungert als zu Kriegszeiten. Nach der Aufhebung der Brotrationierung war es fast unmöglich, etwas zu kaufen. Ein Laib Brot kostete auf dem Markt zwischen hundert und zweihundert Rubel. Wir konnten nirgendwo hingehen, da wir unter der Kontrolle der Militärkommandantur standen. Der Hauptmann der Baracke meldete dem Kommandanten jeden Abend, dass alle an ihrem Platz waren, und am Ende der Woche mussten wir ihm persönlich Bericht erstatten.

Wir durften nun unsere Familien zu uns holen, damit sie dauerhaft bei uns leben konnten. Dazu mussten wir die Genehmigung des Trust-Verwalters einholen und einen Antrag bei der Kommandantur stellen. Für die ankommenden Familien wurden in den Baracken Ein- und Zweizimmer-"Wohnungen" eingerichtet.

Meine Frau und mein Sohn waren unter den ersten, die in Krasnoturinsk ankamen. Dann kam meine Mutter mit David und Dorothea aus der Region Aktjubinsk, wohin sie im einundvierzigsten Jahr vertrieben worden waren, zu mir. Damals erhielt jeder, der ein Haus bauen wollte, Baumaterial. Viele Menschen begannen, Häuser aus Brettern zu bauen und sie mit Sägemehl und Kesselschlacke zu isolieren. Bald entstanden zahlreiche Siedlungen. Die Erlaubnis wurde erteilt, um zu verhindern, dass die Menschen die Stadt in Massen verließen, wenn die Kommandantur geschlossen würde.

Nach wie vor durften deutsche Angehörige der Arbeitsarmee nicht ohne Erlaubnis den Wohnortverlassen oder ihren Arbeitsplatz wechseln; es wurde mit Freiheitsstrafen von zwei bis zwanzig Jahren geahndet. Dieser Zustand hielt bis zum Jahr fünfzig an, aber auch danach dauerte es lange, bis die lokalen Behörden uns über die Gesetzesänderungen informierten, weil sie die Arbeitskräfte so lange wie möglich halten wollten. Als wir dann endlich unsere Ausweise bekamen, konnten wir aufatmen.

Damals arbeitete ich als Leiter der Planungsabteilung des Wohnungs- und Kommunalwesens des BAS-Stro-Trusts und hatte zweimal die Gelegenheit, an einem Gerichtsprozess teilzunehmen. Eine Gruppe von Dieben und Gaunern stand vor Gericht. Diese Leute, die kein menschliches Gewissen hatten, waren ehemalige Lagerleiter und Leiter der Unterabteilungen innerhalb des Trusts: der Leiter des vierzehnten Lagerkommandos Kanewskij, der Leiter der ersten Lageraußenstelle Papperman, sein Stellvertreter Entin, der Hauptbuchhalter der Beschaffungsabteilung Sterman, Hauptbuchhalter des Trusts Beloussow und viele andere. Sie wurden beschuldigt, Lebensmittel gestohlen und verschwendet zu haben, die sie uns, den Trudarmisten, nicht gegeben haben, wodurch Tausende unschuldiger Menschen zu einem langsamen Hungertod verurteilt gewesen waren.

Mehr als neunzehntausend deutsche Arbeiter wurden für den Bau der Bogoslowsker Aluminiumhütte herbeigeschafft, viertausend von ihnen waren noch am Leben, als der Stacheldraht um die Lager entfernt wurde. Vier von neunzehn!

Schwarzkopf, Leiter des Lebensmittellagers der vierzehnten Lagereinheit, sagte aus, wie viel allein aus seinem Lager gestohlen und abtransportiert worden war.

- Er ist ein Faschist! Glauben Sie diesem faschistischen Lügner nicht! - Die Angeklagten schrien hysterisch.

Und Schwarzkopf nannte konkrete Beweise und genaue Zahlen mit Jahr, Monat und Datum.

Das Verfahren dauerte fast drei Wochen. Die meisten der Angeklagten wurden zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Aber zwei Jahre später, während einer Geschäftsreise zum Ural-Fahrzeugwerk Uralmasch, traf ich Sterman in der Cafeteria des Swerdlowsker Central Hotels. Von ihm erfuhr ich, dass alle mit ihm Verurteilten wegen "schlechter Gesundheit" aus dem Lager entlassen worden waren.

Wenn ich mich jetzt an diese Alpträume erinnere, an diese Verbrechen, an die Grausamkeiten, an die Betrügereien, an die Diebstähle, wenn ich mich an all diejenigen erinnere, die sich dessen schuldig gemacht haben, dann stellt sich mir jedes Mal die berechtigte Frage: Warum sind diese und andere Menschen wie sie noch nicht vor Gericht gestellt worden? Die Faschisten stehen heute noch vor Gericht.

Am Tag von Stalins Tod wurden wir aufgefordert, zu einer Trauersitzung in den Klub der Bauarbeiter zu gehen. Eine Menschenmenge versammelte sich auf einem kleinen Platz. Stehend, mit entblößten Köpfen, eng aneinandergedrängt. Ich dachte einen Moment nach und nahm meinen Kopfschmuck nicht ab.

- He, du, Faschist! Nimm gefälligst die Mütze vom Kopf! - Der große Mann schlug mir mit der Faust hart in den Rücken.

Mein Herz sank. Ich riss mir die Mütze vom Kopf und erstarrte. Die Frau aus unserer Abteilung, die neben mir stand, wandte sich scharf an den großen Mann.

- Wer hat dir das Recht gegeben, diesen Mann einen Faschisten zu nennen?! Scheinbar bist du selbst ein richtiger Faschist!

- Ruhe da! Seien Sie jetzt still! - raunte es von allen Seiten.

Die Arbeiterin beugte sich zu mir und flüsterte:

- Wenn er vor dem einundvierzigsten Jahr gestorben wäre, wäre vieles nicht passiert! Aber jetzt wird sich alles ändern!

Ich erschauderte heftig. Und nach dem Trauertreffen konnte ich mich lange Zeit nicht beruhigen, weil ich ständig dachte, dass ich verhaftet werden würde.

Eines Tages erfuhr ich zufällig von einer Bekannten aus der Personalabteilung, dass man nicht mehr vor Gericht gestellt werden kann, wenn man unerlaubt den Arbeitsplatz gewechselt hat. Ich wurde Leiter der Planungsabteilung, und zum ersten Mal seit dem zweiundvierzigsten Jahr fühlte ich mich wie ein Mensch. Die größte Freude für die Sowjetdeutschen war jedoch die lang erwartete Begnadigung, die von Chruschtschow unterzeichnet wurde. Ohne sie wären wir viele Jahre lang an diesen Orten geblieben, ohne das Recht zu haben, sie zu verlassen, wir wären unzuverlässige Menschen geblieben, zutiefst verachtete "Fritze".

Natürlich war Chruschtschows Handeln nicht nur für die Deutschen eine Erlösung und ein Glück, sondern auch für viele, viele Menschen anderer Nationalitäten. Ich teilte einmal ein Abteil mit einem älteren russischen Mann. Wie so oft auf der Straße, öffnete er sich einem zufälligen Mitreisenden und erzählte mir sein ganzes Leben.

Mit sechzehn Jahren lief er mit einem gleichaltrigen Freund aus seinem Heimatdorf in der Nähe von Tula weg. Sie schlossen sich den Budjonow-Truppen an und kämpften bis zum Ende des Bürgerkriegs. Nach dem Krieg wurden sie beide nach Moskau geschickt, um an der Militärakademie zu studieren. Nach dem Studium wurde der Freund zum Oberbefehlshaber des weißrussischen Militärbezirks ernannt, und er wurde auf gemeinsamen Wunsch mit seinem Freund sein Assistent. Woroschilow stimmte persönlich ihrer Zusammenarbeit zu.

In siebenunddreißig wurde er frühmorgens ins Hauptquartier gerufen. Kaum hatte er die Schwelle überschritten, wurde er von zwei NKWD-Offizieren gepackt. Der dritte hielt ihm eine Pistole an die Brust und riss das Abzeichen von seiner Uniform. Anschließend wurde er in das Gefängnis von Minsk gebracht. Er wurde des Hochverrats angeklagt: Angeblich soll er im Falle eines Rückzugs der Truppen des belarussischen Militärbezirks die Sprengung von Brücken und Straßen für den Truppenverkehr angeordnet haben, um die sich zurückziehenden Truppen gefangen zu nehmen. Er war verpflichtet, diesen Unsinn zu unterschreiben. Er lehnte dies kategorisch ab. Er wurde dann jede Nacht schrecklichen, unerträglichen Folterungen ausgesetzt, bis er bewusstlos zusammenbrach. Er wurde zurück in die überfüllte Zelle geschleppt, in der die Menschen wegen Sauerstoffmangels erstickten. Jede Nacht starben dort zehn bis fünfzehn Menschen.

Eines Tages wurde er von einem neuen Vernehmungsbeamten vorgeladen, der nicht so brutal war wie sein Vorgänger. Bei der dritten Befragung flüsterte er leise:

- Lieber Mann! Unterschreiben Sie diese Lüge! Morgen schicken sie eine Etappe mit Gefangenen in den Ural oder nach Sibirien. Sie können sich darauf einlassen und möglicherweise Ihr Leben retten. Das ist Ihre einzige Chance.

Die gefälschte Anklage wurde unterzeichnet. Schon in der nächsten Nacht wurde er nach Tawda im Ural geschickt. Dort war es bitterkalt, und sie wurden in Planen-Zelten untergebracht, bis sie sich selbst eine Baracke errichten konnten. Mehr als die Hälfte der Häftlinge aus dieser Etappe starb an Lungenentzündung, Skorbut und anderen Krankheiten. Und er sollte zehn Jahre in einem Lager verbringen und dann in Tawda leben, ohne das Recht zu haben, es zu verlassen. Er hatte kein Recht, Briefe zu senden oder zu empfangen. Zufällig erhielt er die Nachricht, dass seine Frau, die sich nach seiner Verhaftung nicht von ihrem Mann, einem "Volksfeind", losgesagt hatte, entlassen und mit ihrem fünfjährigen Sohn und ihrer alten Mutter aus der Wohnung direkt auf die Straße gesetzt worden war. Jemand hatte insgeheim Mitleid mit ihnen und ließ sie den Winter über in der Sommerküche wohnen. Aber es gab nichts zu heizen, und alle seine Verwandten wurden krank und starben.

Nun war der Mann rehabilitiert, hatte seine Bürgerrechte vollständig wiedererlangt und war auf dem Weg nach Moskau, um neue Dokumente zu erhalten. Er hatte seine ganze Familie, seine Freunde, sein Zuhause, seine Gesundheit, seine Jugend, seinen Glauben und seine Hoffnung verloren, und das Leben schien ihm sinnlos.

In Swerdlowsk stieg mein zufälliger Mitreisender aus. Ich habe seinen Namen vergessen, aber ich erinnere mich oft an das, was er mir erzählt hatte, und das enorme Ausmaß des Leidens von Millionen von Menschen, nicht nur meines eigenen Volkes, sondern auch von Russen, Nordkaukasiern und Menschen vieler anderer Nationalitäten, wurde mir immer bewusster. Das war eine furchtbare Zeit, eine verdammte Zeit der Massenunterdrückung, der Erschießungen, der brutalen Folterungen, in der die besten, tatkräftigsten und denkenden Menschen einer nach dem anderen absichtlich eliminiert wurden. Jetzt möchte ich Alarm schlagen:
- Menschen, Bürgerinnen und Bürger unseres Landes! Seid wachsam! Lasst nicht zu, dass sich die dunklen Zeiten wiederholen!

Region Nischni Nowgorod, März 1988 Übersetzung aus dem Deutschen von Tatiana SARTAKOWA

Krüger, F. Die Ausgestoßenen: Erinnerungen / übersetzt aus dem Deutschen. Т. Sartakowa // So ist es gewesen: Nationale Repressionen in der UdSSR, 1919-1952 Jahre: in 3 Bänden. Bd. 1 /Verfasst, Vorwort, Nachwort, Kommentare und Anmerkungen von S. U. Aliewa ; Russische Internationale Kulturstiftung. - Moskau: Islan, 1993. - С. 208-243.


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