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Brief von P.B. Ljachowskij

Guten Tag, Wladimir Georgjewitsch!

Ihren Brief habe ich erhalten und weiß nicht, ob ich ihre Fragen beantworten kann. Das ist eine sehr schwierige Geschichte, aber ich werde trotz meines Halbanalphabetentums versu-chen, ihnen etwas mitzuteilen. Ich beginne am Ende.

Die Siedlung Ujar befindet sich am Flüßchen Kowa, 24 km von der Mündung des Flusses entfernt; 13 km weiter flußaufwärts das etwas oberhalb von Ujar gelegene Dorf Sidowa, noch 27 km weiter Prokopjewa und 37 km entfernt das Dorf Kostina – und noch weiter oben das letzte Dörfchen Karamyschewo, bestehend aus 13 Hausbesitzern – und das ist 60 km von Kostina entfernt. Das ist also die Besiedlung des Flüßchens Kowa.

Zweite Frage. Die Mine Tschajjurja befindet sich etwa 600 km von Magadan antfernt, am Kolyma-Trakt. Die Tschajjurinsker Verwaltung befand sich in der Siedlung Neksikan, von Neksikan, in 12 km Entfernung, die Mine Bolschewik, dann 3 km weiter – Tschkalow und nochmal 3 km weiter – Tschajjurja, weitere 3 km – Komsomoljez und die letzte – Frolytsch.

Diese Minen am Flüßchen Tschajjurja wurde das Tal des Todes genannt. An der Mine

Tschajjurja gab es 5 Lagerstützpunkte. Bei meiner Ankunft kam ich zum 1. Lagerpunkt; zum 4. Lagerpunkt gingen die Gefangenen ohne Begleitwachen in den Schacht, ans Ende der Abbaustrecke, und der 5. war ein Straflagerpunkt mit Bewachung. Also ich wurde wegen Nichterfüllung der Arbeitsnorm zum Straflagerpunkt geschickt.

Hinter diesem Lagerstützpunkt gab es eine Leichenhalle, wo sie die Toten hintrugen. Dort wurden, dem Lagergesetz folgend, Fingerabdrücke genommen, den Leichen ein beschriftetes Schildchen an den Fuß gebunden und sie dann zum Hügel gebracht, wo Gruben ausgehoben wurden. Dort wurden sie ohne Unterwäsche verscharrt, man nahm ebenfalls Fingerabdrücke, damit nicht versehentlich Iwan anstelle von Stepan beerdigt wurde, denn Fingerabdrücke gab es auch von jedem noch lebenden Häftling.

Am Straflagerpunkt lächelte mir noch das Glück entgegen. Wir gingen mit Begleitwachen in den Schacht, und die Soldaten hielten uns nicht eine einzige Minute bei der Arbeit fest, nachdem die Sirene ertönt war. Die nicht mehr unter der Bewachung von Begleitsoldaten standen, wurden noch fortgejagt, um Brennholz für die Küche zu holen, und die, die bewacht wurden, hetzte man ins Lager zurück – und damit war der Tag zuende.

Und zum Herbst hin mußte man in den Zelten Öfen aus Fässern aufstellen und die Zelte von unten abdichten. Ich besaß außergewöhnliche Fähigkeiten als Klempner und begann im Lager Rohre neben der Küche zu verlegen. Ich baute mir eine Werkbank, verschaffte mir eine Eisenschere und fing an, Klempnerarbeiten zu verrichten.

Wir schliefen in Zelten, auf Stangen-Pritschen, denn die Bretter benötigte man im Schacht – um die Schubkarren mit Gesteinsbrocken darauf vorwärtszurollen. Ich fing an auf dem Küchenfußboden zu schlafen, dort war es auch warm, und der Koch füllte mir immer eine Schöpfkelle voll Balanda (wässrige Suppe; Anmerkung der Übersetzerin) über die Norm hinaus ein. Einmal fragt mich ein Wachsoldat: „Kannst Du nicht vielleicht auch eine Ziehar-monika reparieren?“ (damit hatte ich mich zuhause beschäftigt). Ich sage ihm: „Ja, das kann ich. Aber ich brauche Werkzeug“. Er hat mir alles hingebracht: eine Feile und verschiedenes Material, damit das Instrument wieder richtige Töne von sich gab. Und schon bin ich der Zieharmonika-Meister. In der Küche sagte der Soldat, daß man mich mit Lagerkost füttern sollte, bis ich einen Bauch bekommen hätte, und so hab ich mich wenigstens ein bißchen an

Mehlklößen sattgegessen. Später brachte mir der Lagerleiter ein Grammophon, ich brachte es in Ordnung; im Bad, in der Desinfektionskammer hatten sie die Uhrzeiger verbrannt– die habe ich auch wieder heilgemacht und das Zifferblatt abgebrannt. Ich bestrich es mit Kleister, häufte etwas Ruß auf und beklebte das Zifferblatt damit. Die Ziffern klebte ich mit Stroh auf, und aus Stroh bastelte ich auch die Aufschrift „Tschajjurja – 5. Lagerstützpunkt“.

Und da schickten sie im Winter unseren Lagerleiter fort, damit er ein Invalidenlager bauen sollte, und er holte 36 Leute von unserem Straflagerpunkt in die erste Brigade, die er von der Arbeit her kannte. Wir kamen dort an, 3 Kilometer von Neksikan entfernt, und fingen an, Baracken für Invaliden zu errichten. An dieser Lagerbasis wurde ein Industrie-Kombinat gebaut. Ich baute die Öfen, Rohre, Waschtröge und Waschbehälter. Hier war irgendwann mal eine Waldwirtschaft gewesen, und es gab ein paar Gebäude. Begleitsoldaten waren hier nicht. Der Leiter war ein guter Mensch. Er kleidete uns neu ein und sagte mir: hier wirst du auch deine Haftstrafe verbüßen. Und ich sage zu ihm: „Sie ist hoch, diese Haftstrafe“.

Aus der Krankenstation gelangten die Dahinsiechenden zu uns. Man richtete eine Tischler-werkstatt ein und fertigte Schubkarren Waschbehälter für die Minen an. Ich wählte einige der Halbtoten aus, und wir begannen für die Mine Schüsseln und Krüge herzustellen. Die Schusterwerkstatt nähte Stiefel, die Schneiderei Hosen, Hemden und gesteppte Wattejacken. Unser Kombinat bediente sämtliche Minen, die unter Tschajjurinsker Verwaltung standen. So arbeiteten wir, und plötzlich kam der schmutzige Krieg.

Wir bekamen 430 gr Brot, warme Verpflegung – einmal am Tag dünnflüssige Balanda. Nach und nach starben unsere Todeskandidaten dahin. Nach drei Monaten wurden wir von ursprünglich vier Baracken in eine einzige zusammengefaßt, und drei standen dann leer. Lange Zeit verpflegte mich der Koch Ochrowskij zusätzlich. Ich reparierte ihm eine Kirower Uhr, und er brachte mir unbedingt jedesmal, wenn er Lebensmittel beim Militärzug erhält, mal einen Laib Brot, mal 300 gr Butter oder Zucker mit.

Später hatte ich bereits eine Mechaniker-Werkstatt. Es waren drei Dreihmaschinen in Betrieb. Für den Kraftwagenpark stellten wir Material zur Sicherung von Baustellen her. Ich war inzwischen schon Leiter dieser Werkstatt. Es wurden gute Werkstätten gebaut. In meiner arbeiteten 60 Leute. Es kamen immer neue Leute – gleich hinter dem Fluß Krik befand sich die Krankenstation, das Lager-Krankenhaus, in das die völlig entkräfteten Todeskandidaten aus den Minen gebracht wurden. Dort wurden sie ein bißchen behandelt und kamen dann zu uns ins Invalidenlager. Sie standen nicht unter der Aufsicht von Begleitwachen. Nebenan das Flüßchen Berelech, in dem es viele Fische gab. Im Wald fand man Pilze und Beeren. Und hier lebten die Halbtoten sich 5-6 Monate ein. Sobald sie wieder tauglich waren Schubkarren zu fahren, wurden sie wieder zur Grubenarbeit fortgejagt. Nach einem Jahr war derjenige dann wieder kurz vor dem Abkratzen und kam erneut in die Krankenstation, und von dort zurück zu uns in den Invaliden-Lagerpunkt.

Im Winter herrschte strenger Frost. Dieser Ort war ja nicht so weit entfernt von Werchojansk, was damals als kältester Punkt der Erde galt. Wir zogen uns Unterzieh- und Matrosenjacken an, und für die Füße nähten wir aus Säcken, aus alten Wattejacken und Hosen eine Art Filz-stiefel, die Schuhsohlen aus Teilen von alten Gummireifen, welches man aus unbrauchbar gewordenen Reifenschläuchen herausschnitt oder ausriß. Vieles war eingefroren, denn die Temperaturen erreichten bis zu - 60 / - 65°C. Freie Tage gab es nicht, sie arbeiteten 12 Stunden lang, d.h. ein Tag und eine Nacht waren genau in zwei Schichten aufgeteilt.

Nun, als ich vom 5. Lagerstützpunkt aus auf Etappe geschickt wurde, waren uns von der 1. Brigade, als wir aus Magadan ankamen, von 50 Leuten noch 6 geblieben. Die übrigen waren auf den Hügel fortgegangen (umgekommen und verscharrt; Anmerkung der Übersetzerin), die meisten von ihnen waren sogenannte blatary (Gewohnheitsverbrecher; Anmerkung der Übersetzerin), also „Volksfeinde“, § 58-er. Bei mir in der Mechaniker-Werkstatt arbeiteten zwei Ingenieure als Schlosser. Der Familienname des einen, wie ich mich gerade erinnere, war Wartschenko, er kam aus der Ukraine, „Takmak“-Fabrik. Im Kombinat waren auch zwei Kapitäne auf großer Fahrt, die früher ferne Länder bereist hatten - Lenow und Besrodny. Letzterer war ein Freund Papanins, aber leider konnte jener ihm überhaupt nicht helfen.

Na ja, damals sagten die lese- und rechtschreibkundigen „Volksfeinde“, daß eine Zeit kommen würde, wo man über uns noch in den Zeitungen und in Büchern schreiben würde. Und so kam es auch. Wir sie das bloß erraten hatten. Also wenn Sie die Zeitschrift „Neue Welt“, Nr. 6, 1988 ausfindig machen sollten – darin schreibt Warlam Schalamow. Seine „Kolyma-Erzählungen“. Vieles aus seinen Erzählungen ist mir selbst bekannt. Er schreibt da auch über den jungen Ingenieur Arm, nach dessen Rapport der Brigadier wegen Nichterfül-lung seiner Aufgaben in der Kolonne erschossen wurde. Danach war Arm Leiter der Tschajjurinsker Verwaltung, und er hielt sich nicht nur einmal bei mir in der Werkstatt auf.

Außerdem gibt es in dieser Zeitschrift noch eine Erzählung Schalamows mit dem Titel „Der letzte Kampf des Major Pugatschow“. Diese Geschichte kenne ich sehr gut, wie er aus der Mine 11 Menschen fortbrachte. Alle konnte er bewaffnen. Sie erschossen viele Wachleute, kamen aber auch selber ums Leben. Nur einen griffen sie verwundet auf, behandelten ihn, bis er wieder gesund war, und all das nur, um ihn dann zu erschießen. Ich rate Ihnen, sich diese Zeitschrift anzuschaffen, es gibt viel Interessantes darin zu lesen.

Natürlich, sind da viele Fälle beschrieben, und der eine oder andere mag vielleicht für Sie nicht interessant sein. In der Keschmaer Untersuchungszelle saß der nach §58 verurteilte Sachrjapin aus dem Dorf Mosgowaja. Man hatte ihn deswegen verurteilt, weil er versehent-lich eine Büste Stalins fallen gelassen hatte, die dann zerbrochen war. Sie gaben ihm 8 Jahre. Ich erinnere mich auch noch an S.S. Stupin aus dem Dörfchen Krajnaja Kowinskaja. Auch er erhielt nach § 58 – 8 Jahre. F.I. Werchoturow arbeitete nach seiner Freilassung als Vorsitzen-der der Kossobyksker Kolchose und verstarb plötzlich und unerwartet im Jahre 1953. Ich mußte an seiner Beerdigung teilnehmen. I.M. Schestakow ist noch am Leben; 10 Jahre ist es her, seit sie seine Frau zu Grabe getragen haben, und er lebt jetzt bei seiner verheirateten Tochter in der Siedlung Nedokura, Kreis Keschma.

Bezüglich der völlig überfluteten Lastkähne schreibe ich folgendes. An der Strelka traf ich jemanden; wir unterhielten uns, und er sagte mir, daß er aus dem Dorf Ust-Kowa stamme, und ich erzählte, daß er der Vetter von Waska Simuljant sei. Dort bei uns in Ujar lebte Wassilij Viktorow, mit Spitznamen Simuljant. Der wurde Anfang 1938 mit vielen anderen Keschmarern verhaftet. Ich fragte ihn, was er über seinen Vetter wußte. Er sagte mir, daß sie aus Keschma nicht auf Lastkähnen abtransportiert worden waren, sondern mit Ilim-Booten, wie man die kleinen Schiffchen nannte. Und das Ilim-Boot war mit Menschen total überladen; wo das war, hat mich nicht genau interessiert und ich fragte nicht einmal. Vielleicht habe ich sogar seinen Nachnamen vergessen. Eines weiß ich aber, daß er eine Witwe heiratete und wohl in Strelka wohnt. Ich kenne auch ihr Haus, aber es ist ziemlich weit von dem Haus entfernt, in dem ich wohne, in der Koschewy-Straße.

Im Jenissejsker Gefängnis hatte ich innerhalb eines Jahres viele kennengelernt. Sie waren aus Sowrudnik. Sie brachten einen jungen Burschen, der arbeitete als Förderarbeiter im Schacht. Sein Nachname ist Derikatschin. Er ließ eine Schubkarre mit Erz fallen, und man hängte ihm den § 58, Punkt 7, an und gab ihm 25 Jahre. Es saßen auch zwei junge Ingenieure aus Sowrudnik ein, die erst kurz zuvor von der Universität gekommen waren, und mit ihnen der Schachtmeister. Seinen Nachnamen werde ich bis zu meinem Tode nicht vergessen – Kinko. Man hing ihnen Schädlingstätigkeit an und verurteilte alle drei. Kinko erhielt die Höchst-strafe, und die Ingenieure 20 Jahre. Ihre Familiennamen erinnere ich nicht. Der §58, Punkt 7, unterlag nicht der Möglichkeit Berufung einzulegen, man konnte lediglich ein Gnadengesuch einreichen, aber Kinko schrieb nichts. Er hatte die tschechische Staatsangehörigkeit, und Moskau bestätigte das nicht, sondern rollte den Fall ganz neu auf. Einer der Ingenieure war bereits in Kolyma. Der zweite war wegen Krankheit im Gefängnis geblieben. Und den brachten sie aus Kolyma, und es gab erneut ein Untersuchungsverfahren. Das Gericht verhängte das Urteil: Kinko wegen Verletzung der Sicherheitstechnik – drei Jahre, und er hatte doch schon hundert Tage in der Todes-Einzelzelle gesessen, und die Ingenieure wurden freigesprochen. Wir gehen raus zum Spaziergang und Kinko arbeitet - er streicht das Gefängnisgebäude und lächelt dabei.

Ach, wieviel ich auch zu sagen vermag, alles zu beschreiben ist mir doch nicht möglich. Auch reicht das Papier nicht, und die Zeit, und die Nerven. Also das ist erstmal alles. Verzeihen Sie mir mein Geschreibsel. Was für Sie nicht interessant ist – nehmen Sie es einfach als Märchen. Auf Wiedersehen.

Mit aufrichtiger Hochachtung
P.B. Ljachowskij
7. Juni 1989


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