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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Kapitel 1. Umsiedler

Ein trüber Herbstmorgen im Jahre 1765. Die freie Stadt Lübeck liegt hoch im Norden Deutschlands. Kleine, ordentliche Häuser mit Gärten. Gotische Gebäude mit spitzen, in den Himmel gerichteten Türmen. Der altehrwürdige, zu Beginn des 13. Jahrhunderts erbaute, Dom, die majestätische und strenge Marienkirche, das Rathaus und die Stadttore: Burgtor und Holstentor, an denen die jungen Leute gern zusammentrafen. Etwas weiter entfernt, am Trave-Fluss, nahe seiner Mündung in die Lübecker Ostsee-Bucht, der Hafen. Im Dunst des Nebels ein ganzer Wald von schlanken Masten. An einer der Anlegestellen eine kunterbunte Menge: Bauern, Bürgerliche, Soldaten. Männer, Frauen und Kinder. Es sind besonders viele Kinder. Noch nicht ganz ausgeschlafen und ein wenig verfroren drängen sie sich an ihre Eltern. Hier sieht man Ballen, Körbe, Bündel und Kisten. Die Sachen werden auf ein Schiff geladen, das nach Russland aufbrechen wird.

Nach allem zu urteilen haben diese Leute in ihrer Heimat nicht gerade wohlhabend gelebt. Ständige Kriege (diesen Zeitraum wird man später den Siebenjährigen Krieg nennen), Überfälle, Plünderungen und Kämpfe, die Willkür der Fürsten und örtlichen Mächte, religiös begründete Verfolgungen. Aber dort, in Russland, haben die Anwerber Katharinas II ihnen goldene Berge versprochen. Aus ihren Berichten konnte man ableiten, dass die «Zarin in den warmen Gefilden ihres Imperiums ein Paradies für ihre zukünftigen Landsleute geschaffen hatte», dass «Familien, die über keinen eigenen Besitz verfügen, in Russland zu Besitzern von Häusern, Ackerböden, Weinbergen werden würden», dass «dass man an der Wolga für nur zwei Pfennige eine achtköpfige Familie mit Mittagessen versorgen könnte».

Die Menschen schenkten dem Glauben, verließen ihre angestammten Wohnorte und trafen, den Behörden verborgen, auf Umwegen, teils allein, teils mit ihren Familien, in Lübeck ein, um sich von dort aus, gemäß der Vereinbarungen, die sie mit den Anwerbern getroffen hatten, auf den Weg ins geheimnisvolle und beängstigende Russland aufzumachen.

Unter den mit diesem Schiff abreisenden Personen befand sich auch unser männlicher Vorfahr, der Auswanderer aus dem südwestlichen Deutschland, der dreiunddreißigjährige gebürtige Katholik, Drucker und Buchbinder Johann Maier. Mit ihm ins ferne, noch nie gesehene Russland machten sich seine Ehefrau Anna und zwei kleine Söhne auf den Weg. In ihrem Städtchen, das von Krieg und Feuer zerstört worden war, gab es keine Gelegenheit zum Drucken von Büchern, und Johann musste sich mit Tischler- und Ofensetzer-Arbeiten befassen. Aber dort, in Russland, wie der Anwerber, ein netter und würdiger Herr, ihnen bestätigt hatte, entfalteten sich gerade die Schulen und man wollte oder hatte sogar schon eine Akademie der Wissenschaften beziehungsweise Universität gegründet, so dass infolgedessen auch Bücher benötigt würden, viele Bücher. Die mussten alle gedruckt und gebunden werden! Die alten Eltern ließen ihn zu sich ins Dorf kommen, wo jetzt, nach dem Ende des Krieges, kräftige Männerhände so sehr gebraucht wurden, versetzten sie mit ihren Berichten über grimmigen Frost, bärtige russische Männer und Bären in Angst und Schrecken. Sie erinnerten sie daran, dass es verboten war den deutschen Boden zu verlassen. Doch die Hoffnung, den Beruf auszuüben, den man liebte, siegte.

Und nun stand Johann an Deck des ablegenden Schiffes und nahm mit wehmütigem Schmerz in der Seele und Tränen in den Augen Abschied von seinem Vaterland - vermutlich für immer.

Unterwegs erhielten die Umsiedler Brot, Zwieback, getrocknetes und geräuchertes Fleisch, Wein. Den schlecht gekleideten, und es gab davon nicht wenige, händigte man Kleidung aus. Außerdem schenkte man jedem von ihnen vor der Abfahrt 16 Schillinge. Dises Geld verwendeten die Umsiedler zum Kauf von zusätzlichen Lebensmitteln für die Fahrt. Die Reise von Lübeck nach Kronstadt über die Ostsee dauerte 10 Tage. Zehn Tage herrschten Nebel, Nässe und Seegang. Endlich, am 2. September 1765 betrat die nächste Partie Umsiedler russischen Boden.

Ausländer aus dem Westen hatten russische Regenten schon lange eingeladen und angeworben. Einen besonderen Umfang nahm dieser Prozess während der Regierungszeit Iwans III an, auf dessen Initiative Künstler, Ingenieure, Bergleute, Gießereiarbeiter (zum Gießen von Kirchenglocken), Juweliere und Ärzte eingeladen wurden. Mitte des 16. Jahrhunderts schickte Iwan IV (der Schreckliche) den ausländischen Agenten Schlitte nach Deutschland, um für den Dienst an Russland Handwerker, Techniker, Heimarbeiter und Gelehrte anzuwerben. Schlitte warb 123 Personen an, unter denen sich auch Ärzte, Apotheker, Juristen, Architekten, Ingenieure für den Bau militärischer Befestigungen, Büchsenmacher, Glaser, Uhrmacher und andere befanden. Aber auf Befehl des preußischen Königs wurden alle diese Leute in Lübeck festgehalten und Schlitte verhaftet. Ein tatkräftiger Vorkämpfer der westeuropäischen Kultur war Boris Godunow. Er lud Industrielle aus England, Holland, Dänemark und den freien deutschen Städten Hamburg, Lübeck und Bremen nach Russland ein. Neben Technikern, Ärzten und Handwerkern holte Boris Godunow auch Soldaten ins Land. In dem Wunsch in Russland eine Universität zu gründen, schickte er den Ausländer Johann Kramer nach Deutschland, der für Moskau Professoren anwerben sollte. Über die Ergebnisse dieser Aktion ist nichts bekannt.

Während der Regierungszeit Wassilij Schuiskis und in den Jahren der Smuta (Zeit der Wirren; Anm. d. Übers.) wandelte sich die Haltung gegenüber den Ausländern in Russland jäh zum Schlechten. Der Aufstand des russischen Volkes gegen Polen wurde zum Protest gegen alles Fremde. Die Moskauer Vorstadt «Deutsche Siedlung» wurde zerstört und vernichtet. Die Umsiedler, die früher nach Russland gekommen waren, hatten ein schlechtes, schweres Leben. Erst nachdem die Ordnung im Lande wiederhergestellt worden war und der Thronbesteigung des ersten Zaren aus der Dynastie der Romanows, Michail Fjodorowitsch, beschloss die russische Regierung, erneut Ausländer einzuladen. Besonders erfolgreich war darin der zweite Zar aus der Romanow-Dynastie, Aleksej Michailowitsch, auf dessen Anweisung die «Deutsche Siedlung» wiedererrichtet wurde und die nächste Welle an Umsiedlern aus dem Westen nach Russland einreiste.

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts lebten in Russland etwa 18000 Ausländer. Und obwohl sich unter ihnen Vertreter der unterschiedlichsten Nationalitäten befanden, wurden sie im Volk für gewöhnlich alle als Deutsche bezeichnet. Die Haltung ihnen gegenüber war weiterhin alles andere als eindeutig. Zu der Zeit, als die Regierung in ihrer Tätigkeit großen Nutzen für den Staat sah, waren das einfache Volk und zahlreiche Höflinge der Ansicht, dass die Präsenz von Ausländern Russland nur Schaden bringen würde. Eine ähnliche Meinung wurde auch vom Klerus unterstützt und befeuert, der sich allen Andersgläubigen gegenüber feinselig verhielt. Dennoch wuchs der Einfluss der Westeuropäer in Russland. Es näherte sich die Epoche der großen Reform Peters I. Nachdem er persönlich im Ausland gewesen war und gesehen hatte, wie die Europäer leben und arbeiten, begann Peter für seinen Staat Spezialisten anzuwerben. Anfangs holte er vorwiegend Techniker und Soldaten ins Land, aber schon bald darauf auch Pädagogen, Gärtner, Förster und unterschiedliche Meister der «Alltags»-Kunst. Peters Reformen betrafen zahlreiche Aspekte des staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in Russland. Seine Untergebenen mussten sich neue Sitten und Gebräuche, neue Formen des gesellschaftlichen Umgangs aneignen.
Während der Regierungszeit Katharinas II nahm die Emigration von Westeuropäern nach Russland stark zu und nahm im Zeitraum zwischen 1763 und 1767 Massencharakter an. Dabei wurden, im Unterschied zu früher, keine Spezialisten eingeladen, sondern gewöhnliche Bauern und Handwerker, vor allen Dingen aus deutschen Ländern. Ausgelöst wurde dies selbstverständlich nicht von den nationalen Gefühlen der Zarin, sondern von der schwierigen Lage an der Unteren Wolga. Nach erfolgreichen militärischen Operationen in dieser Region Russlands waren dort zahlreiche menschenleere, unbearbeitete Ländereien entstanden, auf denen Kalmücken, Baschkiren und Kasachen mit ihren Viehherden nomadisierten. In der ersten Hälfte des VIII. Jahrhunderts gründeten sich auf diesen Flächen aufständische Meuten und Räuberbanden. In den Jahren 1730-1740 schickte Zarin Anna Johannowna Truppen in diese Gegenden, aber es gelang nicht dort Ordnung herzustellen. Als erfolglos erwiesen sich auch die Versuche der Regierung durch die Schaffung einer kompakten Besiedlung dieser Orte einen Abwehrriegel gegen die Nomaden und räuberischen Banden zu bilden. Hier ließen sich vorwiegend Altgläubige, Sektierer und auch flüchtige Leibeigene sowie Kriminelle nieder, deren Mehrheit in der Landwirtschaft tätig war und wenige Gedanken verlor. Entgegen den Hoffnungen der Regierung wurden solche Siedlungen häufig zu einem Refugium für räuberische Banden. Daher wurde mit der Thronbesteigung Katharinas II beschlossen, zur Besiedlung dieser Gegenden Umsiedler aus dem Westen anzuwerben.

Zu damaligen Zeiten nannte man den Prozess der Besiedlung menschenleerer Landstücke Kolonisierung, und die Menschen, die zu ihrer Urbarmachung bestellt worden waren – Kolonisten. Später, Ende des 19. Jahrhunderts, erhielten diese Wörter einen neuen, aggressiven Sinn, und man gab den Kolonisten in diesem Zusammenhang zur Vermeidung von Missverständnissen die Bezeichnung Siedler – Grundeigentümer. Sie selbst nannten sich zumeist Umsiedler. In diesem Kapitel werden wir neben dem Terminus Kolonist den weiter gefassten und weniger kränkenden Begriff Umsiedler verwenden.

Für die Durchführung des gefassten Beschlusses brachte Katharina II 1762-63 zwei Manifeste heraus, nach denen allen Ausländern, die gewillt waren nach Russland zu kommen, gestattet wurde, ad libitum sowohl ihren Siedlungsort als auch die Art ihrer Tätigkeit selbst zu wählen. Zudem wurde jeder migrierten Familie ein großzügig bemessenes Flurstück (30 Desjatinen pro Familie), ein zinsloses Darlehen, eine Befreiung Steuerzahlungen (für einen Zeitraum von 30 Jahren) sowie die Freistellung von der Wehrpflicht, das Recht auf freien Handel und Reisefreiheit versprochen. Garantiert wurde ebenfalls die Nichtausweitung der Leibeigenschaft auf die Umsiedler und, was für viele sehr wichtig war, man erlaubte ihnen nach ihren Sitten, Bräuchen und ihrem Glaubensbekenntnis zu leben.

Gleichzeitig mit der Veröffentlichung des Manifests wurden in die westlichen Länder, vornehmlich nach Deutschland, äußerst kompetente Anwerber geschickt, denen man für jede angeworbene Familie gute Bezahlung zusicherte. Ihre Versprechungen und Überredungskünste fielen auf fruchtbaren Boden. Gerade erst war der Siebenjährige Krieg zu Ende gegangen (1756-1763), der Zentral-Europa mit einem Feuersturm überrollt hatte. Zahlreiche Ortschaften waren zerstört; die Familien, die ihren Ernährer verloren hatten, lebten in großem Elend. Die Bauern, die sich unter Besatzung befanden, wurden doppelt unterdrückt. Rekruten wurden nicht nur für den Dienst in den Fürstenarmeen oder zur persönlichen Verfügung der Fürsten mobilisiert, sondern auch für den Dienst in fremdländischen Armeen. Die Bevölkerung wurde wegen religiöser Meinungsverschiedenen verfolgt. So ist es nicht verwunderlich, dass viele den Versprechen der Anwerber erlagen. Die Aussichten auf ein großes Stück Land und ein Darlehen, die Befreiung von der Wehrpflicht schien für viele der benachteiligten Bewohner West-Europas sehr verlockend zu sein. Dass die Umsiedler und ihre Nachfahren in Russland unter schweren und gefährlichen Bedingungen leben werden müssten, argwöhnte die Mehrheit von ihnen nicht. Anfangs verlief die Anwerbung erfolgreich, doch schon bald änderte sich alles. Die Massen-Ausreise von Bauern und Handwerkern widersprach den Interessen des im Entstehen befindlichen Bürgertums, denen es an freien Arbeitshänden gelegen war. Unter diesen Bedingungen brachten die Herrscher, vor allem die deutschen Staaten, Dekrete heraus, die ihren Untertanen Fahrten außerhalb der Grenzen ihres Landes verboten. Der Versuch, das Land heimlich zu verlassen, wurde mit der Konfiszierung des Besitzes und der Androhung bestraft, dass, für den Fall, dass die Emigranten in ihre alte Heimat zurückkehren wollten, die Grenze für sie nicht geöffnet werden würde. Trotzdem wurden die Anwerbungen fortgesetzt, obwohl dies auch mit Gefahren für die Anwerber selbst verbunden war. Eine offizielle Erlaubnis zur Ausreise erhielten in der Regel nur die am schlimmsten verelendeten Bauern und Handwerker. Alle anderen reisten in aller Heimlichkeit aus. Unter ihnen befanden sich Künstler, Offiziere, Ärzte, Lehrer, Studenten und sogar unbedeutendere Adlige. Sie alle hofften, in Russland ihr Glück zu finden. Es gab unter den Emigranten auch degradierte Personen: Faulenzer, Trinker und sogar Kriminelle, welche die Bevölkerung in den Dörfern gern loswerden wollte. 1768, nach dem von Kaiser Josef II herausgebrachten Edikt über ein strengstes Verbot jedweder Emigration aus deutschen Ländern kam die Ausreise und Anwerbung nach Russland vorübergehend zum Erliegen.

Für die Entscheidung allgemeiner strategischer Aufgaben, die im Zusammenhang mit der Ansiedlung der Kolonisten standen, wurde in Russland auf Minister-Grundlage eine staatliche Kommission für die Umsiedlung von Ausländern geschaffen. Im weiteren Verlauf erhielt dieses Organ die Bezeichnung «Vormundschaftskanzlei für Ausländer», im Volk schlicht «Kanzlei» genannt.

Gemäß Beschluss der Regierung mussten die eingetroffenen Kolonisten sich in den Niederungen der Wolga ansiedeln, an ihrem linken und rechten Ufer, von Samara bis nach Kamyschin. Die Kolonisten sollten in Dörfern (Kolonien) siedeln. Für jede Ortschaft wurden zwischen 40 und 60 Tausend Desjatinen Land zugeteilt, die, nach Ansicht der Kanzlei, unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums, für tausend Familien ausreichen sollten. Die Landzuteilung sollte mit einer solchen Berechnung erfolgen, dass zwischen den Ortschaften keine leerstehenden Ländereien übrigblieben. Bei der Verteilung der Siedler auf die Dörfer wurden ihre Nationalität und ihre Glaubenszugehörigkeit berücksichtigt. Für die Entscheidung der laufenden konkreten Aufgaben in der Stadt Saratow wurde ein «Vormundschaftskontor» für Ausländer organisiert. Ihm stand der oberste Richter voran, der von der Zarin persönlich ernannt wurde. Zur Kompetenz des Vormundschaftskontors gehörten alle Lebensbereiche der Kolonisten. Die von ihm veröffentlichten Befehle und Instruktionen reglementierten jeden Schritt der Kolonisten: was, wo, wann gesät werden sollte; wann geerntet, wo der Herbstacker bestellt, wo das Wintergetreide gesät werden sollte. Es gab detaillierte Hinweise auf die Abfolge der Arbeiten bei der Heu-Ernte, den Zeitpunkt für den Beginn und das Ende dieser Arbeiten. Mehr als hundert Jahre waren diese Anweisungen gültig, und es war den Kolonisten verboten, irgendwelche Ergänzungen einzubringen, Initiative zu zeigen. Alles musste so gemacht werden, wie es auch in den umliegenden russischen Dörfern gehandhabt wurde.

Insgesamt kamen von 1763 bis 1767 per Rekrutierung ungefähr 27000 Menschen (etwa 8000 Familien) nach Russland. Hier gab es Franzosen, Österreicher, Dänen, Schweden, Polen, Holländer, Italiener. Allerdings waren die meisten von ihnen Deutsche. Unter ihnen – Vertreter praktisch aller deutschen Stämme aus allen Fürstentümern, Grafschaften und ritterlichen Ländereien Deutschlands. Mehr als die Hälfte der Ankömmlinge machten die Kinder aus (in vielen Familien belief sich ihre Zahl auf vier bis fünf), und die meisten unter ihnen waren noch minderjährig.
Entsprechend den Plänen der Kanzlei wurden die ersten Umsiedler, die in Russland im Herbst 1764 eintrafen, entgegen dem im Manifest proklamierten Recht auf freie Wahl des Wohnortes und der Art der Berufsausübung, aufgefordert, an die Wolga-Niederung oder die ufernahen Schwarzmeer-Steppen zu fahren und dort Landwirtschaft zu betreiben. Vielen von ihnen gefiel das nicht. Besonders empörten sich die Handwerker, Offiziere und Angehörigen der Intelligenz (Ärzte, Lehrer, Studenten). Aber der Weg zurück war ihnen abgeschnitten. Die Zeit der Navigation auf dem Meer war vorbei, und die Mittel für die Rückzahlung der Kredite und die Rückreise besaßen sie nicht. Nach einem kurzen Wortwechsel und einer langen kräftezehrenden Reise durch Zentral-Russland wurden alle am rechten, hochgelegenen Ufer der Wolga angesiedelt: von Saratow bis zur Bezirksstadt Kamyschin, die etwas weiter südlich lag.


Íåìåöêèå êîëîíèè íà Íèæíåé Âîëãå / Deutsche Kolonien an der Unteren Wolga

Insgesamt entstanden 43 Kolonien, von denen sich 10 entlang der Wolga erstreckten, 17 – am Fluss Karamysch, 12 – am Fluss Ilowlja und 4 – am Fluss Medweditza. Die Organisierung der meisten Kolonien wurde von der Regierung geleitet.

Diese Kolonien wurden Kron-Kolonien genannt. Lediglich 8 Kolonien am Karamysch und 3 an der Ilowlja wurden auf Befehl Katharinas der II von Privatpersonen gegründet – den Direktoren Prekur und Boffe. Daher wurden diese beiden Kolonien in der ersten Zeit auch «Boffsker Kolonien» genannt. In jenen Jahren wurde von der religiösen Gemeinde der Gernguter etwa 28 Werst südlich der Stadt Zarizyn am Flüsschen Sarpa eine weitere Kolonie, die Kolonie Sarepta, gegründet.

Die Partie Umsiedler, zu der auch Johann und Anna gehörten, traf im Herbst 1765 in Russland ein. Ihr widerfuhr das gleiche Los wie ihren Vorgängern. Nach dem Ausschiffen wurden die Umsiedler mit Fuhrwerken von Kronstadt nach Oranienbaum gebracht, wo man ihnen die Beschlüsse der Kanzlei verkündete, nach denen sie sich alle am linken Ufer der Wolga ansiedeln sollten. Von Oranienburg transportierte man die Umsiedler auf dem Wasserweg nach Petersburg, wo sie vorübergehend in der nahe der Stadt neu gegründeten deutschen Kolonie «Neu-Saratow» untergebracht wurden. Von diesem Augenblick an verschlechterte sich die Haltung gegenüber den Umsiedlern. Die Größe der Lebensmittelrationen verringerte sich merklich. Die Erwachsenen erhielten so viel, wie man anfangs an die Kinder ausgeteilt hatte. Aus Petersburg wurden sie in Kolonnen verschickt. Für ihre Begleitung wurde Militärpersonal ernannt. Die Reise fand auf dem Wasserweg, auf der Newa, statt, weiter über den Schlisselburger Kanal, den Fluss Wolchow flussabwärts bis nach Nowgorod. Hier wurden die Kranken ausgeschifft und zum Überwintern zurückgelassen. Die anderen wurden nach kurzer Weiterfahrt auf Fuhrwerke verladen und in Richtung Wolga geschickt. Die Fahrt auf den unbefestigten Straßen war nicht leichter als die Reise zu Wasser. Die Fuhrwerke waren von dem Hab und Gut, den Kindern und Frauen überladen. Die Männer gingen die ganze Zeit zu Fuß nebenher. Der Winter rückte näher.

Die meisten Umsiedler waren nicht entsprechend der Jahreszeit gekleidet. Viele erkrankten aufgrund von Hunger und Kälte. Einige ließen unterwegs ihr Leben. Trotzdem – solange der Winter noch nicht endgültig hereingebrochen war, beeilten sich die Umsiedler voranzukommen, weiter in Richtung Süd-Osten. Die meisten Kolonnen, unter anderem auch die, in der sich die jungen Maiers befanden, verbrachten den Winter in den um die Stadt Torschka, im Twersker Gouvernement, gelegenen Ortschaften. Die Umsiedler lebten dort bei russischen Familien, in denen sie die Möglichkeit hatten, die Sitten und Gebräuche der russischen Bauern kennenzulernen, und ein paar Sätze in russischer Sprache zu erlernen. Zum ersten Mal sahen sie, wie in einem einzigen Raum (unter einem Dach) Menschen und Haustiere (Schweine, Hühner und andere Tiere) zusammenlebten. Die meisten Katen wurden ohne Rauchabzug beheizt. Die Umsiedler aßen mit den Wirtsleuten am gemeinsamen Tisch. Fast jeden Tag standen die berühmte russische Kohlsuppe und Hirsebrei auf dem Tisch. Getrunken wurde russischer Kwas. Außerdem gab es in jedem Haus genügend Milch, und die Umsiedler brachten ihren Wirtsleuten bei wie man gute Butter und Käse herstellt. Die besonders Fleißigen und Geschickten halfen den ortsansässigen Bauern beim Korndreschen mit Dreschflegeln auf der Tenne. Damit konnten sie ein wenig Geld verdienen. Auch für die Handwerker fand sich Arbeit.

Von Zeit zu Zeit schickte die Regierung Geistliche (Lutheraner und Katholiken) in die Dörfer, in denen die Umsiedler vorübergehend untergebracht waren. Sie tauften Kinder, hielten Totenfeiern und Predigten ab und trösteten die Umsiedler so gut sie es vermochten. In einigen Kolonnen gab es ständige Kirchenvertreter. Sie begleiteten die Umsiedler bis zu den Siedlungsorten, wo sie anschließend kirchliche Tätigkeiten organisierten. Vereinzelte Kolonisten, unter ihnen auch Johann, erlernten in diesem Winter recht gut die russische Sprache. Allerdings wurde das von den Behörden nicht gefördert, und so blieb die überwiegende Mehrheit der Kolonisten viele Jahrzehnte in ihrer neuen Heimat «deutsch».

Gleichzeitig entstanden unter den Umsiedlern, die Tag und Nacht nur wenige Schritte voneinander getrennt waren, nicht selten ernsthafte Konflikte, die in blutigen Prügeleien und sogar Morden endeten. Die Lage wurde noch dadurch verschärft, dass es unter den Umsiedlern auch richtige Kriminelle gab, die sich in ihrer Heimat der Verfolgung entzogen hatten. Diejenigen, die durch Entscheidung der Ältesten und des Anführers des Konvois für schuldig befunden wurden, wurden mit Stockschlägen bestraft. Mitunter fiel dieses Los auch Frauen zu. Und trotz aller Reibereien waren sich die Umsiedler in einem Ziel einig: nachdem sie die Heimat verlassen hatten, hofften sie trotzdem für sich und ihr Kinder auf eine neues, würdigeres und glücklicheres Los – dort, an der Unteren Wolga, wohin sie die Zarenregierung anschließend schickte.

Im Frühjahr, sobald der Schiffsverkehr wieder aufgenommen worden war, schickte man die Umsiedler auf Booten und Lastkähnen an den Unterlauf der Wolga. Hier brachte man sie auf der Wiesenseite unter, etwa dreißig Werst flussaufwärts von der Siedlung Pokrowsk entfernt. Aufgrund der großen Überschwemmungen der Siedlungsorte (künftigen »Kolonien») stiegen sie in einiger Entfernung zur Wolga aus, in der Nähe ihres alten Flussbettes. Insgesamt wurden dort 43 Kolonien organisiert. Acht von ihnen, die in den Niederungen des Flusses Bolschoi Karaman und am Flüsschen Teljause lagen, sollten von der Regierung (Kronkolonien) gelenkt werden. Neun Kolonien, die am mittleren Karaman gelegen waren, wurden von den Direktoren Lekur und Piktet gegründet. Schließlich zogen sich 26 Kolonien, geleitet von den Direktoren Borgardt und Monschu, vom Fluss Teljause entlang der Wolga Richtung Norden, bis zum Fluss Irgis, hin und nach Osten, in die Steppe, bis zur Quelle des Malij Karaman.

An einem dieser Orte, der zukünftigen Ortschaft Gattung (Zug), Nikolajewsker Landkreis, Gouvernement Samara, trafen dann auch im Frühjahr 1766 Johann und Anna mit ihren Kindern ein. Und hier sahen sie, wie tausende andere Kolonisten an anderen Orten der Unteren Wolga auch, keine blühenden südlichen Ländereien, von denen die Anwerber ihnen in so malerischen Bildern berichtet hatten, sondern öde salzhaltige Steppen, malträtiert von heftigen Winden, alles austrocknenden Dürren und grimmigen Frösten. Und nichts, was auch nur im Entferntesten an eine Behausung erinnert hätte.

Zu einem Haufenzusammengekauert blickten die Umsiedler auf die endlose Steppe, die sich vor ihnen ausbreitete. Die Strahlen der kalten Morgensonne, die sich nur mit Mühe einen Weg durch den Nebel und über den dampfenden Fluss bahnte, beleuchtete sie mit einem gespenstischen Licht. Es war kalt und unheimlich. Sie hatten Angst um sich und besonders um die Kinder, die, eingewickelt in Decken, auf den Kisten mit dem häuslichen Hab und Gut, Bündeln und Körben vor sich hindösten. Die Wirklichkeit war noch viel schrecklicher als die düstersten Vorhersagen der Skeptiker.

Enttäuschend war für die Umsiedler auch die Begegnung mit den Vertretern des Vormundschaftskontors, in dem sich alle registrieren lassen und die ihnen laut Vertrag zustehenden Geldanleihen, Lebensmittel, Arbeitswerkzeuge, Vieh sowie Getreide für die zukünftige Aussaat erhalten sollten. Bürokratie und Wucher blühten im Kontor in keinem geringeren Maße als bei jeder anderen staatlichen Behörde auch. Der Zeitraum für die Ausgabe der Geldanleihen, Baumaterialien, des Viehs und des Inventars an die Kolonisten zog sich maßlos in die Länge. Um an diese Dinge zu gelangen, mussten die Umsiedler mehrmals und für längere Zeit nach Saratow fahren. Zudem war eine derartige Fahrt für die Bewohner der linken Uferseiteëÿ mit Gefahren bei der Querung der Wolga verbunden.

Der ganze Sommer ging für Johann und die anderen Dorfbewohner für den Erhalt der im Vertrag vorgesehenen Pferde und Kühe dahin: jeweils zwei kleinwüchsige, nicht an Pferdegeschirre gewöhnte Kalmücken-Pferde und jeweils eine Kuh pro Familie. Das zur Bodenbearbeitung unerlässliche Handwerkszeug – Zoche (Pflug), Deichseln, Räder u.a. wurde erst Mitte Juni an sie ausgegeben und Saatgut noch viel später. Es versteht sich von selbst, dass unter derartigen Bedingungen von einer Durchführung der Aussaat keine Rede sein konnte. Kaum einer der Kolonisten war in der Lage sich einigermaßen gut auf den Winter vorzubereiten. Die meisten beschränkten sich auf den Bau von Erd- oder Lehm-Hütten und vertagten das Errichten von Häusern aus Holzbalken auf den nächsten Sommer. Aber einen Stall für das Vieh bauten sie alle. Notgedrungen sammelten die Kolonisten wilde Äpfel, Birnen und Schlehen und trockneten sie für den Winter. Einigen Haushalten gelang es bereits in diesem ersten Herbst ein paar Dutzend Desjatinen Neuland zu pflügen und darauf Roggen anzusäen. Erschwert wurde das Leben der Kolonisten auch durch das Verbot russische Ortschaften aufzusuchen, zur Jagd zu gehen und Handel zu treiben. Zudem wurde dies auch durch Nichtkenntnis der russischen Sprache behindert.
Auf Anweisung des Vormundschaftskontors wählten die Kolonisten in jeder Ortschaft bei ihrer Ankunft in offener Abstimmung einen Ältesten und seine Gehilfen (Beisitzer). In der Regel wurden die besten Leute im Dorf gewählt – vernünftige, besonnene, die sich in der Landwirtschaft gut auskannten, erfahrene Männer im Alter zwischen 30 und 60 Jahren. Die Ältesten wurden für ein Jahr gewählt, die Gehilfen – für ein halbes. Kleine Dörfer verfügten über zwei Beisitzer, große über entsprechend mehr. Das Amt des Ältesten war in den ersten Siedlungsjahren nicht leicht zu bewältigen. Vor Beginn des 19. Jahrhunderts standen den Ältesten keine Sekretäre zur Verfügung. Aber das Kontor forderte eine strenge Aufsicht über alle Kolonisten sowie genaue Informationen über ihr Verhalten und ihre Tätigkeit. Was haben sie damals nicht alles den Ältesten gefragt! Er musste, gemeinsam mit den Gehilfen, regelmäßig die an ihn gebundenen Familien aufsuchen und darauf achten, dass in den Höfen und Häusern alles sauber war, dass die Rauchabzüge in Ordnung waren usw. Sie hatten auch darauf zu achten, dass die Kolonisten bescheiden, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, lebten. An Feiertagen, unter anderem auch zu Hochzeiten, war es nicht gestattet, mehr als zehn Gäste einzuladen. Verfolgt wurden Kartenspiele. Der Älteste sollte auf allen Feierlichkeiten Hochzeiten, Taufen usw.) anwesend sein und zusehen, dass die allgemeine Ordnung eingehalten wurde, und er hatte ebenfalls darauf acht zu geben, dass keiner der Kolonisten lasterhaften Männern oder Frauen Obdach gewährte und dass niemand ohne seine Erlaubnis Vieh schlachtete oder verkaufte. Der Älteste musste von Zeit zu Zeit die Grenzen der Gemeinde-Ländereien abschreiten, ihre Markierungen kontrollieren und sein Augenmerk darauf richten, ob alle Höfe der Kolonisten mit Flechtzäunen umgeben waren. Der Älteste erhielt 30 Rubel pro Jahr (zum Vergleich erwähnen wir, dass zu der Zeit eine Kuh auf dem Markt durchschnittlich 7 Rubel kostete, ein Schaf 1 Rubel und 20 Kopeken, ein Schwein 1 Rubel). Jemanden, der sich ein Vergehen hatte zu Schulden kommen lassen, konnte der Älteste höchstpersönlich mit einer Geldstrafe oder Zwangsarbeit belegen. Aber jemanden zu einer Prügelstrafe verurteilen (mit Knute oder Peitsche) durfte er nur mit dem Einverständnis der Gehilfen.

Als erste Verwalter und Vertreter des Vormundschaftskontors wurden unmittelbar in den Dörfern zumeist die Offiziere, die die Umsiedler bis an ihre neuen Wohnorte begleitet hatten, ernannt. Über eine Gruppe von Dörfern stellte man einen Amtsbezirks-Offizier und -Kommissar, der in der Regel aus den Reihen der Balten-Deutschen gewählt wurde, die im Staatsdienst standen.

Ihren ersten Winter am neuen Wohnort überstanden die Kolonisten, auch wenn sie unter den für sie ungewohnten Frösten litten, mehr oder weniger gut. Sie beschafften Holz für Baumaßnahmen, bereiteten Handwerkszeug und Saatkörner für die Aussaat vor. Die Kolonisten erahnten wohl kaum, welche «Überraschungen» Natur und Menschen für sie bereithielten. Den ersten Schlag versetzte ihnen die Natur. Im zeitigen Frühjahr überflutete die stürmisch überlaufende Wolga in zahlreichen Kolonien auf der linken Uferseite die provisorischen Unterkünfte der Umsiedler. Viele Menschen kamen ums Leben. Diejenigen, die am Leben blieben, mussten noch einmal ganz von vorn anfangen – an neuen Stellen, die von einer Überschwemmung verschont bleiben würden. Im Sommer begann eine Fieber-Epidemie, die bis in den tiefen Herbst hinein wütete und ebenfalls zahlreiche Leben, insbesondere von Kindern, dahinraffte. Anschließend stellte sich heraus, dass der Boden, den man den Umsiedlern der Ortschaft Gattung und acht weiteren Kolonien am Kleinen Karaman zugewiesen hatte, für den Ackerbau völlig ungeeignet waren. Nach zwei Jahren absoluter Missernten siedelten all diese Dörfer an neue Orte, von der Kolonie Remmler weiter flussaufwärts, wobei sie die vorherigen Ortsnamen beibehielten. Schließlich kam es an der Wolga beinahe ein ganzes Jahrzehnt immer wieder zu Dürrekatastrophen.

Den zweiten Schlag versetzten ihnen Nomadenstämme und räuberische Banden. Das Gebiet an der Unteren Wolga mit seinen riesigen Weiten «ungezähmter Felder» hatte ihnen schon seit langem als Zufluchtsort gedient. Hier gab es geflohene oder freigelassene Leibeigene, in fremden Ländern gekaufte Sklaven, aber auch Hörige, die zusammen mit ihren Nachkommen verkauft wurden und, schließlich und letztendlich – einfache Räuberíèêè – Leute, die leichtes Geld machten. Ihre Reihen wurden ergänzt durch desertierte Soldaten und örtliche Nomaden.

Anfangs litten die Kolonisten der rechten Uferseite (Bergseite) am schlimmsten von allen unter den herumstreunenden Banden, denn ausgerechnet durch ihre Kolonien verlief der große astrachaner Trakt, neben dem die Räuber in den nahegelegenen Wäldern und Schluchten ihre geheimen Schlupfwinkel besaßen. Mit Waffen in den Händen tauchten die Banditen in den Dörfern auf und trieben «mitten am helllichten Tag» das Vieh fort, vor allem Pferde. Nächtliche Überfälle und das Ausrauben einzelner Haushalte waren eine gängige Erscheinung. Besonders häufig plünderten und töteten sie Kolonisten unterwegs, wobei sie nicht nur vereinzelte Reisende übervielen, sondern auch ganze Trecks. Um sich gegenseitig vor herannahenden Gefahren zu warnen, wurden in den Dörfern Signaltürme errichtet, auf dem ständig ein Wachhabender aus den Reihen der Kolonisten seinen Dienst versah. Manchmal vereinten sich mehrere Ortschaften und verjagten die Plünderer. In der Nähe nomadisierende Kalmücken und Zigeuner trieben das Vieh mitunter in ganzen Herden mit sich. Sie entführten auch Kinder. Allerdings überfielen sie niemals Kolonien mit dem Ziel, diese vollständig zu zerstören.

Am linken Ufer machten sie sich zuerst daran, Pferde und Eigentum zu stehlen. Mord und Vertreibung von Kolonisten besaß keinen Massen-Charakter. Doch zu Beginn der siebziger Jahre änderte sich die Lage jäh. Es kam zu groß angelegten Überfällen der Nomaden auf die deutschen Ortschaften. Der erste dieser Überfälle wurde 1771 auf die Dörfer Schaslua und Lui am Fluss Bolschoi Karaman verübt. Eine aus 50-60 Reitern bestehende Gruppe Nomaden, die sich die Tatsache zunutze machte, dass die erwachsene Bevölkerung sich beim Einbringen der Ernte auf den Feldern befand, nahm nicht nur den Besitz mit, sondern auch einen Großteil der zu Hause gebliebenen Kolonisten; sie vertrieben sie weit gen Osten und verkauften sie auf den Basaren von Chiwa und Buchara. In jenem Jahr wurde die Kolonie Zaserfeld am Oberlauf des Flusses Maly Karaman zerstört.

Drei Jahre später, am 28. August 1774, beging Khan Nurali, der sich die Tatsache zunutze machte, dass die Zarenregierung mit der Unterdrückung des pugatschowsker Aufstands beschäftigt war, einen grausamen und zerstörerischen Überfall auf die am Großen Karaman gelegene Ortschaft Marienthal. Es war ein heißer Sonntag, die Kolonisten, die den Gottesdienst besucht hatten, traten aus der Kirche. In diesem Augenblick drang ein großer Trupp zu Pferd in das Dorf ein. Panik kam auf. Die Angreifer schwangen ihre blanken Säbel, ergriffen die Menschen, fesselten sie und jagten sie anschließend zusammen mit dem Vieh und dem gestohlenen häuslichen Hab und Gut Richtung Osten in die Steppe.

Die Nachricht über das Geschehene verbreitete sich schnell in der Region. Aus den Nachbardörfern rekrutierten sich Freiwillige zur Verfolgung der Nomaden und Befreiung der gefangenen Kolonisten. Es entstand eine Truppe aus 150 Mann, die von Pastor Ludwig Wernborner angeführt wurde und sich zur Jagd auf die Banditen auf den Weg machte. Allerdings fiel die Truppe schon bald darauf selbst in die Hände einer mehr als tausendköpfigen Nomaden-Horde, die ebenfalls darauf aus war, die deutschen Dörfer zu plündern. Fast der gesamte Trupp Kolonisten wurden vernichtet. Die Überlebenden wurden an den Sätteln festgebunden und gezwungen neben den Pferden herzulaufen. Die Geschwächten wurden an Ort und Stelle abgemurkst. Nach dem sie in der Steppe genächtigt hatten, setzten die Nomaden am Morgen ihre Reise gen Westen fort, um dort nach deutschen Dörfern zu suchen. Die am Leben gebliebenen Gefangenen, von denen man verlangte, dass sie ihnen den Weg zu den nächstgelegenen Dörfern wiesen, führten sie an Marienthal vorbei. Die Nomaden begriffen das erst, als sie weit abseits Glockenläuten vernahmen, welches die Marienthaler zum Abendgebet rief. Rasend vor Wut stürzten sie sich auf ihre Gefangenen und töteten sie auf bestialische Weise.

Als sie auf dem Beobachtungsturm der Ortschaft Marienthal die Staubwolke der sich nähernden großen Menge bemerkten, dachten sie, dass ihr Trupp mit den befreiten Artgenossen zurückkäme, aber schon sehr bald erkannten sie ihren Irrtum. Das ganze Dorf begann sich vorzubereiten. Sie versteckten die Frauen und Kinder, bewaffneten sich mit allem Möglichen, was griffbereit war (Harken, Sensen. Äxten) und zerstörten die Brücke. Doch es war bereits zu spät. Nachdem sie den Fluss durchschwommen hatten, drangen die Nomaden auf ihren Pferden in das Dorf ein und plünderten es vollständig aus. Diejenigen, die Widerstand leisteten wurden umgebracht, Frauen und Kinder vergewaltigt.

An demselben Tag zerstörten andere Nomaden-Trupps weitere acht Kolonien, die weiter flussabwärts am Großen Karaman gelegen waren. Die unversehrt gebliebenen Kolonisten verließen in Scharen ihre Dörfer und begaben sich nach Katharinenstadt, die Pokrowsker Freisiedlung und Saratow. Die Plünderung der verlassenen Ortschaften wurde durch die Jaizker Kosaken aus der aufgelösten Pugatschow-Armee vollendet. Am 24. Oktober 1774 waren fünf Tarlyksker Kolonien einem analogen Überfall ausgesetzt.

Insgesamt gerieten ungefähr 1200 Kolonisten bei den Nomaden in Gefangenschaft, die Zahl der Getöteten wurde nicht einmal annähernd ermittelt. Die Kolonisten wurden vollkommen terrorisiert. Viele dachten daran, aus den Kolonien zu fliehen, sich an einem anderen, ruhigeren Ort niederzulassen. Man schickte sogar Vertreter in den Kaukasus, um die Lage dort zu erkunden. Doch die Gesandten kehrten mit schlechten Nachrichten zurück. Auch dort war es unruhig, Bergstämme des Kaukasus überfielen Umsiedler aus der Ukraine und den zentralen Gebieten Russlands.

Im Vormundschaftskontor war man alarmiert von der Stimmung der Umsiedler und unternahm Schritte zur Gewährleistung der Sicherheit in den deutschen Kolonien. Ständige Truppenteile wurden in die Dörfer ausgesendet. Die Kolonisten selbst errichteten Erdwälle und andere Schutzvorrichtungen. Doch nicht alle waren damit zufrieden. Einige unternahmen auf eigenes Risiko den Versuch, in aller Heimlichkeit in ihre alte Heimat zurückzukehren, aber sie wurden von Kosaken aufgegriffen in wieder in ihr Dörfer zurückgebracht. Viele bezahlten den Versuch mit ihrem Leben. Aber dem einem oder anderen gelang es trotzdem zu fliehen und sich in den zentralen Gebieten Russlands niederzulassen. Nur vereinzelten Personen gelang es in ihre historische Heimat zurück zu gelangen. Insgesamt verließen in diesem Zeitraum nicht weniger als 2000 Kolonisten ihre Kolonien an der Unteren Wolga. Die zurück Gebliebenen lebten noch viele Jahre mit der Angst vor Überfällen.

In diesen ersten Jahren ihres Lebens in Russland hatten es die Kolonisten äußerst schwer. Die Ernten fielen aufgrund der in dieser Region herrschenden jahrelangen Dürre sehr schlecht aus, zudem traf das Saatgut der Regierung mit großen Verzögerungen ein, so dass die Aussaat nicht rechtzeitig erledigt werden konnte. Die Kolonisten, die an ein Leben unter kontinentalen Klimabedingungen nicht gewöhnt waren, litten unter Malariaanfällen. N den Dörfern brachen regelmäßig Epidemien aus, sowohl unter den Menschen als auch beim Vieh. Die Todesrate in diesen ersten Jahren war sehr hoch. In manchen Dörfern starben bis zu 80% der eingetroffenen Kolonisten.

Für Johann und seine Familie erwiesen sich diese ersten zehn Jahre an der Wolga, ebenso wie für die anderen Kolonisten als sehr schwierig. Besonders die ersten drei Jahre. Zu den physischen Erschwernissen und materiellen Entbehrungen, die das Ausmaß dessen, was sie einst zu Hause in Deutschland hatten ertragen müssen, bei weitem überstiegen, kam noch die unbändige Sehnsucht nach der Heimat. Das warme, milde Klima, der Nieselregen und der Nebel, das saftige Grün, die gemütlichen, von Efeu und Weinreben umrankten Häuschen, die Frauen mit ihren weißen, gestärkten Schürzen, die wohlrasierten Männer, die gewaschenen und gekämmten Kinder – das alles lag nun in ferner Vergangenheit und erschien Johann nur noch im Traum. Er konnte und mochte gern gut arbeiten, scheute keine Arbeit, aber das Verlangen nach einem Leben in der Stadt verfolgte ihn noch lange. Anna, die den größten Teil ihres Lebens auf einem Vorwerk verbracht hatte, litt, wie es schien, weniger, während es ihm offenkundig an städtischen Gebäuden, mächtigen Straßenzügen, Geschäften und, vor allen Dingen, Büchern fehlte. Zwei Gebetsbücher, ein Gesangbuch und ein Kinderbuch mit deutschen Volksmärchen hütete er wie ein Kleinod. An langen Winterabenden las er seinen Söhnen im trüben Lampenlicht mit angestrengten Augen Märchen vor. Anna setzte sich zugleich dazu und nähte: sie flickte und stopfte die abgenutzten Kleidungsstücke.

Johann liebte seine erzwungenen Fahrten zum Vormundschaftskontor und murrte nicht wie die anderen über den Papierkrieg und die verantwortungslosen Mitarbeiter dort. Ihm gefiel Saratow, besonders in den frühen Morgenstunden, wenn in den Straßen noch keine Passanten, Fuhrwerke und Equipagen unterwegs waren und die hinter der Wolga aufgehende Sonne sanft die Kuppel der Kirche und eine Reihe aus Stein und Holz gebauter Häuser anstrahlte. Er mochte die Kette der nicht sehr hohen, bläulich schimmernden Berge, die die Stadt umrahmten, und sie mit einer wahren Brandung aus grünen Eichenhainen überfluteten. Er mochte die Wolga in diesen frühen Morgenstunden, die so groß und ruhig dahinfloss. Tagsüber erwachte sie. Hunderte Schiffe, Lastkähne, Boote – die einen unter Segeln, die anderen mit Rudern betrieben, doch zumeist von Treidlern gezogen – hatten am Saratower Ufer festgemacht. Hier blühte der Handel – Fisch, Eingesalzenes, Getreide, Manufakturwaren, Kurzwaren. Am Tage ging er über den Markt, in der vergeblichen Hoffnung, einen in der Stadt wohnenden Artgenossen kennenzulernen. Aber davon gab es damals in Saratow nur sehr wenige, nicht mehr als hundert Menschen, vor allem wohlhabendere Vertreter der Intelligenz. In den tiefsten Tiefen seiner Seele bewahrte Johann die Hoffnung, hier in Saratow eines Tages eine Buchbinderei zu eröffnen. Aber dieser Traum war nicht dafür bestimmt in Erfüllung zu gehen. Die Sorgen des Landlebens sogen ihn immer mehr auf.
Eine signifikante Verlagerung zum Besseren im Leben der Kolonisten stellte sich erst 1775 ein, als sie nach starken Regenfällen ihre erste gute Getreideernte einbrachten. Nachdem sie ihr eigenes Saatgut ausgesät hatten, wurden die Kolonisten in ihrer eigenen landwirtschaftlichen Tätigkeit unabhängig. Mit diesem Jahr endete die Ausgabe von Geldanleihen und Mittel für den Unterhalt der Umsiedler. Die Folgejahre gestalteten sich den Siedlern zum Gefallen. Sie pflügten eine Menge Neuland, bauten gediegene Häuser und Hofgebäude, legten Gärten an, begannen Pferde, vor allem der Orlowsker Rasse, Kühe und Yorkshire-Schweine zu züchten, zogen an der neuen Stelle Kartoffeln, welche die Ortsansässigen erst 50 Jahre später anbauten, und befassten sich mit dem Anbau von Tabak. Tabak fand in den Jahren einen reißenden Absatz. Zuerst kauften Nomaden ihn, später erschienen Kaufleute aus den zentralen Regionen Russlands. Die Preise für Tabak und Getreide stiegen, die Höfe erholten sich und erstarkten.

Bereits Ende des 18. Jahrhunderts verkauften die Kolonisten in die benachbarten Gouvernements und die Hauptstadt baumwollene und halbseidene Tücher, feines Baumwollgarn, Baumwollstrümpfe und -Mützen, verschiedene halbseidene Materialien, Tabak, Kerzen, Seife, Leder usw. In den Kolonien entstanden kleine Leder- und Ziegelwerke, Tabak- und Senffabriken, Wasser- und Windmühlen. In Russland und im Ausland war der Baumwollstoff Sarpinka (benannt nach der Kolonie Sarepta) sehr gefragt. Der Sarepter Tabak wurde nach Persien und in die Türkei verkauft. Allerdings führten bei weitem nicht alle Kolonisten ein derartiges Leben. Mit dem Anwachsen der Familie begann die für einen Siedler vorgesehene Bodenzuteilung schnell kleiner zu werden. Wenn im Jahre 1767 auf eine Person noch 17 Desjatinen Land entfallen waren, so waren es 1816 nur noch 10.5 Desjatinen, 1848 - 3.8 und 1914 - 1.5. Die Zahl der landlosen Bauern nahm schnell zu. Infolgedessen war die Regierung gezwungen, den Kolonisten die gewerbliche Jagd und häusliches Handwerk zu gestatten.

Das Leben in den Kolonien selbst war nach den Prinzipien der Gemeinschaft und des Glaubens organisiert, nach denselben Mustern und Analogien, die schon jahrhundertelang in die Herzen der Umsiedler eingeprägt waren, die nicht dazu in der Lage waren, ihr zurückgelassenes Vaterland nicht mehr zu lieben. In den Dörfern wurden Schulen und Kirchen gebaut, häufig zur gleichen Zeit eine katholische und eine lutherische, weil man der Ansicht war, dass die nationalen Gefühle mit ihrer Hilfe leichter zu bewahren seien. Die Kolonisten, deren Mehrheit aus Schwaben (historische Bezeichnung für das im Südwesten der Bundesrepublik gelegene Bundesland Baden-Württemberg) stammten, verständigte sich hauptsächlich im schwäbischen Dialekt der deutschen Sprache. Später muss auch jeder die russische Sprache als Amts- und Staatssprache ihrer neuen Heimat können.

Das geistige Leben in den Kolonien jener Zeit wurde vollständig von der Tätigkeit der Gottesdiener definiert, die mit den Umsiedlern alle Erschwernisse des Alltagslebens teilten und unter ihnen großen Respekt genossen. Dass passte den Hierarchen der orthodoxen Kirche nicht. Aus Furcht vor einer Verbreitung des fremdländischen Glaubens in den russischen Dörfern erwirkten sie beim Vormundschaftskontor ein Verbot der Einmischung von Geistlichen in die alltäglichen Belange der Kolonisten. Infolgedessen wurde der geistige Einfluss der Kirche geschwächt. Das Vormundschaftskontor versuchte diesen Einfluss durch zahlreiche Instruktionen und Anordnung zu verändern, die das Familienleben der Kolonisten reglementierten. Von den Amtsbezirks- und Dorfältesten verlangte man, dass sie auf allen Versammlungen und bei privatem Umgang mit den Kolonisten diesen begreiflich machten, wie sie sich gegenüber ihren Eltern zu verhalten, wie sie ihre Kinder zu erziehen hätten, damit diese zu guten, fleißigen Menschen heranwüchsen. In den Anweisungen des Vormundschaftskontors wurde darauf hingewiesen, wie die Freizeit an den Sonntagen zu verbringen sei und dass man sich an Feiertagen beschenken dürfe. Verboten waren Tanz und Musik an den großen Kirchenfesttagen, das Singen und Spazierengehen der jungen Leute auf den Dorfstraßen zur Abend- und Nachtzeit. Besonders streng wurde Diebstahl bestraft. Neben einer vorgegebenen Anzahl von Peitschenhieben, wurde der Schuldige durch die Dorfstraßen geführt, wobei man ihm den gestohlenen Gegenstand auf den Rücken band. Nicht selten endete eine derartige Bestrafung in einer regelrechten Prozession, die vorwiegend aus jungen Menschen bestand, welche mit Ausrufen und Gejohle den Dieb bloßstellten. Für groß angelegten Diebstahl wurde der Täter aus der Gemeinde ausgeschlossen und nach Sibirien verbannt.

Weniger streng wurde Trunksucht verurteilt. Obwohl es auch hier besondere Anweisungen des Kontors und Beschlüsse der örtlichen Behörde im Kampf gegen dieses Übel gab, wurden Verstöße selten bestraft. Die Bekanntschaft der Siedler mit Wodka begann noch in der Zeit ihrer Migration nach Russland. Auf den Schiffen bekamen sie diesen Zaubertrunk jeden Tag. Nach ihrer Ankunft an der Wolga verbot man den Kolonisten sich mit Bierbrauerei zu beschäftigen, obwohl es nicht wenige Bierbrauer unter ihnen gab. Nachdem man den Kolonisten ihr heißgeliebtes Getränk entzogen hatte, gewöhnten sie sich allmählich an den Wodka, manche missbrauchten ihn, besonders an Festtagen, aber echte Alkoholiker waren in den Kolonien nur sehr selten anzutreffen. Ihre Namen wurden einmal im Jahr dem Vormundschaftskontor mitgeteilt.

An den langen Winterabenden, wenn es weniger Arbeit gab, trafen sich die erwachsenen Männer abwechselnd bei dem einen oder anderen, erzählten sich Geschichten, teilten ihre Eindrücke, spielten Karten und tranken. Die Frauen kamen ebenfalls in Gruppen zusammen, sie strickten oder machten andere Arbeiten, sangen Volkslieder und tratschten und klatschten ohne Ende.

Die alten Familienpfeiler zerfielen. Als der deutsche Historiker A.N. Minich die Sitten und Bräuche der Umsiedler beschrieb, schrieb er: «Die Kolonisten sind größtenteils grob und unhöflich, ihr Charakter ist hartnäckig und eigensinnig». Und das ist nicht verwunderlich. So wurden sie erst durch die alle Kräfte übersteigende Arbeit mit primitiven Werkzeugen, die häufigen Dürren, die alle Mühen zu Nichte machten, all die Qualen des landwirtschaftlichen Jahres, die laufenden Überfälle der Nomaden, die Demütigungen der Behördenvertreter und die Steuerabgaben. Es ist kein Zufall, dass in den ersten zehn Jahren fast die Hälfte der Kolonisten «das Zeitliche segnete». Doch das war ein echtes Vermächtnis an die Übriggebliebenen: unbedingt zu überleben.

In all diesen Jahren vergaßen die Umsiedler nicht ihre Kinder zu unterrichten. Die ersten Lehrer waren traditionsgemäß die Schulmeister – Gehilfen der Gottesdiener, die auf Kosten der Gemeinde unterhalten wurden. Die Schulmeister wurden aus den Reihen der Lehrer und Studenten gewählt, von denen es unter den Kolonisten nicht wenige gab. In der ersten Zeit, bis zum Bau der Schulen, fand der Unterricht in der Wohnung des Lehrers statt. Dafür bezahlte die Gemeinde ihn extra. Später fand der Unterricht in zünftigen Schulen statt, die in allen Ortschaften neben den Kirchen gebaut wurden. Dort lernten die Jungs Lesen, Schreiben und Rechnen sowie das Göttliche Gesetz. Die Mädchen – nur Lesen und das Göttliche Gesetz. Der Unterricht erfolgte in der Muttersprache. Insgesamt stand es in den ersten zehn Jahren um die schulischen Dinge in den Kolonien nicht schlecht. Bei keiner anderen Volksgruppe in Russland gab es zur damaligen Zeit allgemeine Volksschulen. Das Ergebnis war die höchste Alphabetisierungsrate in Russland. Allerdings zeigte sich die Isoliertheit der Kolonisten von kulturellen Prozessen in Deutschland und Russland. Noch viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, blieben ihnen die Werke der in jenen Jahren noch jungen F. Schiller und W. Goethe unbekannt. Die Unkenntnis der russischen Sprache machte es unmöglich, Bekanntschaft mit den Werken D.I. Fonwisins, N.M. Karamsins, A.N. Radischtschewa zu machen. Trotzdem verschaffte das deutsche Wolgagebiet Russland nicht wenige Akteure aus dem Bereich der Kultur und der Wissenschaft: der Dekabrist und Mittelasien-Forscher A.J. Knobloch; der Kritiker, Poet, Übersetzer und Mitarbeiter des Puschkinschen «Zeitgenossen», E.I. Guber (Grubber); der Historiker, Heimatkundler, Autor zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten A.N. Minich und viele andere.

Mit der Aufteilung des russischen Staates in Gouvernements wurde die Vormundschaftskanzlei in Petersburg, wie auch das Vormundschaftskontor in Saratow, entsprechend eines Dekrets Katharinas II vom 30. April 1782, d.h. weniger als zwanzig Jahre nach Herausgabe des Manifests, liquidiert. Aufgehoben wurden auch alle anderen Rechte, die das Manifest den Kolonisten gewährt hatte, aber auch die lokale Selbstverwaltung. Alle Kolonisten waren nun den russischen Kron- (staatlichen) Bauern gleichgestellt, und die allgemein geltenden Staatsgesetze wurden auf sie ausgeweitet. Jetzt bekamen die Kolonisten es mit der Schatzkammer, mit Isprawniks (Landkreis-Polizisten; Anm. d. Übers.), Gerichtsvollziehern, Boden- und Landkreisgerichten zu tun. Die Beamten verhielten sich ihnen gegenüber in grober Weise und ohne viel Federlesens zu machen. Vielfach kam es zu Erpressungs- und Bestechungsversuchen. Besonders zu leiden hatten sie aufgrund ihrer Unkenntnis der russischen Sprache. Und so war es ihr größter Wunsch, eine Führung und Verwaltung zu haben, die in der deutschen Sprache bewandert war. In dieser «unkontrollierten Zeit» verloren die Kolonisten viele der fruchtbarsten Böden, die ihnen im Augenblick der Ansiedlung zugeteilt worden waren. Sie wurden unter russischen Kron-Bauern und russischen Adelsfamilien aufgeteilt.

Gleichzeitig beanspruchten die wachsenden Familien der Kolonisten gemäß Vertrag neues Land. Anscheinend löste dieser Umstand die Verabschiedung des Dekrets vom 9. Mai 1785 aus, welches den Kolonisten eine Umsiedlung in den Nord-Kaukasus, in das Gebiet um Mosdok, erlaubte. Allerdings fand die geplante Umsiedlung nicht statt. Ende der achtziger Jahre wurde anstelle der Familienzuteilung eine Aufteilung des Ackerlandes auf die Anzahl der männlichen Seelen in der Bevölkerung eingeführt. Lediglich Weiden und Wald blieben zur allgemeinen Nutzung der Gemeinde.

Zu dieser Zeit hatten sich Johann und Anna, die nun schon mehr als ein Vierteljahrhundert in Gattung lebten, vollständig an das Leben in der neuen Heimat eingewöhnt: sie bauten Weizen, Roggen, Lein und Hanf an, pflanzten Kartoffeln und Tabak, kümmerten sich um ihr Vieh. Die älteren Söhne, die mit ihnen aus Deutschland gekommen waren, waren herangewachsen, hatten sich verselbständigt, nachdem sie von der Gemeinde und dem Vormundschaftskontor ihre Bodenzuteilung (jeweils 20 Desjatinen pro Kopf der männlichen Bevölkerung) erhalten hatten. Der Jüngste, Jakob, der 1776 bereits in Russland geboren worden war, wohnte noch bei den Eltern. Nach damals geltendem Recht sollte er, der jüngste Sohn in der Familie, nach dem Tod des Vaters dessen Hof erben. Johann starb 1805 i Alter von 73 Jahren. Anna lebte noch 8 Jahre in Jakobs Familie.

Jakob Johannowitsch Maier war auch der Urgroßvater meines Vaters (mein Ururgroßvater). In Jakobs Familie gab es vier Söhne. Den ältesten, der 1802 geboren wurde, als Jakob 26 Jahre alt war, nannten sie zu Ehren des Großvaters Johann; den zweiten, geboren 1804, zu Ehren des Vaters - Jakob; den dritten, geboren 1806, - Genrich (Heinrich; Anm. d. Übers.); den vierten, geboren 1810, - Anton. Es war die zweite Generation der Maiers, die auf russischem Boden geboren war.

Die Jahre gingen dahin, die heranwachsenden Söhne wurden immer aktiver ins wirtschaftliche Leben der Familie einbezogen. Doch ihre Aktivitäten wurden durch den Mangel an freiem Land eingeschränkt. In einer analogen Situation befanden sich zahlreiche Familien, nicht nur in Gattung. In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts begann die eigenmächtige Umsiedlung der Kolonisten auf die Orenburger Ländereien, wo sie von ortsansässigen Grundherrn Land als Besitz «für immer» erwarben. Zur Unterbindung derartiger eigenmächtiger Aktionen der Kolonisten und zur Stärkung der inneren Ordnung unter ihnen führte der Staat eine Einrichtung von Gebietsaufsehern ein. Sie waren die Ohren und Hände des Innenministeriums. Die Gebietsaufseher verfügten über umfangreiche Vollmachten, und viele unschuldige Menschen mussten unter ihnen leiden. Doch die sich fortsetzende Landknappheit und der Rückgang des landwirtschaftlichen Einkommens taten das Ihre. Es setzte eine Abwanderung ganzer Familien und einzelner Mitglieder von Großfamilien in die Städte ein, insbesondere nach Saratow. Hier gründeten sie die «Deutsche Siedlung», die im Laufe der Zeit mit der Stadt verschmolz und später zu ihrem Zentrum wurde (die Deutsche und die Nikolskaja Straße).

Jakob Johannowitsch Maier starb 1831, er wurde 55 Jahre alt. Den Hof erbte, entsprechend dem Gesetz, sein jüngster Sohn Anton, der damals gerade einundzwanzig Jahre alt war. Die Situation der älteren Brüder – Johann, Jakob und Heinrich, die zu der Zeit schon ihre eigenen Familien gegründet hatten, wurde komplizierter. Das Land, das der größer gewordenen Familie zur Verfügung stand, konnte sie schon nicht mehr ernähren. Johann und Jakob waren gezwungen etwas hinzuzuverdienen, Zimmermannsarbeiten zu erledigen. Heinrich und Anton arbeiteten auf dem Feld.

Unter Berücksichtigung der Lage, die sich an der Unteren Wolga eingestellt hatte, teilte die Regierung Nikolais I den deutschen Kolonisten 1840 neue Landstücke zu, vor allem östlich der vorherigen Kolonien. Dorthin siedelten zwischen 1848 und 1867 zahlreiche Familien aus den alten Kolonien (Mutterkolonien) über und gründeten 66 neue (Tochterkolonien): 12 auf der Berg- und 54 auf der Wiesenseite der Wolga. Unter den Ersten, die in die neuen Kolonien umzogen befanden sich Johann und Jakob mit ihren Familien. In Gattung blieben Anton und Heinrich zurück. In Heinrichs Familie gab es drei Söhne: Friedrich, geboren 1830, Karl, geboren 1836 und Franz, geboren 1840. Sechs Jahre später wurde Töchterchen Anna geboren. Auch Anton besaß eine große Familie. Sie hatten kein leichtes Leben, doch Heinrich Jakowlewitsch entschied sich dafür, nicht auf die neuen Ländereien umzuziehen. Ers t drei Jahre nach seinem Tod, er starb 1857 im Alter von 51 Jahren, machte sich sein ältester Sohn Friedrich zusammen mit einer großen Gruppe Auswanderer aus den Ortschaften Gattung, Solothurn, Watman und Schenchen auf den Weg nach Marienburg – eines der neuen Dörfer im Wjerchnekaramansker Amtsbezirk, Nowousnensker Landkreis, Gouvernement Samara.

Für die nach Marienburg Umgesiedelten begann alles wieder von vorn: der Bau einer Behausung, die Urbarmachung von Neuland, die Anschaffung von Vieh, mit dem einzigen Unterschied, dass ihnen die finanziellen nun nicht der Staat zuteilte, sondern die Kolonien, welche die Umsiedler verlassen hatten, und ihre Familien selbst. Die von bitterer Erfahrung gebeutelten Kolonisten kamen auch auf den neuen Ländereien schnell wieder auf die Beine. Aufgrund all dieser Abwanderungen wurde Jakob Johannowitschs Familie, seine Kinder und Enkelkinder auf dem gesamten riesigen Territorium der Wolga-Steppen verstreut. Ihre Kontakte zueinander gingen nach und nach verloren. Die schwere landwirtschaftliche Arbeit ließ keine Zeit für Briefwechsel und erst recht nicht für persönliche Besuche, die viel Geld und tagelanges Reisen erfordert hätten und außerdem mit nicht geringen Gefahren verbunden gewesen wäre.

In Marienburg heiratete Friedrich Genrichowitsch Maier, der Vater meines Vaters und mein Großvater die Tochter des Kolonisten Faller aus Katharinenthal. Sie hieß Dorothea. In Marienburg bekamen sie drei Söhne: 1864 – Karl, 1867 – Adolf, 1870 – Eduard und 1873 Tochter Amalia.
Die Haltung des russischen Staates und der Gesellschaft gegenüber den Russland-Deutschen begann sich nach dem Zusammenschluss der germanischen Länder und des 1871 gegründeten geeinten deutschen Imperiums schnell zu verschlechtern, da dessen geopolitische Interessen auf dem Balkan mit analogen Interessen Russlands in dieser Region stießen aufeinanderprallten. Es kam zur Konfrontation zwischen den beiden Reichen, die schließlich zum Ausbruch des Krieges im Jahre 1914 führte.

Vieles in der Aktivität der deutschen Kolonisten ärgerte die russische Öffentlichkeit: sowohl, dass ihre Bevölkerung so schnell anwuchs, als auch ihr im Vergleich größerer Wohlstand, die vermeintlichen Vergünstigungen, das Aufkaufen von Land bei heruntergewirtschafteten Gutsherrn und nicht zuletzt ihre Sturheit gegenüber einer Assimilation, besonders der religiösen. Der 1907 herausgegebene «Reiseführer entlang der Wolga und ihrer Nebenflüsse» erklärte: «Die deutschen Kolonisten führen ein abgeschlossenes Leben, halten sich streng an ihre lutherische oder katholische Religion, die Sitten und Gebräuche ihres Landes, untergeben sich kaum der russischen Lebensweise; sie bewahren ihre deutsche Sprache und sprechen kaum Russisch, und wenn, dann nur, wenn es für sie unerlässlich ist. Ehen mit Russen gibt es nicht, und in ihrer gesamten Lebensweise und mentalen Einstellung sieht man den Einfluss des Heimatlichen».

In dieser Hinsicht unterschieden sich vor allen Dingen die Mennoniten, die sich in zwei Partien in Russland niedergelassen hatten: die erste – zur Zeit der Zarinnen-Herrschaft Katharinas II und die zweite – während der Zarenregentschaft Alexanders II. Das Mennonitentum entstand in den Niederlanden in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts. Ein Element ihres Glaubensbekenntnisses war die Verweigerung, in jedweder Form Staatsdienste zu leisten, unter anderem auch die Verweigerung des Wehrdienstes. In ihrer Heimat wurden die Mennoniten grausam verfolgt, so dass sie gezwungen waren, zunächst nach Polen und Preußen und dann nach Russland umzusiedeln.

Sowohl Katharina II als auch Alexander II riefen die Mennoniten ins Land, in der Hoffnung, dass ihre umfangreichen Kenntnisse und ihre reiche Erfahrung in der Landwirtschaft, vor allem aber in der Viehzucht, die Entwicklung letzterer in Russland fördern könnte. Beide Regenten versprachen den Mennoniten und ihren Nachfahren Freiheit in der Ausführung ihrer religiösen Bräuche, Befreiung von der Wehrpflicht, große Landzuteilungen (bis zu 60 Desjatinen pro Familie), eine Steuerbefreiung für zehn Jahre usw. Infolgedessen bildeten gerade die Mennoniten die unzugänglichste, einheitlichste und materiell gut gesicherte Umsiedler-Gruppe.
Die Ausbreitung und Festigung einer solchen Einheit auf russischem Boden, verbunden mit der wachsenden Macht des deutschen Imperiums und «Vorherrschaft» der deutschen in den staatlichen Einrichtungen löste offenes Missfallen in der russischen Gesellschaft aus. Es erschienen Artikel, Bücher, in denen davon die Rede war, dass die Deutschen planmäßig «Russland eroberten», sein Land aufkauften und übernahmen. Die Regierung, alarmiert durch die sich entwickelnde Situation und die öffentliche Meinung, verabschiedete 1874 eine Reihe von Gesetzesakten, die den Kolonisten die letzten Reste ihrer Selbstverwaltung, ihrer kulturellen Autonomie sowie die Freistellung vom Militärdienst entzogen.

Das Saratower Vormundschaftskontor, das seinerzeit von Pawel I eingerichtet worden war, wurde erneut liquidiert. Es wurde eine neue Führungsgruppe eingesetzt – die Kreis-Selbstverwaltung, der sich unmittelbar die Landkreis-Regierungen unterordneten und die auch die schulischen Angelegenheiten leitete. Es wurde vorgeschlagen, den Unterricht in russischer Sprache abzuhalten. Das war ein heftiger Schlag für die Kolonisten, die kein Russisch konnten. Selbst die Bezeichnung «Kolonist» wurde durch eine andere ersetzt - «Siedler- Eigentümer». Und die Steuern wurden erhöht – zu denen des Staates, des Amtsbezirks und des Dorfes kamen nun noch die Selbstverwaltungssteuern hinzu.

Als natürliche Reaktion der Kolonisten auf derartige Maßnahmen der Regierung erfolgte eine Massen-Migration, hauptsächlich nach Kanada und die Vereinigten Staaten, wo alle Umsiedler erwünschte Personen waren. Dort gab es jede Menge freies Land und keine Wehrpflicht. Die russische Regierung ihrerseits legte den Kolonisten, die aus Russland ausreisen wollten, keinerlei Hindernisse in den Weg. Infolgedessen wanderten Ende der siebziger Jahre mehrere hunderttausend Personen nach Südamerika, Kanada und die Vereinigten Staaten aus.

Außerdem zog es tausende deutscher Familien in den Süden West-Sibiriens, wo es nach Informationen, die ihnen zu Ohren gekommen waren, viele verödete Ländereien gab und keine so grausame Aufsicht seitens der zentralen Machtorgane.

Mein Großvater, Friedrich Genrichowitsch Maier, wie im Übrigen auch seine Brüder Karl und Franz, unternahm keinen Versuch aus Russland auszuwandern. Alles lief darauf hinaus, dass er 1875, nachdem er seinen Besitz in Marienburg verkauft hatte, zusammen mit der Familie nach Saratow zog, wo er ein kleines zweistöckiges Haus in der Zarizynsker Straße 50 erwarb. Im ersten Stock richtete er eine Buchbinderei ein, mit der er endlich den schon seit ewigen Zeiten von Generation zu Generation weitergegeben Traum seines Urgroßvaters Johann über ein Leben in der Stadt verwirklichte. In der Buchbinderei arbeitete er selbst, wobei er seine herangewachsenen Söhne mit hinzuzog. Hier in Saratow wurden ihm und seiner Frau Dorothea 1876 Jelena, 1878 Friedrich und 1881 Mathilda geboren. Das war die vierte Generation der Maiers auf russischem Boden.

Der entsprechende Stammbaum wird auf der nächsten Seite aufgezeigt. In Bezug darauf müssen wir zusätzlich anmerken, dass Jakob noch zwei weitere Söhne hatte, die in Deutschland geboren wurden und mit den Eltern nach Russland kamen, allerdings ist mir über ihr Schicksal nichts bekannt, und im Stammbaumíî werden sie überhaupt nicht benannt. Nicht bekannt ist mir auch das Schicksal von Jakobs Kindern: Johann, Jakob und Anton sowie der Kinder von Heinrich: Karl und Franz. Über die Familie des Großvaters, Friedrich Genrichowitsch, bin ich besser informiert.
Nach der Revolution wurde in allen Dokumenten der Vorname Friedrich auf die russische Variante Fjodor abgeändert: der Vater wurde zu Adolf Fjodorowitsch und Onkel Friedrich Friedrichowitsch zu – Fjodor Fjodorowitsch.

Stammbaum der Familie Maier auf russischem Boden

      Johannes
gest. 1805
     
      Jakob
1776-1831
     
Johannes geb. 1802  Jakob  geb. 1804 Genrich (Heinrich) 1806-1857   Anton geb. 1810      
 Friedrich 1830-1910 Karl  geb. 1836 Franz   geb. 1840 Anna geb. 1846      
Karl 1864-1944 Adolf 1867-1928 Eduard 1870-1921 Amalia   1873-1943 Jelena 1876-1946 Friedrich 1878-1945 Mathilda 1881-1966
Jelena geb. 1903    Maria geb. 1903        
Romuald 1904-1908 Erna 1906-1978  Genrietta  (Henriette) 1917-1994 Robert geb.1921 Olga  geb.1918 Viktor Elvira
1924-1977

 Eine enge Verbindung unterhielt mein Großvater, Friedrich Genrichowitsch, mit seiner Schwester Anna Dorzweiler, die einige Jahre nach der Abreise des älteren Bruders aus Marienburg ebenfalls, zusammen mit ihrem Ehemann, nach Saratow zog. Sie hatten eine Tochter – Jelisaweta Befort, welche die Kusine meines Vaters war. In unserer Familie nannte man sie Tante Lieschen. Tante Lieschen hatte zwei Kinder: einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn, der während der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik eine Konditorei (Produktion und Handel) besaß, war praktisch nie bei uns. Auf jeden Fall erinnert sich keiner von uns daran. Eine andere Geschichte – seine Tochter Jelena, die bei uns mal Lendi, mal Lenchen gerufen wurde. Lenchen wohnte bei ihrem Bruder und kam oft zu uns. Obwohl Lenchen 9 Jahre älter war als Ernotschka, war sie dicke Freundinnen. Lalja (Henriette) wiederum war sehr gut mit Olja Maier befreundet, der Tochter von Onkel Fedja (Friedrich Friedrichowitsch Maier), der 1918 geboren wurde.

Da die weitere Erzählung mit Adolf Fjodorowitsch Maiers Familie im Zusammenhang steht, halte ich es für notwendig, euch, meinen Kindern und Enkeln, das Wenige mitzuteilen, was mir über unsere anderen Verwandten väterlicherseits bekannt ist.

Karl Fjodorowitsch (Friedrichowitsch) Maier (1862 - 1944), starb in der Ortschaft Kailach, Gebiet Nowosibirsk, wohin er während der Massen-Deportation der Wolgadeutschen im Alter von 79 Jahren ausgesiedelt wurde; er lebte in schrecklichem Elend und starb faktisch an Hunger. Seine Ehefrau – Maria Michailowna – starb bereits 1940 und entging so der Aussiedlung. Die beiden hatten zwei Kinder: einen Sohn, der infolge eines Peitschenschlags auf sein Bein eine Knochen-Tuberkulose erlitt und noch sehr jung starb, und Tochter Jelena, die 1903 geboren wurde und später den Agronom Lebedew heiratete. Die Tatsache, dass Lebedew Russe war, rettete sie vor der Massen-Deportation des Jahres 1941.

Eduard Fjodorowitsch Maier (1870 - 1921), starb in Saratow in dem Jahr, in dem ich geboren wurde. Er war verheiratet. Seine Tochter Maria Eduardowna war mit einem Trinichin verheiratet, was sie ebenfalls später vor der Deportation 1941 bewahrte.

Fjodor Fjodorowitsch Maier (1878 - 1945) arbeitete bis zur Aussiedlung in der Hauptbibliothek der Staatlichen Universität Saratow, der N.G. Tschernyschewsky-Universität. Er war verheiratet und besaß drei Kinder: zwei Töchter namens Olga und Elvira sowie Sohn Viktor. 1941 wurde er zusammen mit seiner Ehefrau und Tochter Elvira in die Ortschaft Narym im Nowosibirsker Gebiet ausgesiedelt, wo er 1945 verstarb. Seine Tochter, Olga Fjodorowna Maier, geboren 1918, war mit einem Russen verheiratet und wurde deshalb nicht 1941 aus Saratow ausgesiedelt. Lange Zeit lebte sie mit ihrem Ehemann im elterlichen Haus in einer Einzimmer-Wohnung. Fjodor Fjodorowitsch Maiers Sohn, Viktor Fjodorowitsch, wurde 1941 in die Arbeitsarmee mobilisiert, in der sich Leben und Arbeit nur wenig von denen in einem Lager unterschieden. Er verstand es zu überleben. Nach der Sonderansiedlung lebte er in der Nähe von Tula. Es wird eure Aufgabe sein, meine Kinder, herauszufinden, in welchem Alter er starb, ob er Kinder hatte und, wenn ja, wo sie sich heute befinden. Fjodor Fjodorowitschs jüngste Tochter, Elvira Fjodorowna, heiratete Lew Ernestowitsch Buchheim. Sie haben drei Kinder: zwei Söhne – Alexander und Sergej – sowie eine Tochter namens Olga; sie lebten in Nowosibirsk.

Amalia Fjodorowna Maier (1873 - 1943) wurde 1941 im Alter von 68 Jahren zusammen mit dem ältesten Bruder Karl in die Ortschaft Kailach im Nowosibirsker Gebiet ausgesiedelt; sie lebte in schrecklichem Elend und verhungerte 1943.

Jelena Fjodorowna Maier (1876 - 1946). Sie starb wie ihr jüngster Bruder und ihre ältere Schwester in der Verbannung.

Mathilda Fjodorowna Maier (1881 - 1966) wurde als Deutsche ebenfalls ins Nowosibirsker Gebiet ausgesiedelt. Anfangs lebte sie in großer Armut, aber später gelang ihr der Umzug zu ihrer Nichte, meiner ältesten Schwester Erna Adolfowna Gunger, die sich ebenfalls in Sonderansiedlung im Nowosibirsker Gebiet befand. Sie war die letzte der einst zahlreichen und einmütigen Familie von Friedrich und Dorothea Maier. Mathilda Fjodorowna starb im Alter von 85 Jahren in der Ortschaft Sdwinsk, Gebiet Nowosibirsk, in den Armen ihrer geliebten Nichte.

Dem Leben und Schicksal der Kinder von Adolf Fjodorowitsch Maier ist die weitere Erzählung gewidmet.

Von Mamas Verwandten ist mir lediglich bekannt, dass ihr Großvater Robert Irgang, der in den dreißiger Jahren in Dresden lebte, zwei oder drei Söhne besaß, die nach den Berichten der Mutter Ärzte waren.

Ergänzung, die nicht mit ins Buch aufgenommen wurde.

Fjodor Fjodorowitsch Maiers (wir nannten ihn Onkel Fedja) Ehefrau hieß Antonina. Ihr Vater war Tscheche, der möglicherweise im ersten Weltkrieg flüchtete oder hinter dem tschechoslowakischen Korps zurückblieb. Die beiden hatten vier Kinder, drei Töchter und einen Sohn. Eine der Töchter, ich weiß ihren Vornamen nicht, starb im Alter von 18 Jahren an der Cholera, die andere, Olga (1918), war mit meiner Schwester Henriette (Tante Lalja) gut befreundet. Noch vor dem Krieg heiratete sie einen Russen und wurde deshalb 1941 nicht aus Saratow ausgesiedelt. Lange Zeit lebte sie mit ihrem Mann in einer Ein-Zimmer-Wohnung im elterlichen Haus.

Viktor Fjodorowitsch Maier wurde 1941 in die Arbeitsarmee einberufen, er überlebte. Nach der Sonderansiedlung lebte er nahe Tula. Er starb in den neunziger Jahren. Er hatte zwei Söhne (Valentin Viktorowitsch und Igor Viktorowitsch) sowie eine Tochter, deren Namen ich nicht in Erfahrung bringen konnte.

Fjodor Fjodorowitsch Maiers jüngste Tochter, Elvira Fjodorowna, wurde zusammen mit Vater und Mutter 1941 nach Narym ausgesiedelt. In Sibirien heiratete sie Lew Ernestowitsch Buchheim. Sie haben drei Kinder: zwei Söhne – Alexander und Sergej und eine Tochter namens Olga. Alexander Lwowitsch (geb. 1948) Buchheim ist mit Tatjana verheiratet, seine Söhne – Sascha und Lew. Sergej Lwowitsch Buchheim hat einen Sohn – Sergej – und eine Tochter – Jelena. Über Kinder von Olga Lwowna Buchheim (Ehename Kolerowa) ist mir bislang nichts bekannt.

 

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