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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Teil I
Sorgenvolle Jugend

Kapitel 2. Saratow

Im Leben der deutschen Kolonisten spielte Saratow eine sehr große Rolle. Hier befand sich die über sie herrschende Staatsmacht. Hierher fuhren sie, um eine Entscheidung in Eigentumsstreitigkeiten zu erwirken, hier befand sich auch der wichtigste Markt für den Absatz ihrer Waren. Letztendlich war Saratow nicht nur administratives Zentrum der Statthalterschaft, sondern ab 1897 – auch das Zentrum des Saratower Gouvernements sowie das kulturelle Zentrum der großflächigen Region, in das die mehr oder weniger wohlhabenden Kolonisten anstrebten, ihre Kinder zur Ausbildung schickten.

Am abfallenden, erhöhten Ufer der Wolga gelegen und an drei Seiten von Bergen umgeben, verfügte Saratow über ein sehr malerisches Aussehen, besonders, wenn man vom Sokolowa-Berg herunterblickte – der höchsten Erhebung in der Umgebung der Stadt. Breite Straßen, Gebäude, Gärten – ihre akkurate, lineare Anordnung unterstrich die Bedeutsamkeit der Stadt. Fast genau gegenüber, am linken Ufer der Wolga konnte man die Pokrowsker Siedlung und die unabsehbare Steppe sehen, die sich über die Wiesenseite bis weit zum Horizont erstreckte. In der Ferne, am rechten Ufer, Richtung Süden, erhob sich der Berg Uvek, einst der Sitz der berühmten Goldenen Horde. Die Wolga, sich majestätisch ausbreitend mit ihren Inseln, Sandbänken und Nehrungen, ergänzte die Schönheit dieses herrlichen Panoramas. Das gesamte rechte Ufer südlich von Saratow schimmerte von einer Vielzahl Datschen, Vorwerke, Dörfer; all das versank im Grün der Gärten, all das belebte die Gegend. Noch etwas weiter, etwa 20 Werst unterhalb von Saratow, änderte das Ufer jäh seinen Charakter, stellte sich in einer Reihe kahler Klippen dar, welche die gemeinsame Bezeichnung Stolbitschi trugen.

Doch das Saratow jener Jahre ist nicht nur eine schöne Stadt und das Verwaltungszentrum der Wolga. In ihr begannen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schnell Industrie und Handel zu entwickeln. Dampfmühlen und Molkereien wurden errichtet. Die Stadt wurde zum Zentrum des Mehlmahlens und des Getreidehandels. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden hier mehr als 3 Millionen Pud Mehl hergestellt. Die Bevölkerungszahlen stiegen schnell an. Lebten im Jahre 1838 45000 Menschen in Saratow, so waren es nach der Volkszählung von 1897 bereits 137000.

Die wichtigste Handelsader der Region in jenen Jahren war die Wolga. Der Warenumschlag an den Saratower Anlegestellen war dermaßen groß, dass das Stadtufer der Wolga, das sich über eine Länge von 6 Werst erstreckte, oft nicht in der Lage war, sämtliche in Saratow zusammengekommenen Schiffe unterzubringen. An den Anlegestellen sah man während der schiffbaren Zeit des Jahres einen ganzen Wald von Masten, dazwischen schimmerten die Schornsteine der Dampfschiffe, und am Ufer liefen die Menschen aufgeregt herum und lärmten, beschäftigt mit dem Be- und Entladen der Schiffe. Zur Belebung dieses Ortes, der einen reinen Fabrik-Charakter aufwies, trug auch das hier vorbeiführende Zweiggleis der Gütereisenbahn bei. Das Dröhnen der Züge, der Qualm aus den zahlreichen Fabrikschloten, die Karren mit Mehl, Getreide und allen möglichen Waren verliehen diesem Eckchen von Saratow das Aussehen kaufmännischer Aktivität und Lebhaftigkeit.

Eine bemerkenswerte Rolle im Leben und in der Entwicklung Saratows spielten die deutschen Kolonisten. Den reichsten von ihnen, wie den Industriellen und Kaufleute Reinike, Schmidt, Seifert und anderen, gehörten Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, die größten Dampfmühlen, Mehl-Anlegestellen und viele bekannte Läden. Ihnen gehörte die Produktion von Sarpinka – eines Stoffes, der sich in Russland großer Nachfrage erfreute. «Für die deutschen Kolonisten ist Saratow, im wahrsten Sinne des Wortes, die Hauptstadt. Hierhin streben sie, um Einkäufe zu tätigen und um den ganzen Liebreiz einer großen Stadt zu bestaunen. Deshalb begegnet man in Saratow sowohl in den Straßen als auch in den Läden, auf dem von Händlern wo geliebten Sennaja-Platz überall den typischen Gestalten deutscher Kolonisten in ihren langen Wämsern, mit glatt rasierten Gesichtern und Kolonistinnen mit ihren Hauben und großen Schürzen; deswegen sieht man in vielen Schankwirtschaften und Tavernen deutsche Aushängeschilder, ja, und die Hauptstraße von Saratow trägt den Namen Deutsche Straße», – schrieb 1913 der Autor des Buches «Entlang des mächtigen russischen Flusses» - A. P. Walujew.

Die älteste Straße in Saratow ist die Moskowskaja. Sie verlief fast von der Wolga bis ganz an den Stadtrand, wo sich der komfortable und schöne Bahnhof der Rjasan-Ural-Eisenbahnlinie befand. Die Moskowskaja-Straße bildete den zentralen Nerv von Saratow und konzentrierte die wichtigsten Handels- und Administrationsgebäude in sich. Beinahe auf seiner halben Länge befand sich der ausgedehnte Chlebnaja-Platz. In jenen fernen Jahren lagen auf seiner einen Seite Marktreihen und Brotläden, auf der anderen – der neue Markt und links von ihm, in der Mitte des Platzes, wurde das Theater erbaut.

Wenn die Stadtbewohner in jenen Jahren in diesen Bezirk gerieten, fühlten sie sich sogleich in eine Basar-Atmosphäre versetzt. Belebter Betrieb bei den Anspännern, Marktschreier für Esswaren und allerlei Klimbim, ein über das andere Mal vorbeihuschende Gestalten «kleiner Jungen», die zu den Tavernen eilten, um kochendes Wasser zu holen, Menschen in abgetragener Kleidung, Krämer usw. – alles zeugte davon, dass hier ein ausgedehntes Marktwesen stattfand. Wenn die Menschen diese Sperre durchschritten, gerieten sie geradewegs auf den Basar. Die große Markthalle für Fleisch, Grünzeug und Fischhandel, das Feilschen mit Vögeln und Boote mit allem möglichen Kleinkram, Verkaufsstände mit Möbeln, Särgen, ausgekochten Esswaren, Gasthäuser, Schankstuben, Schneidereien usw. usw.

Eine große Rolle im Leben der Stadt spielte auch die zweitbedeutendste Straße Saratows – die Nemezkaja (die Deutsche). -Sie verlief parallel zur Moskowskaja-Straße in geringer Entfernung zu ihr. Zwischen beiden verliefen lediglich zwei Straßen: die Zarizyner und die Bolschaja Kasatscha. Allerdings war die Nemezkaja merklich kürzer als die Moskowskaja. Beginnend an der Nikolsker Straße endete sie am Mitrofanowsker Platz an der Kreuzung zur Ilinsker Straße.

Nach Einschätzung von Zeitgenossen war die Nemezkaja die prächtigste und eleganteste Straße in der Stadt. Es gab von Anfang bis Ende der Straße verschiedenartige und zahlreiche Etablissements. Das große Hotel der Gudkows, Kornejews «Wintergarten», Restaurants und Konditoreien, Redaktionen und typografische Anstalten der Zeitungen, Juweliergeschäfte und Geschäfte mit Kolonialwaren, jede Menge Fotoateliers. Hier befand sich auch die katholische Kirche des Heiligen Kliment mit seinen beiden prächtigen gotischen Glockentürmen, zwischen denen sich die Statue des Apostels Peter erhob. Die Deutsche Straße zeichnete sich in jenen Jahren durch den ständigen Verkehr von Equipagen und Fußgängern, einer Menge müßiger Leute aus. Ganz besonders belebte sie sich nach vier Uhr nachmittags, wenn sich das gewohnte Publikum noch zusätzlich durch Liebhaber des Spazierengehens und Herumlaufens vervielfältige.

Die Bedeutung dieser beiden Straßen für die Familie Maier wurde, neben ihrem allgemeinstädtischen Status, dadurch definiert, dass die Zarizyner Straße, auf deren unterem Ende sich ihr Haus befand, genau zwischen der Moskowskaja und der Deutschen Straße gelegen war. Von der Moskowskaja war sie lediglich durch einen Häuserblock, von der Deutschen Straße durch zwei getrennt. Über die Moskauer begaben sie sich zum Bahnhof, und zur Wolschsker Anlegestelle. Später fuhren Onkel Karlusch und mein Vater durch diese Straße zur Arbeit bei der Verwaltung der Rjasan-Ural-Eisenbahnlinie (RUSchD). Auf der Deutschen Straße gingen sie mit der ganzen Familie zum Gottesdienst in die Kirche. Oft gingen dort auch heimlich, ohne Wissen der Eltern, die jungen Mitglieder der Familie spazieren. Später benutzte Ernotschka die Straße, wenn sie zum Unterricht am Konservatorium ging, und Lalja und ich rannten dort auf dem Weg zur Schule entlang, allerdings wohnten wir da schon in einem anderen Haus.

Die Zarizyner Straße unterschied sich sehr von ihren bedeutsamen Nachbarstraßen. Bebaut war sie vorwiegend mit kleinen einstöckigen Häusern. Es gab weder Geschäfte noch Verwaltungsgebäude, nicht einmal eine Schule. Und keinen speziellen Stadtverkehr. Dafür gab es in den Höfen und auf der Straße sehr viel Grün, und es herrschte eine derartige Stille, dass es einem schwerfiel zu glauben, dass das Stadtzentrum in unmittelbarer Nähe lag.

Das Leben der Familie Maier verlief ruhig und gemessen, ohne besondere Vorkommnisse und Streitereien. Die Kinder gingen zur Schule und halfen den Eltern bei der Arbeit in der Werkstatt und im Haus. Die Familienmoral wurde in dieser Zeit voll und ganz durch die Eltern, ihre Erziehung, ihre Gewohnheiten und Ansichten bestimmt.

Friedrich und Dorothea, die Eltern meines Vaters, stellten ein typisches Ehepaar des römisch-katholischen Glaubensbekenntnisses dar. Tiefer und aufrichtiger Glaube, strenge Beachtung der katholischen Bräuche, makellose Ehrlichkeit, Fleiß und akribische Sauberkeit vereinten sich in ihrem Leben mit der Liebe zum Buch und jedem gedruckten Wort, wobei dies eher durch den in der Familie ausgeübten Beruf definiert war. Starken Einfluss auf ihre Ansichten und Überzeugungen hatte auch das Leben in Marienburg, die Landsleute in ihrem Umfeld und die jahrelange Arbeit als Bauern. Anscheinend lag hier ihr hochentwickeltes Nationalgefühl und die Sehnsucht zum fernen Vaterland begründet. Zuhause sprachen sie, sofern keine Fremden anwesend waren, Deutsch, sangen deutsche Lieder, lasen deutsche Bücher. Zudem konnten aber Friedrich Genrichowitsch selbst als auch alle seine Kinder Russisch und sprachen beinahe akzentfrei, eine äußerst seltene Erscheinung für die Kolonisten der damaligen Zeit. Auf der Straße und bei Anwesenheit Fremder benutzten sie ausschließlich die russische Sprache.

Der Großvater besaß eine kleine Bibliothek, die hauptsächlich Bücher religiösen Charakters umfasste, die in deutscher Sprache geschrieben und dazu in gotischer Schrift geschrieben waren. Es gab auch ein Klavier. Wer was darauf spielte – ich weiß es nicht. Vermutlich wurden darauf deutsche Volkslieder und Kirchenlieder begleitet.

Zuhause war alles streng reglementiert. Die Kinder wurden im Glauben und Respekt gegenüber den Alten unterwiesen und mit zur Arbeit herangezogen. Besonders viele Sorgen kamen auf, als heftiger Rheumatismus ihre Mutter an den Rollstuhl fesselte. Großes Vergnügen bereitete ihnen das Baden in der Wolga. Mein Vater konnte gut schwimmen; er durchschwamm sie, als er bereits erwachsen, sogar mehrmals. Bei einer dieser Schwimmaktionen erlitt er einen Krampf im Bein und wäre um ein Haar ertrunken.

Die Jahre gingen dahin, die materielle Lage der Familie festigte sich. Die Werkstatt, in der nun neben dem Familienoberhaupt auch die erwachsen gewordenen Söhne während der unterrichtsfreien Zeit arbeiteten, sicherte ihnen ein festes Einkommen. Regelmäßige Aufträge wurden vom Rat der katholischen Kirche, von Geistlichen, mit denen die Familie Maier ständig in Verbindung stand, erteilt. 1888 brachte Friedrich Genrichowitsch auf eigene Kosten auf Bestellung von Bischof A. Zerr das erste Gebetsbuch in Saratow heraus, mit dem schwer zu übersetzenden Titel «Geistliche Chalezierde» (?). Verfasst in gotischer Schrift auf gutem Papier (eine Arbeit der eigenen Werkstatt) erwies sich dieses Werk eher als Gesangbuch denn als Gebetsbuch. Fast jede Familie katholischen Glaubens erwarb es.
Auf dem in unserem Besitz befindlichen Familienfoto, das im Jahre 1893, 18 Jahre nach Gründung der Familie in Saratow, aufgenommen wurde, sind alle Kinder bereits erwachsen. Das Familienoberhaupt ist 63 Jahre alt.



Vierte Generation der Familie Maier auf russischem Boden.
In der Mitte – Familienoberhaupt Friedrich Genrichowitsch Maier und seine Ehefrau
Dorothea. Im Vordergrund von links nach rechts: die Töchter
Jelena (1876-1946), Matilda (1861-1966), Amalia (1873-1943).
Im Hintergrund die Söhne: Eduard (1870-1921),
Adolf (1867-1928), Friedrich (1878-1945), Karl (1864-1944).

Mehr oder weniger erfolgreich war auch die Erziehung der Kinder. Sie alle absolvierten die deutsche Schule, aber die Söhne erhielten auch noch eine Berufsausbildung. Karl wurde Buchhalter, Eduard – Schlosser bei der Eisenbahn, Friedrich - Buchbinder. Für Adolf hatte man das geistliche katholische Seminar vorgesehen – eine geschlossene Einrichtung, die Geistliche, Pater, ausbildete.

Doch die jungen Leute, die ständig mit der Stadtjugend zusammenkamen, hatten für die konservative Lebenseinstellung im väterlichen Haus nicht viel übrig, und so waren sie nach Möglichkeit bestrebt, aus der elterlichen Vormundschaft auszubrechen. In erster Linie betraf das die religiösen und nationalen Ansichten. In Verletzung der Gesetze der katholischen Kirche, welche gemischte Ehen verbot, und zum Verdruss der Eltern heirateten Karl und Eduard Russinnen und Friedrich eine – Lutheranerin. Aus Sicht der Eltern verlief auch Adolfs Leben nicht in richtigen Bahnen. Nachdem er nach der Schule vier Jahre am geistlichen Seminar studiert hatte, kehrte er der künftigen geistigen Würde den Rücken und war zunächst als Lehrer in deutschen Dörfern, später als Buchhalter in der Verwaltung der RUSchD tätig, wo zuvor auch schon sein ältester Bruder Karl gearbeitet hatte. Allerdings heiratete er eine Deutsche, die Katkolikin Sophia Oswaldowna Irgang, und setzte dadurch die Familien-Tradition fort.

Über Mamas Eltern ist mir weniger bekannt als über Papas. Ich weiß, dass sie preußische Staatsangehörige waren, jedenfalls gibt es in der Mama 1896 ausgehändigten bescheinigung über ihren Abschluss am Saratower Mädchen-Gymnasium den Hinweis, dass sie preussische Staatsbürgerin und gebürtig aus Wilna war. Ihr Vater, mein Großvater mütterlicherseits, Oswald Irgang (1845 - 1882), war Amtsbezirksschreiber und bereiste ständig die deutschen Dörfer. Bei einer dieser Fahrten zog er sich eine heftige Erkältung zu, erkrankte an einer kruppösen Lungenentzündung und starb im Alter von 37 Jahren an Tuberkulose.

Michalina Franzewana Lintschewskaja stammte aus einer Familie kleiner polnischer Landadeliger. Ihr Bruder, Iwan Franzewitsch Lintschewskij, General, erkrankte an Asthma, litt sehr unter den häufigen Anfällen und erschoss sich schließlich. In unserer Familie wurde davon gesprochen, dass Michalina Franzewna ohne Erlaubnis der Eltern heiratete, indem sie heimlich deren Anwesen verließ.

Meine Mana, Sophia Oswaldowna Irgant wurde 1874 in der Stadt Wilna geboren. Als ihr Vater starb, war sie erst acht Jahre alt. Sie lebte die ganze Zeit mit der Mutter in Saratow, in einem eigenen Haus, ebenfalls in der Zarizyner Straße, zwischen der Gymnasitscheskaja- und der Prijutskaja-Straße. Michalina Franzewna war Weißzeug-Näherin und konnte sehr gut kochen. Nach dem Tod ihres Mannes hielt sie Untermieter inklusive Verpflegung. Onkel Robert half ihnen. Michalina Franzewna war eine stolze und kalte Frau. Nach Mamas Erinnerungen schlief sie sogar in Korsett und Handschuhen. Mama hatte ein Schwesterchen, das an Pocken starb.


Saratow. Oswald Irgang (1845-1882) Vater meiner Mutter


Saratow/ Michalina Franzewna Lintschewskaja,
 Mutter meiner Mutter


Saratow. Sophia Oswaldowna Irgang, meine Mutter während
der Lehrjahre in der Zeit am Gymnasium


Saratow/ Sophia Oswaldowna Irgang mit Freundin
, als sie als Grafikerin
in der RUSchD-Verwaltung arbeitete

1887, nach Abschluss der Grundschule, besuchte Mama das Mädchen-Gymnasium, das sie 1894 mit einer Goldmedaille beendete. Anschließend besuchte sie ein weiteres Jahr die achte, ergänzende pädagogische Klasse an demselben Gymnasium. Dort lernte sie Arithmetik, Pädagogik und Didaktik, übte sich in pädagogischer Praxis und stellte fest, dass sie äußerst erfolgreich war. Das gab ihr das Recht Arithmetik als Heimlehrerin zu unterrichten. Es ist charakteristisch, dass in der ihr ausgehändigten Bescheinigung stand, dass «... sie als Nicht-Staatsangehörige des Russischen Imperiums, die Vorteile und Privilegien des erworbenen Titels nicht nutzen darf».

Aus diesem oder einem anderen Grund suchte Mama sich nach dem Ende ihrer Ausbildung eine Arbeit als Grafikerin bei der Rjasan-Ural- Eisenbahn-Verwaltung. Dort lernte sie 1895 Adolf Fjodorowitsch Maier kennen, meinen Vater. Sieben Jahre waren sie miteinander befreundet. Aus dieser Zeit stammt Mamas Album. Ein gewöhnliches Mädchen-Album, in das ihre Freundinnen und Freunde für die Gastgeberin etwas in Form von Gedichten hineinschrieben. Fast die Hälfte der Gedichte ist in deutscher Sprache verfasst. Darunter sind drei, die mit dem Buchstaben «À» unterzeichnet wurden; sie sind dem Vater zuzuordnen, der in dieser Zeit um Mama geworben hat. Leider wurden die Verse in gotischer Schrift geschrieben, so dass ich sie nicht lesen und erst recht nicht übersetzen konnte. Zwei sehr traurige Gedichte mit philosophischem Unterton, die aus der Feder des englischen Poeten Shelley stammen, wurden mit Mamas kalligraphischer Handschrift ins Album eingetragen. Im Großen und Ganzen muss man anmerken, dass Mama sich in ausländischer und russischer Literatur sehr gut auskannte und zahlreiche Gedichte auswendig konnte, von denen ich einen Teil in meinen jungen Jahren von ihr lernte. Auch Papas Tagebuch lag seinerzeit in meinen Händen. Neben rein geschäftlichen Aufzeichnungen fand ich darin zu meiner Verwunderung auch viele recht pessimistische Verse, beispielsweise «Die Fliegen» von Apuchtin. Im Allgemeinen bevorzugte er, nach Mamas Worten, die deutsche Literatur und kannte sich darin auch recht gut aus.

In diesem Siebenjahres-Zeitraum, welcher dem Eheleben vorausging, gingen Mama und Papa häufig ins Theater oder Kino, zu Abend Vergnügungen im engsten Bekanntenkreis. Mama mochte sehr gern tanzen. Papa spielte lieber Schach. Welche Einstellung ihre Eltern gegenüber dieser Freundschaft hatten, ist mir nicht bekannt, aber wie Tante Mathilda berichtete, die ihren Bruder sehr liebte, versuchte sie auf alle nur erdenkliche Weise diese Freundschaft zu stören. Die beiden heirateten 1902, als Mama 28 Jahre alt war und Papa 35. Anfangs lebten sie in der Familie von Papas Verwandten in der Zarizynsker-Straße 50. Das Haus war überfüllt, und nur eine strenge Einhaltung der Ordnung bewahrte die Familie, insbesondere die jungen Leute, vor Streitigkeiten.

Karl war der erste, der sich anderswo niederließ. Nachdem er Maria Michailowna geheiratet hatte, kaufte er ein einstöckiges Haus in der Oktjabrskij-Straße N° 113, aus Holz gebaut und mit Nebengebäuden. Dort wurde 1903 Töchterchen Lenotschka geboren.

Bald darauf kaufte auch Papa mit Hilfe der Eltern ein Häuschen «in den Bergen» (in der Berg-Straße) im nordöstlichen Randbezirk von Saratow. Hier kam 1904 mein ältester Bruder Romuald – Romotschka, wie ihn die Eltern nannten, zur Welt und 1906 – Erna- Henrietta (in den deutschen Familien gab man den Kindern bei der Geburt zwei Namen; mit Eintritt der Volljährigkeit konnte der junge Mensch sich dann einen von beiden aussuchen).

Mama und Papa besuchten mit ihren kleinen Kindern Romotschka und Erna oft die Eltern in der Zarizynsker Straße 50. Wir besitzen noch eine Fotografie aus dem Jahr 1907, auf dem Papa, Mama, Romotschka und Ernotschka im Hause des Großvaters abgebildet sind. Michalina Franzewna besuchten sie nur selten, Papa mochte sie, seine Tante, nicht und ihr Verhältnis war angespannt.

Den Sommer verbrachten meine Eltern zusammen mit den Großeltern auf Onkel Karluschas Datsche, die im Bezirk des Eisenbahnzweigs Trofumowka gelegen war, etwa fünf Kilometer von der Stadt entfernt. Wir haben noch ein Foto davon. Auf der Terrasse – Großvater, Mama mit Romotschka, die Großmutter in einem Schaukelstuhl und Papa. Sechs Jahre später kauft er mit Onkel Karluscha im Bezirk Poliwanowka ein Grundstück und baut eine Datsche, die derjenigen ähnelt, die auf dem Foto abgebildet ist. Mit dieser Datsche und dem umliegenden Garten werden viele meiner Kindheitserinnerungen verbunden sein.

1908 ereilte die Eltern großes Unheil. Romotschka starb an einer eitrigen Blinddarmentzündung. Viel zu spät wurde die Erkrankung erkannt. Nach Mamas Erinnerungen war er ein wundervolles Kind, sehr gescheit und hübsch. Zu sehen bekam ich ihnen leider nicht, denn ich wurde erst 13 Jahre nach seinem Tod geboren. Deswegen ist er in meiner Erinnerung so verankert, wie ich ihn auf dem Foto gesehen habe, auf dem er wie schlafend in seinem Sorg liegt. In demselben Jahr verstarb auch Großmutter Dorothea.

Man begrub sie auf dem katholischen Friedhof, der zur linken Seite der Straße nach Moskau und und zwei Kilometer vom Bahnhof am östlichen Berghang gelegen war. Auf ihren Gräbern wurden Gedenksteine aus Marmor aufgestellt, der Friedhof selbst versank im Grün der weitverzweigten Bäume.


Saratorw, 1907
Letztes Foto von Friedrich Fjodorowitsch
und seiner Ehefrau Dorothea


Saratow, 1902. Sophia Oswaldowna und Adolf Fjodorowitsch Maier am Tag ihrer
Hochzeit


Saratow
Sophia Oswaldowna Irgang
am Tag der Eheschließung


Saratow
Adolf Fjodorowitsch Maier am Tag der Eheschließung
 

Ñàðàòîâ. 1905 ãîä. Ñàðàòîâ. 1907
Ìîé ñòàðøèé áðàò Íà ðóêàõ ó ìàìû – Ýðíî÷êà.
Ðîìóàëüä – Ðîìî÷êà Ó íîã ïàïû – Ðîìî÷êà


Saratow, 1905 Mein älterer Bruder
Romuald – Romotschka


Saratow, 1907
Auf Mamas Armen – Ernotschka
Auf Papas Knien - Romotschka


Saratow 1906
Diese Datsche fotografierten meine Eltern am Trofimowsker Bahnabzweiger.
Auf der Terrasse: Großvater, Mama und Romotschka,
Großmutter im Schaukelstuhl, Papa.


Saratow, 1908
Romotschka. Er starb im Sommeran einer eitrigen Blinddarmentzündung
Im Alter von vier Jahren.

Der Tod des Sohnes erschütterte die Eltern. Um aus ihrer Depression herauszukommen, reisten sie mit der dreijährigen Ernotschka für einige Zeit zu Onkel Robert nach Deutschland.


Berlin, 1909
Mama, Papa und Ernotschka

Aus der Zeit gibt es noch ein Foro, auf dem Ernotschka zu sehen ist, wie sie zwischen Mama und Papa auf einer Bank steht. Später, besonders in der Stalin-Epoche, hängten die Eltern den Tatbestand über diese Reise nicht an die große Glocke und führten keinerlei Gespräche zu diesem Thema.

1910 starb der Großvater im Alter von 80 Jahren. Das Haus in der Zarizynsker Straße 50 und die Buchbinderei erbte der jüngste der Bruder – Friedrich Friedrichowitsch (Fjodor Fjodorowitsch) Maier.

In diesen Jahren erschien Otto in unserer Familie – ein kleiner Junge von vier Jahren, den seine vor Elend und Entbehrungen geflüchteten Eltern in Saratow zurückgelassen hatten. Irgendwie erinnerte er meine Eltern an Romotschka. Otto wurde adoptiert und mit der Zeit sehr geliebt. Die Sorge um ihn half dabei, die seelischen Wunden zu heilen. Fast drei Jahre lebte er bei uns. 1913 holten ihn völlig unerwartet die an die Wolga zurückgekehrten Eltern wieder zu sich. Alle weinten, und der arme Otto wehrte sich heftig, weil er seine Mutter nicht erkannte, und schrie: «Ich will nicht weg, ich habe schon eine Mama». Aber sie nahmen ihn mit sich fort. Und wieder blieb Ernotschka allein im Haus zurück.

Ob meine Eltern in ihrer Ehe glücklich waren – ich vermag es nicht zu sagen. Äußerlich schien alles gut zu sein. Papa trank und rauchte nicht, er war ein aufmerksamer und fürsorglicher Familienvater, er widmete seine gesamte Freizeit der Arbeit. Mama war eine interessante Frau, eine gute Hausfrau, sehr akkurat und fleißig. Ihre gesamte freie Zeit widmete sie den Kindern und dem Handarbeiten, in der sie sich meisterlich verstand. Zwischen ihnen, zumindest in Anwesenheit der Kinder, gab es nie Zank und Streit. Mehr noch, niemals hörten wir innerhalb der Familie auch nur ein einziges rohes Wort. Sie waren zutiefst gläubige Menschen. Doch das hinderte sie nicht daran viel zu lesen und ins Theater zu gehen. Papa machte Zuhause gymnastische Übungen nach dem System irgendeines Mannes namens Müller und rubbelte sich im Winter mit Schnee ab. Sehr viel Mühe wandten sie bei der Ernotschkas Erziehung auf.

Und dennoch war nicht alles so gut, wie es mir vorkam. Wie sich meine ältere Schwester Ernotschka erinnerte, fand sie Mama in jenen Jahren mehrmals weinend vor. Mama weinte lautlos, verbarg ihre Tränen vor den Kindern. Ich fand meine Mama immer sehr liebevoll und sanft. Aber aus Gesprächen mit meiner anderen Schwester Henrietta, die wir bis ins hohe Alter Lalja nannten, verstand ich, dass das keineswegs der Fall war. Nach ihren Worten war Mama ein recht kalter und verschlossener Mensch, die in gewisser Weise Merkmale ihrer Mutter geerbt hatte. Sanftmütig und sogar sentimental hingegen war unser Vater. Sie hatte freilich einen besseren Blick dafür, denn schließlich war sie fünf Jahre älter als ich und hatte mehr Umgang mit den Eltern. In meinen Erinnerungen habe ich sie beide als sehr liebe Menschen behalten.

1912 kaufte mein Vater gemeinsam mit Onkel Karluscha, als Angestellte der RUSchD im Bezirk der kleinen Eisenbahnstation «Poliwanowka» zu vergünstigten Bedingungen ein Grundstück mit einer Fläche von 0,8 Desjatinen. Sie bepflanzten das Grundstück mit Bäumen, die ein paar Jahre später einen lebenden Zaun mit einer Breite von ungefähr fünf Metern gebildet hatten. Dort wuchsen Ahorne, Ulmen, Eichen und irgendein Dornenbusch. Das Grundstück befand sich in einem endlosen Meer von Getreidefeldern, und von außen schien es so, als sei dies kein Garten, sondern ein kleines Wäldchen. Von innen war es, wie den Garten besuchende Verwandte und Bekannte sagten, ein «irdisches Paradies». Als Weg in diesem «Paradies» diente eine Allee, die mit unterschiedlichen Fliedersorten bepflanzt war. Im Zentrum des Gartens war eine Datsche mit drei Zimmern und einer sie umgebenden Terrasse angelegt. Separat befanden sich die Küche, das Bad, ein Winterquartier für Bienen, eine Gartenlaube und ein Brunnen. Vor der Datsche war ein Blumengarten angelegt, hier wuchsen Kastanien und zwei Silbertannen. Und drum herum ein Obstgarten. Das Grundstück, das ein leichtes Gefälle aufwies, war unterteilt in horizontal angeordnete Streifen – Terrassen. Der obere Teil war für das Bienenhaus reserviert (etwa 20 Bienenstöcke). Etwas weiter unten wuchsen auf einem Streifen Bäume mit verschiedenen Birnensorten. Noch weiter unten – eine Reihe Apfelbäume: Weißer Klarapfel, Weißer Astrachaner, Gruschowka, Gestreifter Zimtapfel, Pepin, Skrischapel und viele andere, für diese Gegenden üblichen Apfelsorten. Dieses Apfelmassiv wurde von einem Streifen verschiedener Johannisbeer- und Stachelbeersträucher durchkreuzt. Im unteren Teil des Gartens wuchsen Kirsch- und Pflaumenbäume. Vollendet wurde das alles durch Himbeerbüsche. Einer der Seitenteile des Gartens war als Weinberg angelegt. Hier gab es Tafeltrauben und die Sorte „Damenfinger“. Die Reben wurden für den Winter auf den Boden herabgelassen, mit Matten bedeckt und mit Sägemehl bestreut. Den Garten durchkreuzten Wege, die mit gelbem Sand bestreut waren. Sie endeten jeweils mit Bänken, welche mit gelber, roter und blauer Farbe gestrichen waren. Entlang der Wege wuchsen Blumen.

Selbstverständlich entstand das alles nicht mit einem Mal.


Saratow
Jelisaweta (Elisabeth) Davidowna Rosenberg - Lisa

Für den Bau der Datsche, das Pflanzen der Bäume und ihrer Pflege verstrichen mindestens zehn Jahre schwerer Arbeit.

Eine große, aufrichtige und fast einzige Helferin bei der Arbeit im Haus und auf der Datsche war Jelisaweta (Elisabeth) Davidown Rosenberg, Lisa, wie wir sie alle nannten. Geboren wurde sie 1885 in Katharinenstadt. Als sehr junges Mädchen verliebte sie sich in einen
jungen Mann aus dem Nachbardorf und wollte mit ihm und seiner Familie in die USA emigrieren. Doch Lisas Eltern gaben ihr Einverständnis zu dieser Ehe und der damit verbundenen Ausreise nach Amerika nicht. Damals lief sie aus dem Dorf fort und kam in die Pokrowsker Siedlung, und später auf Empfehlung des Paters in Saratow in unsere Familie, wo sie für immer blieb. Sie führte bei uns den Haushalt und kümmerte sich um die Kinder. Es fällt schwer, sie als Haushälterin oder Gouvernante zu bezeichnen. In vielen Fällen verhielt sie sich sehr selbständig und unabhängig. Meine Eltern mischten sich nur bisweilen in ihre Angelegenheiten ein. Für uns alle – die Kinder – war sie einer der uns am meisten nahestehenden Menschen. Mit ihr besprachen wir oft viele unserer Probleme. Auf der hier gezeigten Fotografie ist Lisa im Alter von 28 Jahren abgebildet.

Unsere Familie führte in diesen Jahren ein abgeschiedenes Leben. Lediglich drei-viermal im Jahr gab es eine Art Abendgesellschaft, zur der neben unmittelbaren Verwandten und ihren Kindern noch ungefähr sechs Personen aus der nächsten Bekanntschaft kamen. Nach Ansicht von Tante Mathilda wurden derartige Begegnungen weniger zum bloßen Vergnügen, als vielmehr wegen der Kontakte unter den jungen Leuten veranstaltet.

Als der Vater sich seinem fünfzigsten Lebensjahr näherte, tauchten in seinem Charakter neue Merkmale auf; nach Tante Mathildas Aussagen wurde er sehr misstrauisch, las medizinische Bücher und entdeckte bei sich zahlreiche Anzeichen irgendwelcher Krankheiten. Gequält von Zweifeln beschloss er zur Untersuchung und Behandlung nach Deutschland zu fahren. Seine Entscheidung konnte erst 1914 realisiert werden. Mama und Papa ließen sich mit der achtjährigen Ernotschka in Ketenbrode, einem Vorort von Dresden, nieder, wo zu der Zeit Onkel Robert mit seinen Söhnen wohnte. Aus der Zeit stammen noch zwei Fotografien. Das eine zeigt Ernotschka - mit Mama, das andere – sie allein, ganz wie eine Große.


Berlin 1914
Mama und Ernotschka


Berlin 1914
Ernotschka, hier 8 Jahre alt

Tagelang schlenderten sie durch und Parkanlagen Dresdens, abends teilten sie ihre Erinnerungen mit den Hausherren. Papa ging zur Therapie, allerdings konnte er die Behandlung nicht beenden. Im Sommer 1914, mit Beginn des ersten Weltkriegs, musste er in aller Eile nach Hause zurückkehren. Die Landesgrenzen mit Russland waren geschlossen. Den Rückweg musste er über die Ostsee antreten, so dass er in gewisser Weise die Reise seiner fernen Vorfahren wiederholte. Trotz aller Schwierigkeiten trafen die Eltern wohlbehalten wieder zu Hause ein. Im Zusammenhang mit dieser Reise erinnert Mama sich, dass alle Rückkehrer gezwungen wurden, ein Schriftstück darüber zu verfassen, dass Deutschland in Chaos und Panik verfallen und auf einen großen Krieg mitnichten vorbereitet sei. Allerdings weigerte Papa sich, derartige Angaben zu machen, woraufhin er trotz seiner vielen, tadellosen Dienstjahre degradiert wurde.

In diesen ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verschlechterte sich die Haltung gegenüber den deutschen Umsiedlern in Russland noch mehr. Den Anlass dafür gab explizit oder implizit die Stolypinsche Agrar-Reform 1906-1916, deren Hauptziel die Schaffung einer starken Schicht gesunder Bauernhöfe war, auf die sich die Staatsmacht stützen konnte. Entsprechend der Reform war es jedem Herrn erlaubt, sich vom Gemeinwesen abzusondern und sein eigenes Stück Land zu erhalten. Die in der Gemeinde praktizierte systematische Umverteilung von Landstücken, bei denen es keinen Sinn machte, den Boden zu kultivieren, wurde eingestellt. Die Böden, die Eigentum des Bauern waren, wurden sorgsamer und kultivierter bearbeitet und brachten bessere Erträge. Zugleich führte die Reform zu einer Polarisierung der Kräfte im Dorf: reiche Bauern wurden noch reicher, arme noch ärmer. Unter den Kolonisten verlief dieser Prozess besonders schnell. Der Boden wurde in Abschnitte unterteilt und wurde Eigentum der Hofinhaber. Diejenigen mit wenig Land zogen aus, um ihr Glück woanders zu suchen: ein Teil migrierte ins Ausland, nach Amerika, ein Teil ließ sich innerhalb Russlands nieder: im Kaukasus, in Sibirien und Mittel-Asien. Die Mehrheit der Umsiedler kam nach einigen schwierigen Jahren gut zurecht. Allerdings kehrte manch einer wieder an die Wolga zurück, und sie hatten es in der Regel sehr schwer. Insgesamt gesehen wurden die Wolga-Ländereien besser bearbeitet und die Ernteerträge stiegen.

Ein Teil der besonders reich gewordenen Kolonisten, die zu der Zeit einen bemerkenswerten Reichtum angesammelt hatten, kauften Land von abgewirtschafteten Landbesitzern auf. Das ging so weit, dass sie im Kamyschinsker sowie in anderen Landkreisen beinahe die Hälfte des Ackerlandes in ihren Besitz brachten. Die reichsten unter ihnen, die Eigentümer großer Mühlen waren – Reinike, Borel, Dumler, Schmidt – waren faktisch Monopolisten der Mühlenindustrie im Wolgagebiet, eines der getreidereichsten Territorien Russlands. Sie wurden auch Eigentümer vieler der bekanntesten Geschäfte von Saratow. Infolgedessen begann unter den Russen an der Wolga, und nicht nur an der Wolga, die Unzufriedenheit gegen die Politik der Regierung in Bezug auf die Kolonisten zu reifen. Die russische Bauernschaft besaß schon selbst nicht genug freie Ländereien und besonders die Großbauern. Neidisch blickte sie auf die Kolonisten, die sich auf den Ländereien Süd-Russlands und an der Unteren Wolga niedergelassen hatten.

Während des ersten Weltkriegs befand sich die Haltung gegenüber «unseren» – denn Russland-Deutschen in Russland am Rande der Feindschaft: die einen sahen in ihnen Kapitalisten und Ausbeuter, den anderen stellten sie sich als innere Feinde, als Komplizen Deutschlands, dar. Im Volk sprach man von der «deutschen Vorherrschaft». Die öffentliche Meinung übte Druck auf den Beschluss der Regierung aus, die bereit war, die Deutschen aus dem Wolgagebiet nach Sibirien auszusiedeln. Lediglich die Februar-Revolution verhinderte die Verwirklichung entsprechender Gesetzesprojekte. Kerenskis provisorische Regierung stoppte die Umsetzung dieser Gesetze und die Oktoberrevolution schaffte sie ab.

Unter diesen schwierigen Bedingungen begann unsere Familie ein noch mehr zurückgezogenes und vorsichtigeres Leben zu führen. Das Hauptaugenmerk richtete sich, neben den Sorgen materieller Art, auf die Erziehung der einzigen Tochter. Im Alter von sechs Jahren ging Ernotschka zum Unterricht bei einer Privatlehrerin, wo sie vier Jahr lang das Klavierspielen lernte. Gleichzeitig gab es auch Hauslehrer für Sprachunterricht und allgemeine Fächer. Zu der Zeit besuchte sie auch die Schule von Pater Fleck bei der katholischen Kirche, wo Mama in diesen Jahren Handarbeitsunterricht erteilte. In dieser Schule wurden Mädchen aus wohlhabenden katholischen Familien auf den Eintritt ins Mädchengymnasium vorbereitet. An einem dieser Gymnasien (das private Chramzowa-Gymnasium) begann Ernotschka 1915 den Unterricht zu besuchen. Trotz der großen schulischen Belastungen am Gymnasium, setzte Ernotschka den privaten Musikunterricht beim Professor des Saratower Konservatoriums, Boris Jakowlewitsch Radugin, fort. Dreimal die Woche ging das zehnjährige Mädchen zu ihm. Jedes Mal nahm die Mutter, die sie begleitete, ein Körbchen mit Äpfeln oder einen wunderbaren Strauß Blumen mit, die so zahlreiche auf unserer Datsche wuchsen.

1915 wurden meine Eltern Besitzer des Hauses ¹ 173 in ihrer vertrauten Zarizynsker Straße (jetzt Pjerwomaiskaja 151), wo ihre Kindheit und Jugend verlaufen war. Es bestand aus zwei einstöckigen Holzhäusern, von denen eines mit der Fassade zur Straße zeigte (sie vermieteten es), während das andere, aus Ziegelsteinen gemauert, im Hof stand. In diesem Flügel ließ sich auch unsere Familie nieder. Es gab darin vier Zimmer (ein Schlafzimmer für die Eltern, ein Kinderzimmer, Esszimmer und Gästezimmer), außerdem eine Küche, ein Bad und eine Toilette.– áðàíäìàóýðîì. Auf der Rückseite war der Flügel von den Gebäuden, die zur anderen Straße zeigten, durch eine hohe Ziegelmauer eingegrenzt (die Brandmauer).


Saratow 1918
Ernotschka und Lalja
(Henrietta)

Aus diesem Grund befanden sich im Esszimmer keine gewöhnlichen Fenster. Stattdessen gab es in der Decke – eine große gläserne Installation in der Form einer abgestumpften Pyramide, die dem Vater eine Menge Verdruss bereitete, vor allem im Winter. Gerade mit diesem Ort in Saratow sind bei unseren Familienmitgliedern alle Erinnerungen an Freud und Leid verbunden. In diesem Haus wurde 1917 meine zweite Schwester Henriette-Charlotta (Lalja, wie sie innerhalb der Familie genannt wurde) geboren. Auf dem hier vorliegenden Foto ist Lalja eineinhalb Jahre alt, und Ernotschka, auf deren Schoß sie sitzt – zwölf.

Unterdessen reiften in unserem Land die revolutionären Ereignisse heran, die auch unsere Familie berührten und selbstverständlich im Kreise der dem Vater nahestehenden Menschen diskutiert wurden. Gegenüber den Geschehnissen, die im Zusammenhang mit der bürgerlich-demokratischen Februar-Revolution und besonders mit der Abdankung des Imperators Nikolai II standen, zeigte der Vater, gelinde gesagt, große Missbilligung. Er war der Politik und noch mehr den aktiven politischen Tätigkeiten stets aus dem Weg gegangen. Das Wichtigste in seinem Leben waren die Familie und die Arbeit. Darüber hinaus nahm die Pflege des Gartens den Löwenanteil seiner freien Zeit in Anspruch. Alles, was zu Chaos und Anarchie führte, und die im Land ablaufenden Ereignisse verstand er als Zerstörung sämtlicher Lebensgrundlagen, war ihm zutiefst befremdlich. Man muss auch berücksichtigen, dass unsere Familie zu denen mit mittlerem Einkommen gehörte, und die kommenden Veränderungen, zu denen die zahlreichen Losungen aufriefen, verhießen meinem Vater nichts Gutes. Auch seine tiefe Religiosität machte sich bemerkbar.

Doch das Leben entwickelte sich entgegen seiner Wünsche. Gen Oktober entstand in Saratow, wie im Übrigen im gesamten Land, eine äußerst angespannte Lage. Die wirtschaftliche Misere, die ständigen Unterbrechungen bei der Versorgung, aber auch die Verschlechterung aller städtischen Dienstleistungen gaben zu keinerlei Hoffnung auf Besserung Anlass. In den Straßen war es entsetzlich schmutzig. Sie wurden nicht nur nicht gefegt, man warf sogar den Müll aus den Häusern und kippte dort das Spülwasser aus. Die Fälle von Typhus-Erkrankungen wurden häufiger. Plünderungen und Gewalttätigen waren gang und gäbe. Es gab Fälle von Selbstjustiz. Mit jedem Tag wuchs die Zahl der Hungernden und der Spekulanten. Die Arbeitslosigkeit nahm aufgrund des Defizits an Brenn- und allen anderen Arten von Rohstoffen sowie deiner teilweisen Demobilisierung zu. Es kam zu Streiks. Das Ganze ging so weit, dass die Anzünder der Straßenlaternen zur damaligen Zeit gab es einen solchen Beruf) in den Ausstand traten und Saratow abends in tiefe Dunkelheit getaucht war.

Die Zahl der Soldaten in der Stadt stieg jäh an. Die Übermüdeten, Abgezogenen, die weder die militärische noch die bürgerliche Macht anerkannten, forderten unverzüglich ihre Umsiedlung aus den nicht für den Winter vorbereiteten Baracken der «Soldaten-Siedlung» in zivile Gebäude der Stadt Saratow.

Bereits seit mehreren Monaten war in der Stadt nun schon ein scharfer politischer Kampf zwischen den Saratowsker Bolschewiken und den moderaten Sozialisten und Liberalen im Gange. Organisatorischer Rivale der Bolschewiken, die den Saratowsker Rat leiteten, war die Stadt-Duma. Einige Tage nach der Erstürmung des Winterpalasts durch die Bolschewiken blieb es in Saratow verhältnismäßig ruhig. Doch bereits am Morgen des 26. Oktober begannen sowohl die Bolschewiken als auch die Sozialisten mit hektischen Vorbereitungen. Dennoch bemühten sich beide Seiten Zeit zu schinden: die Bolschewiken warteten auf eine Direktive aus dem Zentralkomitee; die Moderaten setzten ihre Hoffnung auf die baldige Befreiung der Stadt durch Kosakentruppen. Niemand wusste, wie der Aufstand in Petrograd ausgegangen war. Im Verlauf des frühen Morgens des 26. Oktober führten die bolschewistischen Agitatoren Agitationsarbeit in den Fabriken und Kasernen durch, wo sie versuchten, die Soldaten dahingehend zu überzeugen, dass diese sich nur den Befehlen des Rats unterordneten. Es gab keinerlei Aufforderungen zum Handeln oder Bemühungen, eine Demonstration zu veranstalten.

Die gemäßigten Soldaten waren während dieser Zeit ebenfalls beschäftigt. Im Büro des Gouvernements-Kommissars, das sich zusammen mit dem Exekutivkomitee des Rats im Haus des ehemaligen Gouverneurs befand, herrschte Aufregung. Dort waren Mitglieder der Duma, die Stadtführung, der Kommissar der Miliz und gut bewaffnete Offiziere bemüht, sich die Abwesenheit der bolschewistischen Kader im Offiziersblock bestmöglich zunutze zu machen.

Auf der an jenem Abend stattfindenden Plenumssitzung des Rats, der in den Räumlichkeiten des Konservatoriums stattfand, wurde der Beschluss über die Schaffung eines Kriegs-Revolutions-Komitees verabschiedet, das im Namen des Saratowsker Rats die Übernahme der Macht in seine Hände verkündete.

Die Bürger, die am Morgen des 27. Oktober auf die Straßen hinaustraten, waren verwirrt von den Nachrichten, mit denen sie überrannt wurden. Durch die Hauptstraßen der Stadt fuhren Automobile, aus denen Flugblätter mit widersprüchlichen und sich weitgehend ausschließenden Informationen geworfen wurden.

Beide Seiten begannen mit den Vorbereitungen für den bewaffneten Kampf, falls es dazu kommen würde. Die mit Maschinengewehren bewaffneten Streitkräfte der Duma ließen sich auf den Glockentürmen der Kirche des Heiligen Erzengels Michael nieder. Gegen Abend konfiszierte ein Trupp von Junkern das Waffenlager und begann ein Waffenlager innerhalb des Duma-Gebäudes anzulegen. Die Junker entwaffneten die Arbeiter und Soldaten und verhafteten die Rats-Anhänger. Der Gouvernements-Kommissar der provisorischen Regierung rief zum Schutz der Duma Kosaken zur Hilfe.

Am frühen Morgen des 28. Oktober umstellten auf Anordnung des Rats etwa 3000 Soldaten und Rotarmisten das verbarrikadierte Dima-Gebäude. Auf dem Sokolow-Berg und neben der Handelsbörse in der Moskowsker Straße hatte sich die Artillerie niedergelassen und zielte auf das Gebäude der Duma. Die Duma wurde von 300 Offiziersschülern, etwa 100 Offizieren und mehreren hundert privaten Bürgern verteidigt. Verhandlungsversuche waren nicht von Erfolg gekrönt. Es begann ein Schusswechsel, der mal abflaute, mal sich verstärkte, dauerte die ganze Nacht an. Auch die Artillerie feuerte. Die Bewohner versteckten sich in den Kellern. Und draußen regnete es in Strömen.

Gegen Abend ergaben sich die Verteidiger der Duma der Gnade der Sieger. Es waren 373 Mann, unter ihnen 298 Junker und 75 Offiziere, einschließlich General Gorskij, der an der Spitze der Garnison stand. In jener ersten Nacht kamen zwei der belagernden Soldaten ums Leben und einer der Duma-Verteidiger. Mehrere Personen waren verwundet worden. In Saratow waren es die ersten Schüsse des beginnenden Bürgerkriegs.

Als man die Gefangenen aus dem Duma-Gebäude ins ehemalige Haus des Gouverneurs brachte, wo sie festgehalten werden sollten, begleitete die zusammengeströmte Menge sie mit feindlichen Ausrufen: «Mörder!», «Man soll sie alle erschießen!», «In die Wolga mit ihnen!». Dann stürzte sich die Menge auf die Verhafteten und begann sie zu verprügeln. Auch General Gorskij bekam seinen Teil ab, den auch sein fortgeschrittenes Alter nicht vor dieser Erniedrigung bewahrte.

In den Dörfern zog sich der Kampf um die Bestätigung der Macht der Räte bis in den Sommer 1918 hin. Freilich wirkte der wohlhabende Teil der Kolonisten diesem Prozess am aktivsten entgegen, denn sie hatten Dank der Stolypin-Reform die Möglichkeit einer rationalen Hofführung und die Vergrößerung ihrer Wirtschaften bekommen. Dieser Teil der Kolonisten proklamierte auf seiner Tagung in Warenburg die «sowjetische» (ohne sozialistische) Autonomie und wählte eine Zentralen Rat. In dieser Zeit führte die dem entgegenstehende Union der deutschen Sozialisten Verhandlungen mit Stalin, der innerhalb der Regierung für die nationale Politik verantwortlich war. Die Unterredungen endeten mit der Veröffentlichung der Satzung des Kommissariats für die Sozialisten-Vereinigung. Im Juni 1918 fand in Saratow der 1. Räte-Kongress der deutschen Kolonien statt. Auf dem 2. Kongress der Deutschen Räte in Rowno (Oktober 1918) wurde das Dekret über die Proklamation der Autonomen Arbeitskommune im Gebiet der Wolgadeutschen bekannt gegeben. Dies war der erste Test für die praktische Umsetzung des nationalen Programms der Sowjets. Das Dekret wurde unterzeichnet von W.I. Lenin und Fotijewa. Als Zentrum des deutschen nationalen Gebiets wurde die Stadt Jekaterinenstadt ernannt. So entstand das erste nationale Gebilde dieser Art unter sowjetischer Herrschaft.

Doch dies führte nicht zu einer Versöhnung. Der Klassenkampf in den Kolonien wurde immer erbitterter. Der grimmige Zorn des Bürgerkriegs zerstörte die menschlichen Leben und die mit viel Mühe von ihnen geschaffenen materiellen Werte. Die Kolonien waren verwüstet. Es wütete das Bandenwesen. Die Verzweiflung verstärkte sich noch durch den Hunger. Der wohlhabendere Teil der Kolonisten, der es sich zunutze machte, dass es im Vertrag von Brest-Litowsk einen Punkt über die ungehinderte Ausreise der Kolonisten nach Deutschland sowie die Überweisung ihres Kapitals gab, gingen nach Deutschland und in die USA. In dieser Zeit emigrierte mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung der Kolonien. Über eine in Berlin gegründete Bank überwiesen die Kolonisten innerhalb kürzester Zeit 10 Millionen Rubel ins Ausland.

Am 25. Oktober 1918 übermittelte Trotzkij per Telegraph den Befehl nach Saratow: das Erste Kommunistische Katharinenstädter Regiment zu formieren. Es war ein Akt des erzwungenen, berechnenden Vertrauens. Er bewährte sich. Bereits am 10. Dezember war das Regiment, das 2000 Bajonette zählte, bereit zu Verschickung in die von den Deutschen besetzte Ukraine. Das Regiment kämpfte gegen die deutsche Armee und russische Offizierstruppen. Im Sommer 1919 hielt es innerhalb von 32 Tagen 30 Schlachten stand, und verlor, nachdem es von den übrigen Truppenteilen der Roten Armee abgeschnitten worden war, zwei Drittel seiner Soldaten. Insgesamt kämpften an den Fronten des Bürgerkriegs vier deutsche Regimenter, zwei von ihnen – in Budjonnys Armee. 1919 wurden die am rechten Wolga-Ufer gelegenen Kolonien von Denikin-Leuten und Banditen Saposchko

 

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