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Fjodor Konstantinowitsch (Gustavowitsch) Langeld

Fjodor Konstantinowitsch (Gustavowitsch) Langeld (1902-1976)
Agronom- Züchter
Geburtsjahr 1902. — Großvater: I.P. Larionow, – Komponist. Autor von «Kalinka». Eltern: Gustav Langeld und Olga Iwanowna Larionowa, – Teilnehmer im Revolutionskampf, wurden in die Stadt Slobodskoj, Wjatsker Gouvernement, ausgesiedelt, 1903–1904 aus der Verbannung nach Saratow, den Geburtsort, zurückgeschickt.
1910 (?) — Beginn des Unterrichts am Saratower Gymnasium.
1919. — Beendigung der Schule.
1919 –1926 (1927). — Ausbildung am Saratower Landwirtschaftlichen Institut für den Beruf des Agronomen und Züchters.
1929. — Erster Direktor der Landwirtschaftlichen Versuchsstation Stalingrad.
1930. — Heirat. Ehefrau – Sinaida Aleksejewna Antonowa (1911–1996), Ehename Langeld.
1931. — Geburt von Tochter Olga in der Stadt Kamyschin.
1936. — Promotion in den Agrarwissenschaften.
1930-er. — Stellvertretender wissenschaftlicher Direktor an der Landwirtschaftlichen Versuchsanstalt Stalingrad. Nachfolger und Schüler von N.I. Wawilow. Parteilos. Mitglied bei den Beratungen des Gebietskomitees für Landwirtschaft.
1937, 4. Juli. — Verhaftung. Überfüllte Zelle des inneren Gefängnisses der NKWD-Behörden in der Stadt Stalingrad. Tägliche Verhöre von jeweils 18 Stunden Dauer, Forderung seine Schädlingstätigkeit zuzugeben.
1937, 2. September. — Beginn der Verhöre dritten Grades (mit Prügeln), Übergang zur «Fließband»-Verhör-Methode. Um sich vor Verstümmelungen zu bewahren, dem Meineid, dass er in einer nicht existierenden landwirtschaftlichen Zeitschrift einen nicht existierenden Artikel geschrieben haben sollte, indem er sich gegen einige Thesen Kyssenkos und Wiljams geäußert hätte.
1937, Mitte Dezember. — Verlegung in einer Einzelzelle.
1938, 18. Januar. — Aushändigung der Anklageschrift nach § 58, Punkt 1, 6-11.
1938, 19. Januar. — Gerichtsverhandlung einer «Troika» des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR. Urteil – 10 Jahre Erziehungs-/Arbeitslager und 5 Jahre Entzug aller Rechte. Das Urteil ist endgültig, es kann keine Berufung eingelegt werden. Von 523 Personen, die im Gebiet in Sachen «Schädlingstätigkeit im landwirtschaftlichen Bereich» verurteilt worden sind, bewahrte die Gerichts-«Troika» lediglich 40 Verurteilten das Leben.
Etappe nach Kolyma. Nagajew-Bucht. Arbeit im Blei-Bergwerk. Kommt völlig entkräftet ins Krankenhaus der Siedlung Nischnij Sejmatsch, Gebiet Magadan, wo er von Rebekka Grigorewna Rubina, einer zivilen Ärztin, gerettet wurde. Leben in einem Raum, zusammen mit dem gefangenen Biologen Olchowskij.
Ab 1941 (1942). — Leitung des handgeschriebenen Almanachs «Katzenhaus»: Gedichte, Prosa, Essais, Nachahmung großer Dichter, Oden an die Freilassung von Lager-Freunden (das Original befindet sich im Archiv des «Memorial»). Nach seiner Freilassung Abreise aufs Festland.
1947, Dezember. — Freilassung.
1948. — Umzug in einen Moskauer Vorort. Bestehen der externen Prüfung zum Sanitäter. Arbeit als Sanitäter in der Siedlung Balabanowo.
1949. — Erneute Verhaftung. Verbannung in die Region Krasnojarsk, Arbeit beim Holzeinschlag.
Vorladung seiner Ehefrau in die Lubjanka, die «unter Beobachtung» der Staatssicherheitsorgane gestellt wird.
1950. — Arbeit als Leiter der Sanitätsstelle in der Siedlung Oktjabrskij im Nischne-Ingaschsker Bezirk, Region Krasnojarsk. Ankunft der Ehefrau, die in der Sanitätsstelle eine Arbeit als Sanitäterin aufnimmt.
1954. — Freilassung. Rehabilitation. Rückgabe des Studiengrades.
1957–1963. — Arbeit in der Saratow in der Filiale des Instituts für Ökonomische Landwirtschaft.
1964–1976. — Tätigkeit am wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Landwirtschaft des südöstlichen Wolgagebiets.
1970-år Jahre. — Beginn des Aufzeichnens seiner Erinnerungen auf Wunsch der Verwandten. Schriftwechsel mit M.S. Gaj-Gulina (Freundin aus der Kindheit), die in Moskau lebt.
1976. — Tod des Fjodor Konstantinowitsch Langeld.
1990-år Jahre. — Rehabilitation von S.A. Langeld.
Danksagung
Wir danken Olga Fjodorowna Drowenkowa, der Tochter von F.K. Langeld, und Jekaterina Jewgenewna Stukaturowa, seiner Enkelin, für die zur Verfügung gestellten zusätzlichen biografischen Angaben und Fotos.


O.F. Drowenkowa beim Durchblättern des «Katzenhauses»

Vor mir liegt ein altes, mit der Zeit abgegriffenes Heft, auf dessen Umschlag die Hand meines Vaters einen Kater mit weisen und voller Arglist dreinblickenden Augen gezeichnet hat. Und ich kehre sofort zum Tag des 4. Juni 1937 zurück… Beinahe 70 Jahre sind vergangen, aber ich kann mich an alles, was damals geschah, erinnern als sei es erst gestern gewesen. Jede Einzelheit hat sich in meine kindliche Erinnerung eingeprägt, und ich werde sie niemals vergessen können…

Die Stalingrader Steppe, Hitze. Vater und ich kehren von der Wolga zurück. Mama und die Schwester sind im Stadttheater. Ganz deutlich sehe ich die Gesichter der vor mir, die ihn verhaftet haben. Der Vater begriff offenbar sofort, er schickte mich zum Zähneputzen. Dann verabschiedete er sich von mir und verschwand… Er verschwand aus meinem Leben für lange zehn Jahre. Am Morgen des nächsten Tages erfuhren Mama und ich, dass der Vater aufgrund des «berühmten» § 58 verhaftet worden war. Sie warfen ihm in ihrem Wahn etwas vor, das er niemals begangen hatte und als Mann mit gesundem Menschenverstand auch nicht hatte begehen können.

Mein Vater Fjodor Konstantinowitsch (Gustavowitsch) Langeld wurde 1902 in einer deutsch-russischen Familie in der Stadt Saratow geboren. Vor seiner Verhaftung 1937 war er als stellvertretender wissenschaftlicher Direktor an der landwirtschaftlichen Versuchsstation in Stalingrad tätig. 1936 wurde ihm für seine Arbeit der Titel eines Kandidaten der Agrarwissenschaften verliehen. Er führte Forschungen an Sorghum-Hirse, Melonen- und Kürbisgewächsen sowie Bodenfruchtbarkeit durch. Er wurde oft in periodisch erscheinenden Zeitschriftenausgaben abgedruckt, war Nachfolger und Schüler von N.I. Wawilow.

Sein Großvater mütterlicherseits – der Saratower Komponist Iwan Petrowitsch Larionow, der das Lied «Kalinka» schrieb und eine Reihe von Romanzenschrieb. Er war ein hervorragender Musikkritiker. Seiner Tochter und, über sie, der Enkelin, vermachte er die Liebe zur Literatur und Musik. Der Vater kannte zahlreiche Gedichte, hörte oft Opern (die geliebte «La Traviata» - 31 Male!). Er sammelte Schallplatten mit Aufzeichnungen geliebter Opern, Operetten und Lieder. Und in einem einzigen Augenblick erstarb alles, das gesamte wohlgefügte Leben rollte den Abhang hinunter…

Er gerät an die Kolyma, in die Bucht von Nagajewo, ins Blei-Bergwerk. Dort wurde er zum «Dahinsiechenden», kam ins Krankenhaus. Hier arbeitet die Zivil-Ärztin R.G. Rubina, eine außergewöhnlich herzliche Frau. Ohne Angst vor den lokalen Behörden brachte sie die Intelligenz ins Krankenhaus (in dem nur ein rechtloser Gefangener eine Chance aufs Überleben besaß) – einen Agronomen, einen Biologen, den Direktor des russisch-amerikanischen Filmvertriebs und viele, viele andere. Später entstand in der Siedlung Nischnij Sejmatsch im Gebiet Magadan ein sehr starkes medizinisches Kollektiv aus Häftlingen und freien Zivilmitarbeitern – der Häftling und Oberarzt des Krankenhauses W.M. Swerew (ehemaliger Professor an der Leningrader militär-medizinischen Akademie), der gefangene Professor I.A. Toporkow, die freie Mitarbeiterin R.G. Rubina und viele andere, darunter auch mein Vater, der vom Agronom und Züchter zum Rettungssanitäter umschulte; sie alle bewiesen eine hohe Professionalität. Das war auch besonders wichtig, denn über Nischnij Sejmatsch verlief die Fluglinie von Kanada in die UdSSR, mit Lieferungen nach dem Leih- und Pachtgesetz, und die verwundeten Piloten mussten behandelt und gepflegt werden.

Nach harter Arbeit kamen viele von ihnen ans «Feuerchen» in den engen Raum beim Krankenhaus, in dem mein Vater und der Biologie-Wissenschaftler D.S. Olchowskij lebten. Anfangs nannte man dieses Zimmer «Katzenhaus». Um von all den Absurditäten, dem Grauen, die mit ihnen geschehen waren, nicht den Verstand zu verlieren, versuchten die Häftlinge sich gegenseitig mit Scherzen, Gedichten, Essays, satirischen Erzählungen, Fabeln aufzumuntern. Vater sammelte das alles in einem Almanach, der später «Katzenhaus-Almanach» genannt wurde.
In dem Sammelband gab es jede Menge Nachahmungscharakter, groben Männerhumor, lyrisch-romantische Gedichte – alles, was einem die Möglichkeit verschaffte zu überleben und nicht die menschliche Würde zu verlieren.

In der Siedlung Stille, am Rande
Steht eine Chawirka beim Krankenhaus,
Und in ihr leuchten wie im Paradies
Glückliche Gesichter.
Dem bösen Schicksal zum Trotz
Bin ich in ihr dem Gemetzel entkommen.
Das Haus hat uns beherbergt. Seit dieser Zeit
Nannte man es stolz «Das Katzenhaus».
Ich habe mich in die müde Seele verliebt
Und den Lärm von Freunden und die Gedanken der Kinder,
Und den unbeschwerten Spaß,
Und ich werde dir selbstangebauten Machorka-Tabak geben.
(«Katzenhaus», 1945)

Im Dezember 1947 wurde Vater freigelassen. Er traf in einem Moskauer Vorort ein, arbeitete ein Jahr als Sanitäter in der Siedlung Balabanowo, wo wir uns nach elf Jahren Trennung wiedersagen.
Doch schon bald setzten erneute Verhaftungen ein, und 1949 wurde er zur «Ansiedlung für immer» in die Region Krasnojarsk verbannt.

Der arme Kerl hat seine Haftstrafe abgesessen –
Er ist erneut hinter Schloss und Riegel.
Wir haben kein anderes Schicksal:
Und es gibt weder ein Hier noch ein Dort.
Wir warten auf die Abschiebung, wie im Paradies,
In die ruhmreiche Region Krasnojarsk.
Obwohl wir von da
Weder hierhin noch dorthin fahren können.
(«Der Marsch der Wiederholer», 1949)

1950 fuhr Mama zu ihm, die während des Krieges als Krankenschwester gearbeitet hatte. Der Vater leitete die Sanitätsstelle in der Siedlung Oktjabrskij mit 17 Häusern, in denen verbannte Litauer und West-Ukrainer wohnten. Einmal im Monat, musste er 40 km weit, oft durch unwegsames Gelände, gehen, um sich beim Bevollmächtigten des KGB zu melden.

Und in all diesen Jahren hatte er das «Katzenhaus» immer bei sich und vervollständigte es mit seinen eigenen neuen Versen oder Gedichten, die von seinen Freunden mit der Post eintrafen.

1954 wurde Vater rehabilitiert, man gab ihm seinen akademischen Grad zurück. Er nahm seine landwirtschaftliche Tätigkeit wieder auf, arbeitete bis zum Schluss am Institut für Getreidewirtschaft im Südosten des Wolga-Gebiets. In all den Jahren trennte er sich nicht von seinem «Katzenhaus», füllte es weiter mit seinen Versen und Reaktionen auf verschiedene Familien-Ereignisse und Geschehnisse im Leben der Freunde unserer Familie. Nach seinem Tod, der 1976 eintrat, setzte meine Mama die Tradition des Gedichteschreibens, die verschiedenen Daten gewidmet waren, fort. Einige von ihnen erschienen auch auf den Seiten dieses für unsere Familie so einzigartigen Almanachs.

Oft, wenn ich zu Hause sitze, blättere ich die mit der Zeit vergilbten Seiten des «Katzenhauses» durch, und es kommt mir so vor, als ob ich die Stimme meines Vaters, seiner Freunde höre, von denen ich viele gekannt habe. Für mich bedeutet dieser Almanach – ein Zeugnis für die Unsterblichkeit der Seele meines Vaters und der Menschen aus seiner Generation, die in einer schwierigen Zeit in unerträgliche Bedingungen gerieten und trotz allem ihren Sinn für Humor bewahrt haben, ohne den es nicht möglich gewesen wäre, das alles zu ertragen.

Ich glaube, dass der Inhalt des Almanachs meinen Töchtern und Enkeln helfen wird, jegliche Unbilden des Lebens zu überwinden.

O.F. Drowenkowa. Beim Durchblättern des «Katzenhauses» // Zeitung «30. Oktober».- 2000. – ¹ 3.
Die Computer-Datenbase "Erinnerungen an den GULAG und seine Autoren" wurde vom Sacharow-Zentrum zur Verfügung gestellt.
Die Regionale öffentliche Organisation «Öffentliche Kommission zur Erhaltung des Erbes des Akademikers Sacharow» (Sacharow-Zentrum) wurde mit Beschluss des Justiz-Ministeriums der Russischen Föderation vom 25.12.2014, ¹1990-r in s Register der Organisationen aufgenommen, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen. Gegen diesen Beschluss wird vor Gericht Berufung eingelegt.

 


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