Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Antanas Krischanauskas . Warum?

VORWORT

Hier werden Auszüge aus den Erinnerungen des ehemaligen KrasLag-Häftlings (1941-1951)

und litauischen Schullehrers Antanas Krischanauskas vorgestellt. Er wurde mit zehntausend anderen während der Massenaktion, die das gesamte Baltikum am 14. Juni 1941 überrollte, verhaftet, von seiner Famlie, die man in die Verbannung schickte, getrennt, und ins KrasLag verbracht, wo er mit tausenden von Gefangenen, denen es ebenso erging, ein halbes Jahr auf

seinen Gerichtsprozeß wartete, der eigentlich überhaupt nicht stattfand. Eine Verurteilung in Abwesenheit durch eine Sonder-Beratung wird heute als unrechtmäßig anerkannt, daher wurden Krischanauskas und andere rehabilitiert. Doch bis dahin mußten zehn schwere Jahre der Gefangenschaft in Lagern verbüßt werden, zu Kriegszeiten, das Auseinanderbrechen der Familie und anschließend die unbefristete Verbannung in die nördliche Umgebung der Stadt Kansk, aus der er 1956 freigelassen wurde.

Für den Leser der Zeitschrift „Jenissej“ dürfte es nicht uninteressant sein, sich mit der unge-

künstelten Erzählung eines Menschen vertraut zu machen, der sich einst in einer vielen Menschen bekannten Umgebung nahe Krasnojarsk befand.

A. KRISCHANAUSKAS

WARUM?

Eines Abends, nach einer anstrengenden, dreiwöchigen Fahrt, passierte unser Gefangenen-transport die Station Reschoty, bog nach links ab und hielt schließlich an der Bahnstation Nischnaja Pojma. Auf den Nachbargleisen wurde Holz auf Güterwaggons verladen. Die Ladearbeiter wurden von Soldaten bewacht. Zur rechten Seite lagen am Hügel unordentlich verstreut Bauernkaten, zur linken befand sich ein großes Gelände, eingegrenzt von einem Zaun, an dessen Ecken Wachtürme standen. In der Ferne leicht abfallende, bewaldete Hügel. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Die hinter dem Wald verschwindende Sonne schien mit ihrem letzten Lichtstrahl in das linke Fensterchen – folglich fuhren wir nach Norden. Auf beiden Seiten huschten eintönige Bauten vorbei – und sobald eine Waldwiese auftauchte, sah man auch schon ein Lager - und wieder eine Waldwiese, und wieder ein Lager.

Und dann ging die warme Sonne des 6. Juli 1941 auf.

„Aussteigen! Sachen mitnehmen!“

Man hörte das Knirschen von sich öffnenden Türen, das Getrampel von Soldatenstiefeln, Schreie, Geschimpfe.

Während unser 60 Waggons umfassender Gefangenentransport ausgeladen wurde, sah ich mich in der Umgebung etwas um. Vor uns, im Osten, senkte sich der Boden zum Waldrand hin, und darin befand sich ein eingegrenztes Territorium mit einem Ausmaß von etwa 6 – 8 Hektar. An den Ecken die bereits bekannten Wachhäuschen. Hinter dem Eisenbahndamm, nach Westen zu, eine dunkle Wand aus Wald. Das ganze Feld, wo man uns aussteigen ließ, und der Zug waren von einer dichten Kette aus Soldaten umstellt. Schäferhunde bellten. Wir mußten uns auf den Boden setzen. Es war angenehm, die Beine auszustrecken und frische Luft zu atmen. Eine Unmenge Menschen saßen auf der Erde – ein paar tausend. Im Waggon hatte sich eine bunt gemischte Gesellschaft befunden, und ich konnte irgendwie überhaupt nicht definieren, aufgrund welcher Kriterien man uns eigentlich alle verhaftet hatte. Jetzt, in Freiheit, wenn ich mich mit vielen Bekannten und mit Leuten treffe, die man vom Hören-sagen kennt, ist klar geworden, daß sie hier Menschen zusammengehäuft hatten, die mit nationalem Selbstbewußtsein in Erscheinung getreten waren, Aktivisten des unabhängigen

Litauen. Aber hätten die sich nicht einfügen könnten in den Aufbau einer neuen sozialisti-schen Gesellschaft - dieses kleine Litauen in die riesige UdSSR? Aber zu dieser Überlegung kam es gar nicht. Es folgten ein Aufruf, eine Zählung, eine Durchsuchung, die Beschlag-nahme aller mehr oder weniger wertvollen Gegenstände, und gegen Abend durchschritten wir das Tor des Lagers Nr. 7, bei der Siedlung Rewutschy. Man hatte noch nicht darüber nachgedacht. ob es vielleicht angebracht wäre, über dem Lagertor Dantes Spruch "Gib nicht die Hoffnung auf, Du, der Du hier hineingehst ..." anzubringen.

Dong, dong, dong – die langgezogenen Töne, die durch das Schlagen auf ein Stückchen Eisenbahnschwelle erzeugt werden, wecken das Lager um sechs Uhr morgens – und der Arbeitstag beginnt. Eine Stunde Zeit für das Antreten zum Morgenappell, Frühstück und Sammeln zum Arbeitsabmarsch sowie die Aufstellung zu Siebener-Brigaden am Lagertor: zuerst Holzeinschlag, später Straßenbau, Arbeit in Holzlagerungsbrigaden und anderen. Um Punkt sieben Uhr öffnet sich das Tor und wir befinden uns außerhalb der Zone. Sofort nähern sich jeder Brigade Begleitsoldaten, und es beginnt die traditionelle Litanei; „Ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts ...“. Wir, die Holzfäller-Brigade, bahnen für die Eisenbahnlinie eine Schneise durch die Taiga. Anfangs waren wir eine solche Arbeit nicht gewohnt und benahmen uns sehr ungeschickt. Büsche abholzen, Kiefern fällen scheint eine nicht so schwierige Angelegenheit zu sein, aber rationell arbeiten, unter Einhaltung der vorgegebenen Technologien, das gelang uns nicht. Wir stießen auf alte Kiefern, riesige Lärchen. Dort liefen wir geschäftig hin und her, verbrauchten viel Energie, und als die Zeit zum Mittagessen herankam, verließen die Kräfte uns. Der Wachsoldat stößt Mutterflüche aus, droht, aber wir können uns kaum rühren. Am Abend stellt sich heraus, daß wir das Plansoll zu 40 Prozent erfüllt haben, und von der geleisteteten Arbeit hängt die Höhe der Essensration für den näch-sten Tag ab.

Wir arbeiteten schwer und viel, bis zum Einbruch der Dunkelheit, aber irgendwie konnten wir diese 100 Prozent nicht schaffen. Einmal, vor dem Arbeitsappell, geruhte der Lagerleiter höchstpersönlich zu erscheinen:

„Die litauischen Brigaden erfüllen die Tagesnorm nicht. Sie sagen, daß sie zu hoch angesetzt ist. Das ist nicht wahr. Sie sabotieren die Arbeit! Wißt ihr, niemand wird euch die Normen herabsetzen. Wer das Tagessoll erfüllt, der erhält eine gute Essensration, wer es nicht tut – soll er doch krepieren...“

Und sie begannen zu krepieren. Bald gingen die Vorräte zur Neige, die von zuhause mitge-nommen worden waren. Die Lagerration wurde von Tag zu Tag ekelerregender. Es gab auch nicht mehr die ranzige Suppe, die wir in den ersten Tagen nicht hinunterbekommen hatten. An ihrer Stelle bekamen wir jetzt abgekochtes Salzwasser, das mit Bärenlauch gewürzt war. Brot - aus ranzigem Mehl, feucht und schwer. Von solchem Brot erhielt jeder 400 gr. Bei 100%iger Erfüllung des Arbeitssolls kamen einem 500 gr zu, bei 110 % - 600 gr, bei 120% - „700 gr und abends ein Stückchen Hering oder 70-80 gr Magen-Muskeln von Pferd oder Kuh, schlecht abgespült, häufig mit Überresten von ungekochtem, wiedergekäutem Futter oder Mist. Die Menschen wurden merklich schwächer. Jetzt mußten die ganz Kraftlosen in den Brigaden bei Rückkehr von der Arbeit unter den Armen gestützt werden. Wegen der schlech-ten Ernährung im Lager begannen sich Durchfall-Erkrankungen auszubreiten. Das erste Opfer war der älteste Mann unter den Bauern. Als wir abends von seinem Tod erfuhren, kamen wir, die Gesunden, dahingehend überein, daß wir am folgenden Tag einen Sarg für ihn fertigen und den armen Kerl nach unseren Gebräuchen beerdigen wollten. Aber wo denn! Die Lager-leitung wollte davon nichts hören. Man jagte uns fort zur Arbeit, und der Verstorbene wurde von einem Jungbullen auf einer Trage in den Bereich außerhalb der Lagerzone abtranspor-tiert. Wo man ihn bestattete und wer ihn dort begrub ist nicht bekannt. Im ersten Winter, als ein großes Massensterben einsetzte, beerdigte man die Toten nicht, sondern stapelte sie bis zum Frühjahr an der Lagerumzäunung auf.

Das war im Winter, aber jetzt ist noch Sommer. Unsere Qualen beim Bäumefällen verschlim-merten sich durch die Mücken und Kriebelmücken. Wer noch niemals in der Taiga war, kann sich unmöglich vorstellen, was das für eine göttliche Strafe für die Menschen und Tiere ist. Solche Blutsaugern findet man auch in Litauen, aber man kann sagen, daß sie einzeln über einen herfallen, eine sticht, du schlägst sie mit der Handfläche – sie ist tot, und du wartest, bis die nächste sticht. In der Taiga fallen sie in Schwärmen über dich her. Du berührst ein Büschel Gras, und es ist als würdest du eine Handvoll Sand ins Gesicht geworfen bekom-men. Die Insekten kriechen in die Nase, in die Augen. Innerhalb weniger Minuten verwandeln sich die offenen Körperstellen in Wunden. Die einzige Rettung aus dieser Lage war Rauch, in den wir, nachdem wir die Geduld vollends verloren hatten, hineinrannten, um uns darin einzu-nebeln. Aber die Mühe lohnt sich.

Ende Oktober herrschte im Lager bereits echter Hunger. Hunderte von Häftlingen wurden arbeitsunfähig und streiften den ganzen Tag durch die Lagerzone, auf der Suche nach Kartof-felschalen, Zigarettenstummeln. Die Krankenbaracken waren überfüllt, und der typische Geruch von Durchfall lag schwer in der Luft – alle litten an blutigem Durchfall, dem ersten Anzeichen von Mangelernährung. Unter den Litauern gab es neun Ärzte und einige Sanitäts-helfer. Sie wurden alle zur Krankenbehandlung herangezogen, und heilten jegliche Übel mit Manganpräparaten. Aber den Hunger kann nur Nahrung heilen, und die gab es nicht. Auch unter solchen Bedingungen bemühten sich die Ärzte zu helfen, indem sie gelegentlich die Freistellung von der Arbeit erteilten. Wenn herauskam, daß ein Häftling ohne hinreichenden Grund freigestellt worden war, schickten sie den Arzt zu Kolonnenarbeit, wobei sowohl er als auch der Häftling am folgenden Tag mit einer geringeren Essensration bestraft wurde – jeder erhielt nur 300 gr Brot. Ganz besonders hatte der Arzt Welanischkis zu leiden. Er war äußerst gutherzig, war einige Male Bestrafungen ausgesetzt und wurde schließlich zu Kolonnenar-beiten geschickt; und Ende 1942 verurteilte man ihn zur Höchststrafe.

In unserem Lager herrschte eine allgemeine Anstaltsordnung. Das bedeutete, daß man häufiger Briefe schreiben, Pakete erhalten und bis zu 100 Rubel Geldmittel bei sich haben durfte , daß die Baracken nachts nicht verschlossen wurden und drinnen keine Latrinenkübel aufgestellt wurden. Aber auf der anderen Seite waren hier Politische zusammen mit Kriminel-len eingesperrt.

Vom ersten Tag an bestahlen, beraubten und verprügelten sie uns. Die Kriminellen fanden sich vor allem beim Lagerdienst (die sogenannten pridurki). Das Lager war ihnen zum Heim geworden. Sie unterhielten Verbindungen zu Freien, waren wohlgenährt und kräftig. Wir, die Litauer, machten etwa 80% des Lager-Kontingentes aus. Wir waren alle kurz vor dem Abkratzen, es mangelte an Einigkeit. Nicht ein einziges Mal konnten wir den Berufsver-brechern den notwendigen Widerstand entgegenbringen. Obwohl wir mehr als zweitausend waren und sich unter uns ehemalige Offiziere, hochrangige Beamte, bis hin zum Präsidenten, befanden, fand sich kein Anführer für die Organisation unseres Selbstschutzes. Diese Unorga-nisiertheit brachte vielen Landsleuten vorzeitig den Tod. Wir waren noch naiv und hatten uns nicht an das ungeschriebene Lagergesetz gewöhnt: „Stirb Du heute - und ich morgen!“ Die Lagerleitung war an unserer Demütigung interessiert und antwortete auf jedwede Beschwer-den nur mit Hohn und Spott, das ist nicht unsere Sache, wir mischen uns da nicht ein!

Viele Ankömmlinge hatten auch ins Lager verschiedene eigene Sachen mitgebracht, gute Anzüge, einen Mantel, einen Pullover, Schuhe, ein Oberhemd. Einige hatten es geschafft, goldene Verlobungsringe, Medaillons, wie man damals „Federhalter“ nannte, oftmals mit vergoldeten Federn. Selbst ich konnte eine Uhr am Filzer vorbeibringen. Solche Sachen waren nicht nur im Lager, sondern auch bei den freien eine Seltenheit. Uns nannte man Ausländer.

Jene von uns, die noch etwas Energie für den Überlebenskampf besaßen, beeilten sich, diese Gegenstände gegen Eßbares einzutauschen. Unser gesamter Besitz befand sich bald entweder in der Koffern der „Lager-Bourgeoisie“, den pridurki, oder – durch deren Vermittlung – bei den Freien; dabei mußte man für diese Vermittlung auch noch bezahlen. Auf diese Weise blieben für die Besitzer nur winzige Kleinigkeiten über. So erhielt ich für die gute schweizer Uhr eine Laib nicht vollständig durchgebackenen Brotes und zwei Gutscheine für ein Lager-abendessen. In den ersten Jahren achtete die Lager-Verwaltung sorgfältig darauf, daß kein gedrucktes Wort zu uns gelangte. Zeitungen kamen durch Lokomotivführer an uns. Für ein Exemplar zahlte man 30 Rubel. Soviel kosteten nach dem Lagertarif 100 gr Brot, eine Schachtel Streichhölzer oder eine Päckchen Machorka-Tabak. Eine Zeitung wurde in Stück-chen gerissen und zum Selberdrehen von Zigaretten verwendet; so brachten wir sie ins Lager. Dann legten wir die einzelnen Teile zusammen und lasen. Es war überhaupt nicht schlimm, wenn eine Zeitung schon zwei Wochen alt war – die Zeit war für uns sowieso stehen geblieben.

Unter uns gab es auch einige Geistliche. Einer von ihnen war bis zum Dezember so von Kräften gekommen, daß sie ihn schon nicht mehr zur Arbeit trieben. An ihn wandten sich nicht nur die Entkräfteten mit der Bitte um moralische Unterstützung, sondern auch die Arbeitenden. Jeden erwärmten seine guten Worte und die Herzlichkeit seiner Ansichten. Seine 400gr-Brotration schnitt er in kleine Scheiben, die er dann seinen Besuchern schenkte. Welche Seelenstärke mußte man besitzen, um einen derartigen Großmut zu beweisen!

Eines Tages, bei 40°C Frost, trug sich mit meinem Kameraden, dem ehemaligen Schullehrer Antanas Tschernjawitschus ein Unglücksfall zu. Wir waren gerade mit dem Sägen einer Eiche fertig, als uns die Baumkrone eines umgestürzten Baumes neben uns zudeckte – auf dem schmalen Raum, der durch die verbotene Zone begrenzt war, war es immer eng und nicht ungefährlich. Ich kam mit einem leichten Schrecken davon, aber Tschernjawitschus stöhnte nur. Man legte ihn neben das Lagerfeuer, wo er bis zum Abend blieb; danach brachte man ihn mit einem Schlitten ins Lager zurück. Die ganze Nacht lag er im Flur der Sanitätsabteilung, und wurde erst am Morgen des folgenden Tages von einem Arzt untersucht. So eine Behand-lung endete so, wie sie enden mußte – Wundbrand am Bein, welches sie dann auch amputier-ten. Danach arbeitete der Invalide A. Tschernjawitschus lange Zeit als Brotschneider, was ihm in den Hungerjahren half zu überleben.

Ich hielt mich auch nicht lange. In der Mitte des Winters war ich völlig entkräftet und fast ohne Bewußtsein. Wie im Traum erinnere ich die Anweisungen des Arztes Dakinjawitschus an den Sanitäter:

„Zieh ihn in die Baracke. Gib ihm Kampher. Vielleicht kommt er bis zum Morgen durch. Und ich kam durch und konnte sogar auf der Pritsche sitzen. Als der Sanitäter mich dort sitzen sah, verzog er mißmutig das Gesicht, und reichte mir meine Brotration und die Suppe, mit der ich schon zuversichtlich gerechnet hatte.

Es gelang mir nicht meine Portion herunterzuschlucken, als sie sich plötzlich ... in der Hose befand. Infolgedessen litt ich an einer Durchfallerkrankung. Soweit ich es verstehe, handelte es sich nicht um die Ruhr, sondern lediglich um eine tiefgreifende Entkräftung, die mit einem erheblichen Vitaminmangel einherging und es dem Organismus nicht gestattete die aufge-nommene Nahrung zu verdauen. Die Ärzte stellten bei einer solchen Erkrankung die Diagnose: Dystrophie II, Dystrophie III. Und diese entkräfteten Menschen wurden mit dem ernährt, was gerade abfiel. Einmal verabreichten sie im Essen verschimmelten Weizen. Die ganze Nacht hindurch wurde Getreide für Suppe und Brei gekocht, aber trotzdem blieben die Körner hart wie Schrot. Natürlich landete solche Art von Essen unverdaut im Abortkübel. Durchtriebene Köpfe überlegten, wie sie diese Überreste dann abseihen, auswaschen, trock-nen lassen, zermahlen und sie abends unter der Hand an die von der Arbeit Zurückkehrenden verschachern konnten, wobei sie so taten, als hätten sie die „Erzeugnisse angeblich im Pferde-stall aufgetrieben. Meine Nachbarn, die ebenfalls an Dystrophie litten, starben ruhig und friedlich. Sie quälten sich nicht. Ihr Leben wurde ausgelöscht wie die erlöschende Flamme einer heruntergebrannten Kerze. So schliefen die neben mir liegenden ehemaligen Lehrer-Kollegen sanft ein: Bansaitis, J. Baltakis, I. Mikschis, J. Kanapetskas. Ein Lehrer aus Bijutischkis, J. Rinkjawitschus, rief mich am Abend hinaus und bat mich, von seinem Kopfende einen guten Wintermantel wegzunehmen und ihn seiner Frau zu geben, falls ich überleben sollte! Am nächsten Morgen fand ich ihn schon nicht mehr vor – man hatte ihn bereits in die Leichenkammer getragen. Ich erlebte die letzten Tage von Kollegen, denen ich oft auf den Lehrer-Versammlungen begegnet war: D. Sawitskas, K. Dinkjawitschus, D. Lukoschjawichus und hundert andere mehr oder weniger bekannte Landsleute. Zur Mitte des Winters hin stieg die Sterblichkeitsrate dermaßen an, daß sogar zwei Bestattungsbrigaden geschaffen wurden, welche die Unglückseligen in Gräben beerdigten, die unaufhörlich ausgehoben wurden.

Entgegen den Prognosen des Arztes kam ich durch, indem ich die Essensreste der Verstorbenen aß, mir ab und an ein paar Krümel mit kleinen Gefälligkeiten bei Hilflosen „verdiente“ oder Arbeit beim Aufwischen des Küchenfußbodens fand und dabei alle mög-lichen Krümel aus der Krankenbaracke aufsammelte.

Einmal trat der mir bekannte Lehrer J. Tsimbolaitis an mich heran und erzählte mir eine Sensation: vor kurzem hatte man ihn nachts in die Stabsbaracke gerufen, wo er A. Gusja-

witschjus (A. Gudaitis-Gusjawitschjusder spätere Minister des litauischen KGB, der sich ebenfalls in Schriftstellerei übte) begegnete. Mit ihm hatte J. Tsimbolaitis einige Jahre im Ukmergsker Gymnasium auf ein und derselben Schulbank gesessen und sich mit ihm ange-freundet.

„Ich stand vor ihm, dem General des NKWD – ein unglücklicher Gefangener – und dachte über die Wechselhaftigkeit des menschlichen Schicksals nach“.

„Man mußte ihm von unserer Lage erzählen, von Hunger, Tod und den auseinandergerissenen Familien“.

„Ich habe es erzählt. Gusjawitschjus versprach mir Hilfe, und über die anderen äußerte er sich: „Der Mensch ist des Menschen Wolf“. (Die Hilfe äußerte sich darin, daß J. Tsimbolaitis in ein Landwirtschaftslager in Nischne Ingasch versetzt wurde, wo er dann auch glücklich seine zehn Jahre absaß).

Im Januar 1942 erhielt ich den ersten Brief von meiner Frau! Wo diese Postkette begann und wie die Verwandten miteinander wieder in Kontakt gerieten – ich weiß es nicht, aber noch zu Beginn des Winters trafen die ersten Briefe im Lager ein. So erfuhren wir, daß unsere Fami-lien als Sonderzwangsansiedler in der Republik Komi, im Altai-Gebiet, in der Region Tomsk oder in Jakutien lebten.

Meine Frau schrieb, daß sie ebenfalls in der Holzfällerei arbeitete, und zwar in einer der Waldwirtschaften im Altai-Gebiet. Da sie nicht imstande wäre die Norm zu erfüllen, erhielte sie 500 gr Brot und Essen im Speisesaal; und meine Eltern, beide alt und krank, wären arbeitsunfähig und erhielten jeder 400 gr Brot. Im Sommer ernährte man sich von allen möglichen Kräutern, aber jetzt, im Winter, war es ganz schlimm. Meine Frau, die sehr kränklich war, hatte noch nie eine Axt in den Händen gehalten. Was waren das dort für Normen. Aber als Lehrerin war sie gut.

Mehr als ein Jahr saßen wir nun schon im Lager, die Hälfte der Ankömmlinge war bereits gestorben. Auf der ganzen Welt, selbst in den strengsten sozialen Gesellschaftsordnungen, bemüht man sich trotzdem, dies – wenn auch nur zum Schein – auf ein Gesetz der Ordnung zu gründen. Wenn jemand bestraft wurde, dann geschah dies durch ein Gericht und für eine konkrete Tat. Aber hier wurde man verhaftet, eingesperrt und gefoltert – und wir wissen nicht weshalb.

Im Herbst 1942 trafen drei Internationalisten im Lager ein, Vertreter des NKWD, Ermitt-lungsrichter, zum „Festnageln“ unserer Akten: zwei Letten und ein Jude. Das Ermittlungs-verfahren begann, immer nachts holten sie einen, denn tagsüber mußte man ja arbeiten. Während der Nächte also zum Verhörführer und tagsüber, natürlich, zur Arbeit, und gewöhn-lich unterschrieb man das Protokoll. Für ganz Widerspenstige wurde die Baracke mit verschärftem Regime (BUR) eingerichtet, die niemals leerstand.

Mitte Dezember kam auch ich an die Reihe. Ich wurde für schuldig befunden, daß ich Lehrer und Mitglied der Schaulis (Bürgerwehr) war, meine Schüler in nationalistischem Geist erzogen und die faschistische Macht Smetonows unterstützt hätte (A. Smetona, letzter Präsi-dent Litauens).

Im Januar 1943 folgte das Urteil: eine Sonder-Beratung verurteilte mich hinter meinem Rücken zu 10 Jahren wegen meines aktiven Kampfes gegen die Arbeiterklasse und die revolutionäre Bewegung ...

Gegen die revolutionäre Bewegung ... Gegen eine solche Bewegung konnte ich gar nicht gekämpft haben, aus dem einfachen Grunde, weil in den Dörfern und kleinen Ortschaften, in denen ich unterrichtet hatte, so etwas überhaupt nicht existierte. Niemand hatte sie bemerkt. Die Bauern hatten sich darüber beklagt, daß die von ihnen produzierten Lebensmittel so billig und Industriewaren so teuer waren, und die Händler waren verärgert darüber gewesen, daß es so wenig Käufer und kein Geld gab. Auch die Volkslehrer jammerten, daß sie zu viel Arbeit hatten, aber zu wenig verdienten (das Monatsgehalt eines Grundschullehrers betrug 300 Lit Der Preis für 1 kg Butter = 2 Lit, ein Paar Schuhe = 20-40 Lit). Aber kein Mensch hatte irgendeine Revolution in Bewegung gesetzt.

In jenen kalten Januarnächten wurden allen Litauern die Urteile der Sonder-Beratung verlesen: 5, 8, 10 Jahre Lagerhaft.

Der Wolf aus der Fabel Krylows hatte sein Wort zum Lamm gesprochen ...

Und dann, einige Tage nach der Benachrichtigung erhielt ich einen Brief von meiner Frau, in dem sie mir mitteilte, daß meine Eltern gestorben waren; schwer zu ertragende Nachrichten kamen da auf mich zugewälzt, als ich auf meiner Pritsche lag. Ich wollte es herausschreien, dem ganzen Lager, der ganzen Welt wollte ich zurufen: was für eine Ungerechtigkeit! Was haben sie sich denn zuschulden kommen lassen, diese einfachen, friedfertigen Werktätigen, meine Alterchen!? Zugewanderte, die mit lauter Stimme verkündet hatten, daß sie gekommen waren, um Litauen zu befreien von Gewalt und Ungerechtigkeit, warum taten sie so etwas, warum vernichteten sie unschuldige Menschen? Es ist schwer, sich das mühselige Leben meiner Eltern als Getreidebauern im Kampf um das notwendige Brot vorzustellen ... Was sind denn das für - Volksfeinde?!

Und das Leben lief seinen Gang. Das Volk im Lager starb, so wie im Herbst die Blätter von den Bäumen fallen. Alle meine Nachbarn aus der Umgebung von Skudutischkis (ein kleiner Ort in Litauen) kamen um: Lukoschjawitschus, Pinkjawitschus, Sawizkas, Lauzjus: meine Studienfreunde: Rinkjawitschus, P. Morkunas, Tuskjanis, Rusgas; bekannte Lehrer-Kollegen:

Kanapjazkas, I. Morkunas und viele, viele mehr oder weniger Bekannte. Und ich lebe immer noch. Männer, die kraftvoll wie eine Eiche gewesen waren, hochgewachsene, kräftige Recken, kamen ums Leben, und ich, der ich nur ein Mittelmäßiger bin, halte immer noch durch. Was in mir das Leben erhält – ich verstehe es selber nicht.

Längst ist die Wachmannschaft abgelöst worden. Junge Soldaten, mit denen wir eigentüm-licherweise gegenseitiges Verständnis empfanden, die sahen, daß sie hier nicht einfach irgendwelche Blutsauger und Faschisten bewachten, wie die Lagerleitung es ihnen erklärt hatte, waren schon längst an die Front gegangen. Ihren Platz nahmen mobilisierte Alte ein, die merkwürdigerweise viel grausamer und grober waren. Offenbar bemühten sie sich, mit diesem Verhalten der vordersten Linie an der Front zu entkommen.

In der Pferdebrigade arbeitete ein hübscher Bursche namens Milaschjus. Er zog mit seinem Pferd Holzbalken zum unteren Holzlager. Einmal, bei starkem Frost, als er sich am Feuer wärmte, geriet das Pferdchen, das er unbeaufsichtigt zurückgelassen hatte, unter eine Rangier-Lok. Das war etwas Unvorhergesehenes! Vor lauter Schreck versteckte Milaschjus sich. So fand man ihn denn bei Schichtwechsel auch nicht. Heißt das er ist geflohen? Am Abend ging ich kurz in den Lager-Friseurladen, wo mein Kamerad R. Streltschunas arbeitete. Hier arbei-tete man im Warmen, man konnte sich etwas hinzuverdienen, und manchmal teilte der Freund auch mit mir die Krümelchen von Almosen. Der Hundeführer Iwanow stürzte in den Raum.

„Rasieren und frischmachen!“ - kommandierte er. Weder die Rasur noch das Frischmachen kosteten ihn etwas – das Kölnischwasser sollte vom Friseur selbst zusammengestellt werden – sieh zu, wo du es herkriegst. Wenn du mich nicht erfrischst, dann kannst du dich demnächst bei Kolonnenarbeiten selber erfrischen.

Nachdem er rasiert und „erfrischt“ war, verkündete Iwanow stolz:

„Heute habe ich deinen Landsmann niedergeschossen. Erst bringt er das Pferd um und dann haut er auch noch ab. Ich habe den Hund hinter ihm her gehetzt. Er sagte, er hätte sich im Lager Nr. 5 verstecken wollen, viel vor mir auf die Knie, flehte um Gnade, aber ich habe ihn, damit es allen eine Lehre ist, fertiggemacht". Die Häftlinge, die man als Träger eingestellt hatte, erzählten, daß sie Milaschjus an der Stelle, an der die Exekution stattgefunden hatte, nicht fanden. Darüber erschrak selbst Iwanow. Es stellt sich heraus, daß er – schwer verwun-det – noch hunderte von Metern weitergekrochen war und vor seinem Tode ein Stückchen Brot geknabbert hatte, das er sich fürs Mittagessen zurückgelegt hatte. Und so lag denn der arme Kerl, hingeworfen am Wachhäuschen und hielt ganz fest ein zusammengedrücktes Stückchen Brot in der Hand.

Die Waagschale begann sich auf die Seite des Sieges zu neigen.

Jetzt verbargen sie keine Zeitungen vor uns; wir konnten sie in der Kultur- und Erziehungs-stelle frei lesen. Eine neue Lebensweise durchzog den Lageralltag: sogar die Häftlinge nahmen den Geschmack von Eierkuchen aus amerikanischem Eierpulver, Trockenmilch und kanadischem Mehl wahr. Aus Säcken, die eigentlich für Weizen gedacht waren, wurden Sommerkittel genäht, in erster Linie für die im Lagerdienst beschäftigten freien Mitarbeiter.

Irgend jemandem da oben war klar geworden, daß das verwüstete Kriegsgebiet wieder mit Menschen besiedelt werden mußte. Zu diesem Zweck oder zur Erhöhung der Arbeitsproduk-tivität wurden im KrasLag Gesundungspunkte (OPs) geschaffen. In einen dieser OPs, unweit Nowy Ingasch, gelangte auch ich im Jahre 1944. Dorthin ließ man nur junge, gesunde, aber entkräftete Gefangene, mit dem Ziel, sie nach ein paar Monaten, wenn ihre Kräfte wiederher-gestellt waren, erneut zum Holzeinschlag zu schicken.

In einen OP zu gelangen bedeutete für den Häftling das höchste Glück. Es stimmt zwar, daß du auch hier nicht satt wirst, aber man braucht wenigstens nicht zur Arbeit gehen. Die Ernährung sah beispielsweise so aus: zum Mittagessen gaben sie 0,5 l Suppe und 250 gr Brei, meistens aus Hafer, aus, ein Stückchen gesalzene Flunder oder ein winziges Eierküchlein aus amerikanischem Eipulver, und manchmal einen Fladen aus kanadischem Weizenmehl.

Die „Erholungsuchenden“ besaßen das Vorrecht einer passiven Erholung, hatten aber auch ein breites Angebot an Möglichkeiten für einen Zusatzverdienst in Form von Naturalien – im Magazin, in der Küche, in der Bäckerei oder dem Gemüselager. Natürlich begriff jeder, daß ihn nach seiner Genesung wieder die Zwangsarbeit erwartete. Es wäre besser auf der Stufe der Halbkrepierten stehen zu bleiben und die Tage in diesem Lager als Invalide zu fristen. Aber das unerbittliche Hungergefühl verwarf derartige Gedanken wieder. Bereits am dritten Tag ging ich mit der Nachtschicht hinaus, um Kartoffeln zu ernten. Für diese Arbeit erhielten wir ein paar gekochte Kartoffeln. In Ergänzung dazu aß ich in der ersten Nacht 32 rohe.

Aus den gefrorenen Kartoffeln wurde die Stärke herausgepreßt, auf der Straße, beim Lager-haus, lagen die ausgepreßten Abfälle. Daraus buk man in der Baracke unglaublich schmack-hafte Pfannkuchen.

Hier traf ich in seinem Amt einen Boten des Lagerstabes, den sechzig Jahre alten, ehemaligen litauischen Bildungsminister, Professor K. Pakjanis, der mehrere Sprachen beherrschte und bis zum heutigen Tage in seinem Vorkriegsmantel, mit einem Seil als Gürtel, herumlief, und den ersten Präsidenten Litauens, A. Stulginskis, der 1920 mit Sowjet-Rußland an der Unter-zeichnung der Lenin-Vereinbarung über die Anerkennung Litauens als Staat mitgewirkt hatte. A. Stulginskis’ Pflicht bestand darin, in der Ausgabestelle Brot für die Invaliden-Brigade entgegen zu nehmen. Nachdem er die Brotrationen mit kleinen Zugaben akkurat in einen speziellen Kasten gelegt hatte, sammelte er mit der Hand die Krümel von der Tischplatte und steckte sie langsam, als wenn dies eine heilige Handlung wäre, in den Mund. Ein trauriges Bild!

Wie ein leuchtender Traum verflogen die zwei Monate im Gesundungspunkt. Und da geht es auch schon wieder auf Etappe, und ich befinde mich im Lager Nr. 3, in Lebjasche, beim Holzsägen. Irgendwo, nicht weit entfernt, im Lager Nr. 7, Rewutschij, begann mein Gang nach Golgatha. Die Arbeit beim Holzsägen gehört auch nicht gerade zu den leichten. Hier erlebten wir das Ende des Krieges. Viele hofften, daß es nach dem Sieg für alle leichter werden würde. Man hoffte, daß die Armee, nachdem sie kulturvolle europäische Staaten gesehen hatte, nun ihr Wort dazu sagte. Aber nichts änderte sich, weder die Arbeitsbelastung noch das Haftregime. Erneut magerte ich ab. Man bereitete sich auf eine neue Etappe vor. Zuvor mußten wir an einer Ärzte-Kommission vorbeigehen. Da stehst du nackt in einer Reihe, und wenn nach dem Kneifen in die Hinterbacken die Muskeln wieder in ihre Ausgangslage zurückkehren – dann bist du tauglich, wenn eine hervorstehende Abdruck zurückbleibt, dann hattest du schwere Mangelerscheinungen aufgrund unzureichender Ernährung. Ich wurde für tauglich erklärt und mit der Eisenbahn nach Norden geschickt, ins Lager Nr. 9, in den Bezirk Pokonajewka. Das ist ein neues Lager – die Baracken aus frisch gefällten Baumstämmen, die nach Harz rochen. Es war im vergangenen Jahr mit dem Schweiß der Arbeitsarmee errichtet worden, die sich aus Wolgadeutschen zusammensetzte. Na, und nun brachte man alle mög-lichen Leute hierher, angefangen mit Ungarn und endend mit Japanern. Hier gab es ebenfalls Wlassow-Anhänger, West-Ukrainer, litauische Landsleute sowie Chinesen. Na, und weshalb waren sie hier? Ich interessierte mich dafür zu erfahren, weshalb sie hier saßen – und es stellte sich heraus, daß es wegen des berüchtigen §58 war! Sie erklärten das so: „Du redest zuviel“ – antisowjetische Agitation, „du sagst zuwenig“ – Spionage.

Im Jahre 1947 brachte man Neue, die schuldig befunden worden waren „Interpatrianten“ zu sein. Das waren ehemalige sowjetische Kriegsgefangene, die wie durch ein Wunder die deut-schen Konzentrationslager überlebt hatten und anschließend durch das Spiel des Schicksals in alle Ecken des Landes verstreut worden waren. Viele von ihnen lebten sich dort ein, fanden Arbeit, gründeten Familien. Nach dem Krieg, wurden sie von quälendem Heimweh verzehrt und nachdem sie sich von den sowjetischen Repatrianten-Kommissionen hatten überreden lassen, kehrten sie in die Heimat zurück, und da erfuhren sie, daß sie nun als Verräter dastan-den und nicht weniger als 10 Jahre Lagerhaft erhalten würden. Mein Helfer an der Säge, Birjukow, kam nach Reschoty ... aus der Südafrikanischen Republik.

Aber, was ist schon Südafrika?

Nach dem Tode meiner Eltern wurde meine Ehefrau, als Alleinstehende, in die Arbeitsarmee mobilisiert. Sie fuhr nur wenige Kilometer von mir entfernt Richtung Osten und geriet nach Komsomolsk am Amur, wo sie auch den ganzen Krieg hindurch bei der Holzbeschaffung arbeitete.

In letzter Zeit habe ich gar keinen Brief mehr von ihr bekommen. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Und plötzlich – kommt da doch ein Brief! Nach dem Ende des Krieges wurde die Arbeitsarmee aufgelöst, meine Frau fuhr aufgrund der Demobilisierungsbefehls nach Litauen und unterrichtet bereits wieder. Meine Onute ist in Freiheit,im heimatlichen Litauen! Wundervoll. In einem anderen Brief verspricht sie, daß sie mir helfen will, sobald sie etwas Geld gespart hat. Und dann wieder ein langer Zeitraum ohne Briefwechsel. Schließlich, nach einem halben Jahr, kommt ein Brief von den verwandten: Onute sitzt im schaulaisker Gefängnis. Nach einiger Zeit erneut eine Nachricht: wegen "illegaler" Rückkehr nach Litauen wurde sie zu 3 Jahren verurteilt. Es stellte sich heraus, daß die Behörden ihr klargemacht hatten, daß ihre Heimat von jetzt ab nicht mehr Litauen war, sondern ... das Altaj-Gebiet, Kasachstan, Sibirien - und man schickte sie zum Graben des Wolga-Don-Kanals ins Lager.

Es scheint, als wollen die Ungerechtigkeiten und Mißhandlungen kein Ende nehmen.

Daß sie einen solchen Kanal bauen, das erzählte mir der Lagerveteran Alexander Wladimirowitsch Polissanow, Häftling ab 1937.

Der hochgewachsene, langnasige Alte machte einen strengen Eindruck. Er war Leiter der sogenannten URB (Registrierungs- und Verteilungsstelle). Man spürte die Erfahrung eines Kanzlei-Bürokraten und einer bekannten Autorität - mit ihm bereit sich auch die Lagerleitung. Wir kamen einander näher; er erzählte mir von seinem Leben. Zaristischer Offizier, den ganzen 1. Weltkrig verbrachte er mit Soldaten in Schützengräben. Im Jahre 1917 lief er auf die Seite der Revolution über. Dann Dienst bei der Tscheka und Vorrücken auf der Dienst-leiter bis hin zum Leiter der Verwaltung für Innere Ordnung und Bewachung von Verhafte-ten in Lagern. Das heißt, daß er sich zusammen mit wenigen Mitkämpfern die Lager ausge-dacht und Regeln für die innere Lagerordnung ausgearbeitet und verwirklicht hatte. Er leitete unmittelbar die Organisation der Häftlingsbewachung beim Bau des Weißmeerkanals, des Wolga-Moskau-Kanals, beim Beginn des Baus der Petschersker Eisenbahnlinie und bei der Errichtung von Lagern in der Republik Komi. Mit einem Wort, er wußte auswendig, mit wievielen Menschen jeder einzelne Quadratmeter beim Weißmeerkanalbau begelegt ist, wieviele Menschen unter jeder einzelnen Schwelle der Petschersker Eisenbahnlinie liegen. Und ich begriff,in was für einen Fleischwolf meine Ehefrau da erneut hineingeraten war ...

Polissanow selbst saß ab 1937 in Lagern und nachdem er infolgedessen seine Zähne une seine Gesundheit eingebüßt hatte, war er gezwungen, alle Protokolle des Untersuchungsführers zu unterschreiben. Er beklagte, daß sein einziger Sohn sich von ihm losgesagt hätte und er nun, an der Schwelle zur Frei heit, ganz allein dastünde und nicht wüßte, wohin er gehen sollte. Ein anschauliches Beispiel dafür, wie ein Mensch Opfer des Regimes wurde, welches er selber geschaffen und großgezogen hatte. Und als Folge davon wurde er von diesem Regime schonungslos gestochen und gebissen, ungeachtet aller Bekanntschaften und des Veteranen-Status des Häftlings, so wie ein tollwütig gewordener Hund seinen Herrn beißt.

Wie ich bereits gesagt habe, wurden in den Lagern viele Jahre lang politische Häftlinge zusammen mit Kriminellen gefangen gehalten. Der Terror, den die Kriminellen gegenüber den Politischen ausübten, war eine der Methoden von Seiten der Verwaltung den Willen zu brechen und die nach §58 Verurteilten zu demütigen. Auch wir, die Litauer hatten unter den Berufsverbrechern zu leiden, besonders in den ersten Jahren der Haft. Aber nach dem Krieg änderte sich die Situation. Die Lager füllten sich mit Politischen - ehemaligen Frontkämpfern, Menschen, die durch Wasser und Feuer gegangen waren. Diese Menschen traten nun der Übermacht der Berufsverbrecher entgegen. In einer ganzen Reihe von Lagern, darunter auch das KrasLag, rollte eine Welle blutiger Zusammenstöße.

Bald setzten Reformen ein: aus den Lagern mit gewöhnlicher Haftordnung wurden alle Politischen in Lager mit verschärftem Regime verlegt. Den Politischen des KrasLag stand nun bevor, in die Lager von Karaganda "überzusiedeln". Und so schickten sie auch den siebzig-jährigen A.W. Polissanow, der sich offensichtlich um den Gulag verdient gemacht hatte und der nach einer schweren Operation, die erst wenige Tage zuvor durchgeführt worden war, kaum noch am Leben war, auf Etappe. Auf einer Bahre brachte man ihn zum Lagertor. Der Chirurg Kotschetkow sagte: "Bis Karaganda hält der nicht durch. Das ist Polissanows letzter Gefangenentransport". Ja, so ist das mit dem Gulag-Regime.

Durch unser Lager, das Lager derer, die zu Zwangsumsiedlern geworden waren, liefen in diesem Jahr politische Häftlinge aus beinahe dem gesamten KrasLag. Nachdem ich nicht ohne die Hilfe Polissanows gegen Ende der Haftstrafe eine Arbeit in der Registrierungs- und Ver-teilungsstelle bekommen hatte, besaß ich die Möglichkeit die Abrechnungen zu machen und rechnete aus, daß zum Ende unserer zehnjährigen Haftstrafe von den 1941 verhafteten Litauern nur 14-16 % am Leben geblieben waren.

Es näherte sich auch der Tag meiner Freilassung. Freute ich mich darauf? Nein! Vor mir lag die ewige Verbannung. Ein Fachausdruck, der im Urteil der Sonder-Beratung nicht näher angegeben worden war. Die Eltern waren irgendwo in den Vorgebirgen des Altaj gestorben. Sogar die Gräber sind nicht erhalten geblieben. Meine Frau sitzt im Lager und gräbt den Wolga-Don-Kanal aus. Wohin sie mich verbannen ist nicht bekannt. Was soll ich anfangen, wo unterkommen?

Der 9. Februar 1951 brach an. Obwohl ich mich mit drei weiteren Landsleuten bereits hinter der Lagerzone befand, war trotzdem sogleich ein Wachsoldat zur Stelle. Wir folgen ihm zur Station Reschoty, wo wir in Stolypin-Waggons geladen werden; und da bin ich auch schon im Krasnojarsker Gefängnis, in der überfüllten Zelle Nr. 9. Das ist also die Freiheit, das ist also das Ende deiner Freiheitsstrafe. Hier sinken selbst dem allergrößten Optimisten die Hände zu Boden. Hier mußte ich mich nur ein paar Tage kümmerlich durchschlagen, und in den schlimmsten Februarfrosttagen, nahm ich Abschied von Krasnojarsk und wurde inmitten von tausenden Leidensgefährten auf einen neuen, unbekannten Gefangenentransport des stalin-schen Fleischwolfes geschickt, in die kalte, verhaßte Verbannung.

Text aus der Zeitschrift "Pjargale".


Zum Seitenanfang