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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Kapitel 3. Kindheit

Es kam das Jahr 1920. Der Bürgerkrieg war im Wesentlichen beendet, doch die Lage im Land gestaltete sich sehr schwierig. Der Weltkrieg, die Revolution, der Bürgerkrieg und schließlich die Politik des «Kriegskommunismus» hatten sie zugrunde gerichtet. Eine abgrundtiefe Krise erfasste alle Seiten des öffentlichen Lebens, der Industrieü, der Landwirtschaft.

Die Nahrungsmittel-Politik, mit deren Hilfe vom Lande gewaltsam mehr als 300 Millionen Pud Nahrungsmittel herausgepumpt worden waren, führte zu einer allgemeinen Kürzung der Anbauflächen, einem Rücklauf der Viehzucht, der Einstellung der Aussaat von Industriepflanzen. Besonders schwerwiegend war die Situation an der Unteren Wolga. Die Anbauflächen schrumpften in zwei aufeinanderfolgenden Jahren fast um ein Drittel, die Anzahl der Pferde – um mehr als die Hälfte, beim Rindvieh um ein Drittel, bei Ziegen, Schafen und Schweinen – um ein Fünftel. Ungeachtet dieser Tatsache wurden in den Jahren 1918 und 1919 aus dem Gebiet der Wolgadeutschen 30 Millionen Pud Nahrungsmittel abtransportiert.

Zu diesem Unheil gesellte sich 1921 die Dürre, welche die Getreidebezirke der Ukraine, des Kaukasus, der Krim, der Ural-Regionen und des Wolgagebiets heimsuchte. Infolgedessen litten 1921-22 etwa 40 Gouvernements mit einer 90-Millionen-Bevölkerung an Hunger, von denen 40 Millionen Menschen an den Abgrund des Todes gerieten. 5 Millionen starben. In den Städten wurden die Lebensmittel in Form von Rationen verteilt, vor allem unter den Arbeitern. Die Rationen waren winzig und es war praktisch unmöglich davon zu leben. In Moskau beispielsweise erhielten Arbeiter, die körperliche Tätigkeiten ausübten, laut Berechnungen 225 Gramm Brot, 7 Gramm Fleisch oder Fisch, 10 Gramm Zucker pro Tag. Die Lebensmittel auf dem Markt waren kaum zugänglich. Die Preise waren im Vergleich zu den Vorkriegspreisen um das 100-200-Fache gestiegen. Die Hausfrauen mussten zum Markt oder Laden mehrere Millionen mitnehmen, um die für den Mittagstisch notwendigen Lebensmittel kaufen zu können. Das Einkommen reichte für 3-5 solcher Einkaufsgänge. Und wieder herrschte an der Wolga Dürre, und die Folgen nahmen katastrophale Ausmaße und Formen an. Von einer ganzen Desjatine Land erntete man lediglich 5,5 Pud Weizen oder 2,4 Pud Roggen, bei einer für diese Orte üblichen Norm von 40 Pud. Doch auch in diesem absoluten Notjahr wurden aufgrund der Ablieferungspflicht 7 Millionen Pud Getreide abtransportiert. Von vielen Höfen holten sie die kompletten Ernteerträge fort, ohne auch nur ein Saatkörnchen wenigstens für die nächste Aussaat dort zu lassen.

Infolgedessen brach 1921 im Wolgagebiet eine schreckliche Hungersnot aus. Beinahe 48000 Kolonisten starben. Mehr als 80000 flohen in andere Bezirke des Landes und, insbesondere, in den Kaukasus. Doch dort nahm man sie nicht auf. Die meisten mussten wieder zurückgehen. Halb verhungert und ohne Kleidung blieben auf diese Weise viele von ihnen auf den endlosen Straßen Russlands zurück. Die Bevölkerung des Gebiets sank von 452000 Personen im Jahr 1920 auf 359000 zum August des Jahres 1921. Die überwiegende Mehrheit litt an schrecklichem Hunger. Massen von Flüchtlingen, Bettlern und obdachlosen Russen, Deutschen, Ukrainern und Zigeunern überfluteten die Bahnhöfe, die Anlegestellen und Märkte Saratows. Die unglücklichen Kolonisten, die kein Russisch konnten und sich ihrer Armut schämten, klopften ängstlich en die Türen ihrer Landsleute, die in der Regel selbst nur mit Mühe ihr Leben fristen konnten. Durch die Stadt fuhren Sonderbrigaden, welche an den Bahnhöfen, Anlegestellen, Parkanlagen und Straßen die Körper der Toten einsammelten. Sie wurden in eine Matte gewickelt und auf Fuhrwerken in unbekannte Richtung fortgebracht. In jenem Jahr wurde unsere Familie hauptsächlich durch das Gemüse und die Früchte aus dem Garten gerettet, aber auch durch Ziegenmilch. Die Ziegen, für gewöhnlich zwei an der Zahl, hatte sie schon lange gehalten, seit Romotschkas Geburt, denn Mama hatte keine Milch, und alle Kinder in der Familie wuchsen mit Ziegenmilch auf.

Im Dezember dieses für die Wolgadeutschen so tragischen Jahres wurde mir das Schicksal beschieden geboren zu werden. Es näherten sich Weihnachten und das neue Jahr. Doch die Familie war bei weitem nicht in Festtagsstimmung. Unlängst hatte man Onkel Eduard beerdigt. Lalja hatte eine doppelseitige Lungenentzündung und sehr hohes Fieber. Als man mich, fest in Windeln gewickelt, die Geburt war zu Hause erfolgt, hineintrug und Lalja zeigte, konnte sie nur sagen: «Pfui, wie rot und hässlich!» Ernotschka befand sich zu dem Zeitpunkt bei Jelena Iwanowna Befort – der Tochter von Papas Kusine. Bei uns hieß sie manchmal Lendja, aber häufiger – Lenchen. Sie war 9 Jahre älter als Ernotschka, was im Übrigen ihrer freundschaftlichen Beziehung keinen Abbruch tat. Unsere Eltern verließ sich bei unserer Erziehung in vielen Dingen auf sie.

Meine Erinnerungen an die ersten Jahre meines Lebens sind nebelhaft. Zudem fällt es mit schwer, das, was ich unmittelbar erinnere, von dem zu unterscheiden, was mir später die Erwachsenen erzählten. Sehr dunkel erinnere ich mich daran, wie man mich, in ein Laken gewickelt, aus dem warmen Badezimmer ins kühle Schlafzimmer hinübertrug. Wer mich trug, wie alt ich war, vermag ich nicht zu sagen, aber das Empfinden, was mit dieser Prozedur verbunden war, ist in mir lebendig. Vielleicht, weil es sich Tag für Tag, über einen Zeitraum von mehreren Jahren, wiederholte. Derartig dunkle, man kann noch nicht einmal sagen Erinnerungen, sondern Sentiments, verbinde ich auch mit dem morgendlichen Wecken: im Haus ist es ganz still, und man kann deutlich hören, wie in den Holländer-Öfen, die vor dem Wecken der Kinder angeheizt wurden, das Brennholz knisterte.

Aus irgendeinem Grund kann ich mich auch noch an einen stillen Winterabend, die Straßenlaterne, unter der mein hoher Korbschlitten stand und die langsam zu Boden sinkenden Schneeflocken erinnern. Im Licht der Lampen kamen sie mir wie große weiße Fliegen vor. Ich war damals nicht mehr als vier Jahre alt, denn mit fünf Jahren gab es diese Schlitten, in denen nur ganz kleine Kinder transportiert wurden, nicht mehr. Wo diese Szene sich abspielte und wer dabei war, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere aber das Gefühl der Ruhe und stillen Freude, die in dem Moment von mir Besitz ergriffen hatten.

Zahlreiche Erinnerungen sind mit dem Feuer verbunden. Ich sehe noch unsere Küche vor mir, in der Lisa herumwirtschaftete, und ich, daneben auf einem Stuhl oder in der Hocke sitzend, schaute auf die tanzenden Flammen und die glühenden Kohlen. Ich erinnere mich an ein Feuer in unserer Straße, die aufgeregten und weinenden Menschen, die Feuerwehr, deren Pumpe aus irgendeinem Grund nicht funktionierte, das eingestürzte Dach und das Meer von tobenden Flammen. Ich weiß, wie im Garten ein Haufen trockener Blätter angezündet wurde, aber sie qualmten nur; ich kniff wegen des Rauchs die Augen zusammen, aber gehen wollte ich nicht, ich wollte das Feuer sehen.

In unserem Haus lebten zwei Hunde: die dünne und anmutige, eher an ein Spielzeug erinnernde, Daisy und ihr Welpe mit dem prosaischen Namen Tusik – dick und ungeschickt, die Kreuzung zwischen der reinrassigen Mutter und irgendeinem Mischling. Wenn Papa von der Arbeit nach Hause gekommen war und sich auf den Diwan legte, sprang Daisy vorsichtig hinauf und kuschelte sich an die Beine des Herrchens. Tusik, der erbärmlich winselte und mit den Krallen am Diwan kratzte, konnte seinen kugeligen Bauch nicht vom Boden hochbekommen. Ich entrüstete mich immer darüber, mit welcher Gleichgültigkeit Daisy ihren ungeschickten Sohn ansah, und selbstverständlich lief ich zu ihm, um ihm behilflich zu sein. Bei uns lebte auch ein Kater, riesengroß und flauschig, aber sehr unzugänglich und irgendwie entrückt. Gegenüber den Hunden verhielt er sich von oben herab, den Vater liebte er über alles, aber mich mied er. Ich hatte Angst vor im und bemühte mich ihn nicht anzufassen.

In jenen fernen Jahren kam mir unser Haus riesig vor. Eine ganze Welt von verborgenen und manchmal aufgrund der herrschenden Dunkelheit auch beängstigenden Orten. Ich mochte das Esszimmer nicht, vermutlich wegen seiner ungewöhnlichen Beleuchtung, besonders um Winter, wenn das Fenster in der Decke mit Schnee zugeweht war. Dann herrschte sogar tagsüber in den Zimmerecken Dämmerung, und es kam mir so vor, als ob sich dort etwas Schwarzes, Zotteliges verbarg. In der Mitte des Esszimmers stand ein großer, schwerer Tisch aus Eichenholz. Um ihn herum sechs ebensolche massive Stühle. Das Mittagessen nahmen wir gewöhnlich am frühen Abend ein, nachdem der Vater vom Dienst gekommen war. Ich saß auf einem hohen Anbaustuhl, auf dem ich, wie Mama erzählte, stets sofort nach dem ersten Gang einschlief. Ich besaß auch ein Dreirad, auf dem ich stundenlang durch die Zimmer fuhr, wobei ich die Türrahmen und Möbel mit der Hinterachse abschürfte. Dafür bekam ich nicht nur einmal von Lisa meinen Teil ab, besonders dann, wenn ich versuchte über den noch nassen Boden zu fahren.

Im Großen und Ganzen war ich ein ruhiger und folgsamer Junge, doch die Liebe zu neuen Erfahrungen und Versuchen ließ mich dann oft im Stich. Einmal, so erzählte die Mutter, wurde in unsere Fenster böhmisches Glas eingesetzt, von denen der Glaser sagte, dass es sehr bruchsicher wäre. Selbstverständlich wollte ich die Richtigkeit seiner Worte auf jeden Fall prüfen. Ich nahm meinen Kinderhammer und schlug damit auf eine der Fensterscheiben – und war vollkommen verwundert und erschrocken, als das Glas in lauter kleine Stücke zerbrach. Nachdem ich begriffen hatte, dass ich um eine Bestrafung nicht herumkommen würde, versteckte ich mich im Kleiderschrank, aus dem man mich jedoch recht schnell herausholte. Für kleinere Vergehen wurden Lalja und ich gewöhnlich damit, dass wir uns auf einen Stuhl setzen und dort still sitzenbleiben mussten. Für schlimmere Vergehen mussten wir in der Ecke stehen, genauer gesagt, in die Ecken, die von Kleiderschrank und Wand gebildet wurden. Dabei verfügte diese Strafe in der Regel über einen kollektiven Charakter. Im vorliegenden Fall bestanden die Ungewöhnlichkeit und Tragik der Situation darin, dass ich ganz allein bestraft werden sollte. Mich bewahrte Lisas Fürbitte, die den Glaser dafür verantwortlich machte:

– Es war unnötig zu erwähnen, – sagte sie, und stellte sich schützend zwischen mich und en Vater.

– Wollen wir hoffen, dass seine kostspieligen Experimente eines Tages die Menschheit bereichern, – erwiderte mein Vater mit betont ärgerlicher Stimme.

Nach den Erinnerungen der Erwachsenen fing ich erst spät an zu sprechen. Die Eltern wandten sich sogar an Ärzte. Nur einmal, als ich im Alter von ungefähr zwei Jahren am späten Abend von der Haltestelle zur Datsche getragen wurde, sagte ich, mit dem Finger auf den Mond zeigend, plötzlich ganz deutlich: «Mond». Wie sehr sie mich später auch baten, das Wort noch einmal zu wiederholen – ich schwieg beharrlich. Erst im dritten Lebensjahr begann ich zu sprechen, und zwar auf Deutsch, wobei ich die Wörter deutlich aussprach.

Noch etwas aus den Erinnerungen der Älteren. Als ich etwa 3-4 Jahre alt war, war es schwierig mit mir auf der Straße zu gehen. Wo immer sich eine offene Gartenpforte zeigte, versuchte ich sie zu schließen. Egal, was mich erschreckte – ein böser Hund oder ein ärgerlicher Onkel, der mich fangen und verhauen wollte, - nichts half. Um mich zu beruhigen, mussten meine Begleiter hingehen und die Pforte schließen. Anfangs tolerierten sie meine Kapriolen, in der Meinung, es sei eine Erscheinung meiner zukünftigen Häuslichkeit. Doch als ich auch unter ähnlichen Bedingungen verlangte das Tor zu schließen, nahm die Situation Konfliktcharakter an. Die Situation wurde von einem in der Nähe befindlichen Hausmeister gerettet, der aus Mitgefühl mit meiner Mutter und nachdem er mich vorwurfsvoll angesehen hatte, das unglückselige Türchen schloss.

Als ich fünf Jahre alt wurde, begann meine «Begeisterung» für Mädchenþ Als ich vor mir ein Mädchen in ungefähr meinem Alter gehen sah, gesellte ich mich zu ihm, schaute ihm ins Gesicht und ging nebenher. Einmal lief ich, laut Mamas Erinnerungen, neben einem Mädchen mit einer riesigen Schleife im Haar her. Mama beschloss zu prüfen, wie weit ich wohl mit meinem «Flirt» gehen würde, und ließ meine Hand los, die ich beharrlich aus der ihren zu befreien versuchte. Ich ging fast einen ganzen Block neben der Unbekannten und ihrer Mutter her und beruhigte mich erst wieder, nachdem ich ihre prächtige Schleife berührt hatte.

Freilich sind meine lebendigsten Erinnerungen aus der Kindheit mit dem Garten verbunden, in dem Mama, Lalja und ich vom zeitigen Frühjahr bis in den späten Herbst hinein wohnten. In der datschenlosen Saison, wenn die Familie sich in der Stadt befand, musste ich die meiste Zeit entweder zu Hause oder im Hof verbringen, in dem man, obwohl er nicht sehr groß war, immer etwas Interessantes und Unerforschtes entdecken konnte. Wie sich das, zum Beispiel, mit den Ziegen verhielt, die in einem von einem Metallgitter eingezäunten Pferch zwischen dem Haus und der Holzhütte lebten. Als ich mich der Hecke näherte, begann Manka, eine hornlose Bartziege, die offensichtlich von mir irgendeinen Schelmenstreich erwartete, das Gitter mit den Hörnern zu stoßen. Dabei baumelten ihre beiden großen Ohrringe wie Glöckchen. Die zweite Ziege, deren Spitznamen ich jetzt nicht erinnere, beobachtete, gehörnt und majestätisch, ihre unruhige, unausgeglichene Gefährtin. Diese Diskrepanz hat mich lange verfolgt. Lisas Erklärung, dass «Gott einer stoßenden Ziege keine Hörner mitgibt», genau so sprach sie das Sprichwort in gebrochenem Russisch aus, obwohl es die Weisheit des Allmächtigen bewies, aber irgendwie passte mir das nicht, und ich entschied, dass es hier nur um die Ohrringe ging, denn die Ziege mit den Hörnern besaß keine (oder fast nicht). Meine naive Frage: «Was ist, wenn man Manka die Ohrringe abschneidet, ob sie dann nicht gutmütiger wird?», - versetzte die Eltern in Entsetzen. Im Haus versteckten sie die Scheren, und mit mir führten sie ein pädagogisches Gespräch, das in mir ein Gefühl schrecklicher Schuld vor dem hornlosen und deswegen schutzlosen Lebewesen erweckte. Allerdings hinderte dieses Wesen mich daran zu der Leiter zu gelangen, die auf den von mir so geschätzten Dachboden führte. Die Leiter stand direkt vor dem Fenster des elterlichen Schlafzimmers, und der Vater ließ Lalja morgens die Sprossen zählen. Doch der Weg zur Leiter führte durch den Pferch, in dem sich die Ziegen befanden. In diesem Moment kamen mir ihre gelben Augen mit den länglichen grünen Pupillen besonders böse und heimtückisch vor. Und am Abend, beim Gebet, bat ich Gott um Verzeihung für meine schlechten Gedanken.

Im Hof gab es auch noch andere Sehenswürdigkeiten, beispielsweise Hühner. Mein Versuch eines von ihnen zu jagen, hätte für mich beinahe einen tragischen Ausgang genommen. Der Hahn beobachtete mich eifersüchtig, flog mir auf den Kopf und pickte mir ins Gesicht – gerade einen Zentimeter vom Auge entfernt. Mit blutüberströmtem Gesicht und lautem Gebrüll rannte ich nach Hause, und der Hahn, dessen böses Gemüt allen Hofbewohnern wohlbekannt war, landete im Suppentopf.

Laljas und meine Schandtaten machten den Eltern viele Scherereien, und dennoch, soweit ich es heute verstehe, war Ernotschka damals das Hauptproblem in der Familie – ihre Ausbildung und ihre nicht in allzu weiter Ferne liegende Aussicht auf Heirat.

In den ersten Jahren der Sowjetmacht herrschte in Saratow auf dem Gebiet der Volksbildung völliges Chaos. Einige Gymnasium, und in erster Linie private, wurden geschlossen. Andere wurden in allgemeinbildende Schulen umgewandelt. 1918 wurde das Gesetz «über die vereinigte Arbeitsschule der RSFSR» verabschiedet, dementsprechend eine vereinigte 9-jährige Arbeitsschule geschaffen wurde, die in eine erste (5 Jahre) und zweite (4 Jahre) Stufe unterteilt war. An den Schulen wurde die sogenannte Projektmethode eingeführt.

Nachdem Ernotschka all diese Reformen mehr oder weniger glimpflich überstanden hatte, beendete sie 1922 die Schule im Alter von 16 Jahren. Bald darauf legte sie die Aufnahmeprüfung am Sobinow-Konservatorium in Saratow für die Klavier-Klasse ab. Ihre Beschäftigung mit der Musik wurde zu Hause intensiver. Abends schliefen Lalja und ich in der Regel unter den Klängen der Musik von Chopin, Schubert und Beethoven ein. Ernotschka war ein talentiertes Mädchen. Außer der Musik, begeisterte sie sich für das Malen, schrieb Gedichte, und das gelang ihr recht gut. Sie war eine emotionale und schwärmerische Natur. Sie brauchte immer eine Persönlichkeit, die sie verehren konnte. Anfangs waren es ihre Lehrer, beispielsweise der damals in Saratow bekannte italienische Mathematiklehrer Butamo, in den alle Mädchen der Oberstufen verliebt waren. Später waren es Jungs, und schließlich junge Leute wie Sascha Pjasuk, Jascha Kwatkowskij, Bruno Staub, Arthur Altergot. Fast alle waren sie nähere Verwandte und Katholiken. Die Eltern fingen an sich Sorgen zu machen und Lenchen ernsthaft zu ermahnen.

1923, als Ernotschka 17 Jahre alt war, freundete sie sich mit dem Bruder einer ihrer Schulfreundinnen an – Sascha Leman, Sohn eines in Saratow bekannten Arztes. Doch Sascha stammte aus einer lutherischen Familie, und das schien ein unüberwindbares Hindernis zu sein. Die Eltern beschloss, sich um jeden Preis in Lenchens Freundschaft einzumischen, und Lenchen wurde erneut ins Gebet genommen. Und Papa förderte das Zerwürfnis mit aller Sorgfalt. Hilfreich dabei war die Versetzung des in der katholischen Kirche bekannten Geistlichen Paters Baumtrog von Astrachan nach Saratow. Mit ihm kamen zwei junge Männer von etwa zwanzig Jahren: Josef Gartman (Hartmann) und Adam Gaag (Haag). Letzterer, sehr wohlerzogen, hübsch und dazu noch ein talentierter Sänger, füllte die in Ernotschkas Herz entstandene Leere schnell auf. Doch schon bald stellte sich heraus, dass diese beiden Männer, obwohl sie aus reichen Bauernfamilien stammten, jetzt, nach der Enteignung ihrer Eltern, völlig mittellos waren und vom Pater voll unterstützt werden mussten. Das passte meinen Eltern ebenfalls nicht. Ernotschka wurde verboten zu den Gesangsproben in der Kirche zu gehen, wo sich an den Abenden die jungen Leute trafen.

Erneut Sorgen und Nöte. Vor ihrem Hintergrund verblassten die Probleme der jüngeren Familienmitglieder. Wenn sie nur alle gesund, satt, mit Schuhwerk und Kleidung ausgestattet wären und ihre einfachen täglichen Pflichten erfüllten. Dagegen interessierten Lalja und mich Ernotschkas Probleme nur wenig. Allerdings gefiel es uns, wenn abends die Jugendlichen bei uns zusammenkamen. Lachen, Musik, Gesang, Tanz und mitunter auch Tee und Kuchen. Lalja und ich bemühten uns, die Situation in größtmöglicher Weise auszunutzen, doch manchmal trieben wir es etwas zu bunt, und dann brachten sie uns ins Kinderzimmer und ließen uns zu Bett gehen. Das war sehr kränkend, und wir ermittelten lange, wer von uns beiden eigentlich an der entstandenen Lage schuld war: Lalja oder ich.

Zu dieser Zeit begann das Leben im Land sich dank der Neuen Ökonomischen Politik merklich zu verbessern. Die Ablösung der Lebensmittelabgabepflicht durch Steuern, die Erlaubnis privater Handelsgeschäfte und sogar der privaten Produktion in der Nahrungsmittel- und Kleingewerbe-Industrie, die Geldreform der Jahre 1922-24, nach der der sowjetische Tscherwonjez («goldener Rubel») in Umlauf gebracht wurde, dessen Gold-Gehalt dem der vorrevolutionären 10-Rubel-Münze entsprach, belebten Industrie und Handel. Die Bauern, die wirtschaftliche Freiheit erhielten, ergänzten schnell den städtischen Markt mit preiswerten landwirtschaftlichen Produkten, es tauchten Waren aus dem Bereich der Leichtindustrie auf. Der sowjetische Tscherwonjez wurde auf dem Weltmarkt höher gewertet als das englische Pfund Sterling und entsprach dem Wert von 5 US-Dollar.

In der Republik der Wolgadeutschen war die Einstellung gegenüber der Kollektivierung nicht eindeutig. Die Neigung vieler Deutscher zum Sozialismus ist bekannt. Die Deutschen hatten nicht nur Friedrich Barbarossa und Friedrich den Großen, sondern auch ihren Friedrich Engels. Auch die einfachen Deutschen zog es zu den sozialistischen Idealen. Die ersten Kolchosen und Kommunen im deutschen Wolgagebiet wurden bereits in den Jahren 1918-19 gegründet. Bis 1921 zählte man schon mehr als hundert. Trotzdem zerfielen während der NÖP die meisten Kolchosen und Kommunen, die der Konkurrenz nicht standhalten konnten. Es tauchten zahlreiche starke und wohlhabende Höfe auf. Besonders stürmisch entwickelte sich die Viehzucht. Im Wolgagebiet akklimatisierten die Rinder sich am besten. Aber der beliebteste Zweig war die Schweinezucht. 1925 begann der Bau einer großen Speck-Fabrik in Pokrowsk, deren Produktion für den Export bestimmt war. In der Republik gab es eine Vielzahl Käsereien und Butterfabriken, in denen qualitativ hochwertige Käsesorten (Backstein, Holländer), drei Sorten Butter (französische, russische, Süßrahm) hergestellt wurden, die über Zentrosojus, den Zentralverband, in den Export gingen, aber auch in andere Regionen des Landes verbracht wurden. Spontan, ohne staatlichen Zwang, entstanden landwirtschaftliche Genossenschaften, unter denen es Kredit- und landwirtschaftliche Kooperationsgenossenschaften, Genossenschaften für gemeinsame Bodenbearbeitung, Bodenverbesserung, Maschinen, Saatgut, Obstgärten, die Verarbeitung von Zuckerrüben, Artels zur Herstellung von Butter usw. gab. In den landwirtschaftlichen Gegenden entwickelte sich eine kleine Handwerker-Industrie. Nach Angaben der Volkszählung von 1923 befanden sich im deutschen Gebiet 63 staatliche Unternehmen, 6 kooperative und 242 private.

In diesen Jahren veränderte sich das Stadtbild von Saratow, wie auch von vielen anderen Städten des Landes, schnell. Eröffnet wurde eine große Zahl privater Geschäfte, Läden und Stände, Restaurants, Kantinen und Teestuben. Erneut kam es zu einer Zwischenschicht reicher Leute – der Nepmannen, die Geschäftemacher während der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik. Eingeschränkt in ihren Möglichkeiten der Produktionsausweitung und mit jedem Tag ihre Enteignung erwartend, über die die Zeitungen ständig schrieben, versuchten sie die ihnen von der Geschichte zugewiesene Zeit zu ihrem Vergnügen zu nutzen. Viele benahmen sich zumindest unbesonnen: sie zechten und amüsierten sich vor aller Augen. All das führte zur Unzufriedenheit der breiten Bevölkerungsmassen hinsichtlich der NÖP. Viele sprachen Hass erfüllt von den «Untergrund-Millionären». Diesbezüglich charakteristisch ist ein Brief des Kommunisten P. Murajew, der in der «Handels- und Industrie-Zeitung» veröffentlicht wurde: «Während des «Kriegskommunismus» war das Leben hart, der Hunger und die Kälte quälten einen, sogar gefrorenen Kartoffeln galten als seltene exotische Frucht. Aber das Gerippe, das Knochengerüst der in den Jahren 1918-1920 existierenden Struktur war tatsächlich kommunistisch. Alles war verstaatlicht, das Privateigentum ausgerottet, das private Kapital vernichtet, die Bedeutung des Geldes war auf null heruntergeführt, und anstelle des Handels nach kapitalistischem Muster – die im Prinzip für alle gleiche Verteilung. Wir realisierten den Aufbau, der von Marx angedacht war...». Diese Ansicht über die NÖP teilten viele. Die Psychologie dieser Gleichstellung: wenn auch in Armut, aber dafür sind alle gleich – wurde zur dominierenden Aussage.

Im Herbst 1924 kam auf Einladung von Pater Baumtrog, mit dem mein Vater gut befreundet war, Stanislaw Iwanowitsch Gosdek nach Saratow – Pole, Katholik, Kandidat der Wissenschaften, der an einer der Universitäten in Astrachan Physik unterrichtete. Einziger Sohn eines Nepmanns, Besitzer eines Juweliergeschäfts, schien Stanislaw Iwanowitsch unseren Eltern ein äußerst hoffnungsvoller Bräutigam zu sein. Einziger Mängel – er war 10 Jahre älter als Ernotschka. Das Kennenlernen fand in unserem Haus unter Anwesenheit des Paters statt. Es folgten einige Begegnungen, nach denen Stanislaw Iwanowitsch mit der Hoffnung auf Erfolg nach Astrachan zurückkehrte. Während der Winterferien kam er erneut nach Saratow, wo dann auch die Verlobung gefeiert wurde. Gozdek, der sich voll in der Rolle des Bräutigams fühlte, begab sich nach Hause, nach Astrachan, zurück. Ernotschka setzte indessen ihre musikalische Ausbildung fort. Auf den Fotos jener Jahre sieht sie äußerst romantisch aus.

An Stanislaw Iwanowitsch kann ich mich nur sehr vage erinnern. An etwas sehr Korrektes, Kultiviertes, Glattes. Mit seinem Erscheinen im Haus wurde mit einem Mal alles ruhig. Die Abendpartys, das Gelächter und der Gesang hörten auf. Dafür füllte sich das Haus jedes Mal, wenn er auftauchte, mit Blumen, und Lalja und mir wurden ständig Schokolade und Kekse vorgesetzt. In dieser Zeit erhielt Ernotschka nicht wenige wertvolle Geschenke: eine goldene Uhr, Ketten, Armreifen usw. Doch sie selbst wurde auf irgendeine Art und Weise glanzlos, spielte seltener. Immer häufiger las sie dicke Bücher oder saß nachdenklich am Fenster.

Als Stanislaw Iwanowitsch im Winter 1926 wieder einmal nach Saratow kam,


Saratow 1925
Ernotschka im Alter von 19 Jahren

offensichtlich zu dem Zweck, seine Beziehung zu Ernotschka endgültig zu regeln, brach Ernotschka in Tränen aus, wurde hysterisch und zwang Lenchen und Papa alle Geschenke zur Abfahrt des Zuges nach Astrachen zum Bahnhof zu bringen, zu dem Zug, mit dem Gosdek nach Hause fahren sollte. Eine Woche lang herrschte im Hause Trauer. Die Eltern waren furchtbar verärgert. Ernotschka weigerte sich irgendwelche Erklärungen abzugeben. Wie sich Lenchen erinnerte, war sie nicht wiederzuerkennen, war furchtbar aufgeregt und neigte zu hysterischen Ausbrüchen. Erst als sie bereits hochbetagt war, in Sdwinsk, vertraute Ernotschka mir an, dass der Anlass für den Bruch mit Gosdek die Freizügigkeit gewesen war, die er sich ihr gegenüber herausgenommen hatte.

Es vergingen einige Monate, und am Horizont unserer Familie erschien Petja – Peter Bartholomäewitsch Gunger, Student im ersten Kurs der deutschen Sektion der Saratower Universität. Er stellte das genaue Gegenteil zu Gosdek dar. Materiell schlecht abgesichert, liederlich gekleidet, ein wenig düster, hart in seinen Urteilen und mitunter absichtlich unhöflich. Sein Vater war Bauer in der Ortschaft Marienthal und besaß einen eigenen kleinen Hof: eine Kuh und ein paar Pferde. Außer Petja gab es in der Familie noch einen weiteren Sohn – Johann sowie zwei Töchter: Tekla und Lydia. Alle waren deutlich jünger als Petja. Ihre Mutter war 1920 gestorben.

Petja und Ernotschka! Vollkommen unterschiedliche Charaktere, eine unterschiedliche Erziehung, unterschiedliche Gewohnheiten und Interessen, ein unterschiedliches Umfeld. Und dennoch kreuzten sich ihre Wege. Sie kreuzten sich in der Wohnung von Lenchen Befort. Und so beschreibt Petja selbst seine Bekanntschaft mit Ernotschka und die weitere Entwicklung der Geschehnisse. Er und Lenchen lernten sich in Vorbereitungskursen kennen. Mehrmals war er bei ihr Zuhause in der Tschassowaja-Straße. Sie wohnte in dieser Zeit beim Bruder – einem reichen Nepman, der Konditoreiwaren herstellte und mit ihnen handelte. Bei ihnen wurde man immer reichlich bewirtet, was für den armen Studenten nicht unwichtig war. Im Studienjahr 1925-26, nachdem er bereits Student an der Universität geworden war, ging er oft zu ihnen zu Besuch. Während einer dieser Besuche sah er Ernotschka zum ersten Mal. Sie saß mit der Zeitschrift «Ogonjok» in den Händen am Tisch. Nach einer kurzen Vorstellung und einem ausgiebigen Abendessen wurde der Abend mit dem Lösen eines Kreuzworträtsels aus der Zeitschrift und dem Lesen Jesseninscher Gedichte verbracht, die damals sehr modern waren. Spät am Abend begleiteten Petja und Lenchen Ernotschka nach Hause, aber zu uns hereinkommen wollte er nicht. Ihre nächste Begegnung fand erst einen Monat später statt, und zwar erneut bei den Beforts.

Im Frühjahr 1927 reiste Petja für ein paar Tage nach Hause nach Marienthal, mit dem ihn, wie er zugab, nicht nur Familienbande verknüpften. Mit schwerem Herzen und in völlig niedergeschlagener Stimmung kehrte er nach Saratow zurück und fuhr danach nicht wieder nach Hause. Nun wurden die Begegnungen mit Ernotschka häufiger. Hochwasser an der Wolga, gemeinsame Bootsfahrten. Einmal geschah es, dass Ernotschka veim Sprung aus dem Boot ins Wasser fiel. Völlig durchnässt brachte er sie zu sich in die Wohnung in der Malaja Segijewskaja, unweit der Wolga. Während Ernotschka trocknete, ging er zum Kinotheater und holte Karten für den Film «Spiegel des Lebens». Seit der Zeit begann er, nach seinen eigenen Worten, sie zu umwerben.

Nach Petjas zweitem Besuch in unserem Haus fingen die Eltern an unruhig zu werden, besonders Mama, die sogleich Verdacht schöpfte. Petja gefiel weder ihr noch Papa. Der Gedanke daran, dass Ernotschka sich in diesen düsteren, wenig gesprächigen und kurz angebundenen jungen Mann verlieben könnte, versetzte sie in Angst und Schrecken. Und diese Gefahr war sehr real, denn hier kreuzten sich Romantik, die Suche nach einem starken Charakter, aber auch die allgegenwärtige Begeisterung von Gymnasiastinnen für «Jungs von der Werkbank“. Das Einzige, was den Eltern an Petja gefiel, war sein katholischer Glauben. Petja seinerseits war von unserer Familie nicht begeistert, und er wertete unsere Lebensweise als spießbürgerlich.

Im Sommer 1927 arbeitete Petja in Militärlagern der 32. Division, die im Bezirk der Eisenbahnstation «Tatischtschewo» stationiert war, der zweiten Haltestelle nach «Poliwanowka», wo sich unsere Datsche befand. An den Sonntagen kam er dorthin 7und lernte die restlichen Familienmitglieder näher kennen. Auf der Datsche gab es immer viel Arbeit, vor allem körperliche, was ihm, wie er gestand, gerade recht kam. Seine Fahrten erfolgten fast regelmäßig.

Im Herbst, nach Beendigung der Lagerdienste, fand Petja Arbeit bei der statistischen Behörde der Deutschen Republik. Dort bezahlten sie gut, allerdings musste man viel in den Dörfern der Wolgarepublik herumreisen. Nachdem er eine anständige Summe verdient hatte, kehrte er nach Saratow zurück. Er schaute bei uns vorbei. Ernotschka hatte es zu er Zeit bereits geschafft, in der Familie eine erträgliche Atmosphäre zu schaffen. Dann wurde entschieden, dass er sich anständiger anziehen müsste. Mama suchte mit ihm das Geschäft «Bendera» auf, und sein sommerlicher Verdienst wurde fast vollständig mit den Einkäufen verbraucht. Ein grauer Anzug, ein brauner Zwischensaison-Mantel, Hosen, Oberhemden, Wäsche áåëü¸ wanderten aus dem Geschäft in sein Studentenzimmer. Und im Zimmer selbst wurde ebenfalls einiges umgeändert. Jetzt lud er gern zu sich ein, anstatt zu uns zu kommen. «Irgendetwas hielt mich davon ab – erinnerte sich Petja, - sowohl die Gesellschaft als auch die Etikette waren mir fremd. Erst im darauffolgenden Jahr, nach meiner nicht unerheblichen Hilfe im Garten und der Vermittlung Ernotschkas zum Eintritt in die Literatur-Abteilung der Universität, verbesserte sich meine Beziehung zur Familie Maier erheblich, und ich fand mich damit ab, Ernotschka häufiger zu Hause zu besuchen».

Freilich zogen all diese Ereignisse an meinem kindlichen Bewusstsein vorüber. Ums o mehr, als sie nicht mit meiner eigenen Erinnerung verbunden waren, wie im Fall von Gosdek – weder mit Geschenken noch mit Bewirtungen. Vielmehr hat Petja nie versucht, Lalja und mich für sich einzunehmen. Er spielte nicht mit uns und diskutierte auch nicht unsere zahlreichen kindlichen Probleme. Wie sich später herausstellte, verdrossen ihn die in unserer Familie angewandten Methoden bei der Erziehung der Kinder, das Fehlen, wie er meinte, von Härte uns gegenüber, und das ständige «Gelispel». Es gefiel ihm nicht, dass am Tisch gemeinsam Erwachsene und Kinder saßen, wobei letztere, also Lalja und ich, Einmischungen in die Unterhaltungen der Älteren erlaubten. Seiner Meinung nach sollten Kinder separat ihre Mahlzeiten einnehmen. Es ärgerte ihn auch, dass Ernotschka uns vor dem Einschlafen jeden Abend noch etwas ernste Musik vorspielen sollte. Und obwohl er selber gern sang, und er tat es nicht schlecht, hielt er nur etwas von deutschen Volksliedern, in denen er einen Sinn sah. Klassische Musik mochte er nicht.

Die angenehmsten und fröhlichsten Erinnerungen bringe ich mit dem Sommer in Verbindung. Im zeitigen Frühjahr wurden wir alle: Kinder, Ziegen, Hunde und Katze – zur Datsche gebracht, in den Garten. In jenen Jahren kam er mir grenzenlos vor. In ihm gab es so viele unerforschte und geheimnisvolle Ecken, dass es einem nicht einmal in den Sinn kam, sich außerhalb aufzuhalten, umso mehr, als es draußen außer Weizenfeldern nichts gab.

Zudem fan sich im Garten stets viel Arbeit, sogar für Lalja und mich, die jüngsten Familienmitglieder. Jeden Morgen sammelten wir das Fallobst ein und trugen es auf die Terrasse. Man zog uns auch zum Begießen der Bäume heran; zu diesem Zweck wurden vom Brunnen lange Holzrinnen verlegt, und unsere Aufgabe war es aufzupassen, dass das Wasser, welches der Vater aus dem Brunnen schöpfte, auch bis zum Baum lief. Lalja bemühte sich mit aller Kraft, wobei sie allerdings auch ihre eigenen Interessen nicht außer Acht ließ: wir setzten Papierschiffchen aufs Wasser, bauten kleine Dämme in die Rinnen sowie Abflüsse in die Erdwälle, die den Baum umgaben und beobachteten, wie das fließende Wasser durch den von uns angelegten Durchlass spülte. Aber die Eltern fanden sich damit ab, in der Meinung, dass sie uns so ans Arbeiten gewöhnten. Was der Vater nicht ausstehen konnte, und wofür wir häufig unser Teil abbekamen, war im Garten weggeworfener Apfel-Griebsch oder ein angebissener Apfel.

Auf der Datscha hatten wir ein gutes Leben: Obst und Beeren der unterschiedlichsten Sorten, Honig, Ziegenmilch. Dazu ein Laib luftigen, philippowsker Weißbrots, das der Vater jeden Tag aus der Stadt mitbrachte. Die einzige Unannehmlichkeit war, dass im Garten kein Gemüse gezogen wurde: weder Kartoffeln noch Kohl, Möhren, Gurken oder Tomaten. All diese, wie auch andere, Produkte mussten aus der Stadt herbeigeschafft werden. Eine Ausnahme von dieser Regel ließ der Vater nach Ernotschkas Erinnerungen nur während der Hungerjahre (1921-22) zu. Zu gewöhnlichen Zeiten wollte der Vater noch nicht einmal etwas über das Pflanzen von Gemüse hören, denn er war der Ansicht, dass sich daraus nur Schädlinge entwickelten und er im Kampf dagegen viel Zeit und Kraft aufwenden müsste. Der gesamte Garten wurde zweimal im Jahr ausgejätet, unter den Apfelbäumen umgegraben, die Obstbäume und der Flieder mit irgendwelchen Tinkturen bespritzt, an denen der Vater herumzauberte. Zu diesem Zweck besaß er ein spezielles Sprühgerät, welches er sich auf den Rücken schnallte und an das man uns nicht nahe herankommen ließ, obwohl ich persönlich sehr gern den Pumpengriff gezogen oder unter dem künstlichen Regen gestanden hätte, unter dem Regenbogenteilchen so schön funkelten.

Seltener begaben wir uns in den oberen Teil des Gartens, in dem die Bienen herumschwirrten, vor allem seitdem Lalja einmal beim Frühstück, nachdem sie in ein mit Honig bestrichenes Brötchen gebissen hatte, eine Biene mit ihren Lippen erfasste, die auf der Unterseite saß. Es ist schwer, die Schreie und die Panik wiederzugeben, die am Tisch entstand. Zuerst konnten wir nicht verstehen, was geschehen war. Die Lippe schwoll schnell an, und Lalja hatte offenbar starke Schmerzen. Papas Erklärungen, dass die Biene sich verteidigt und noch viel größere Schmerzen litt, weil ihr, zusammen mit dem Stachel, auch die Eingeweide mit herausgerissen worden wären, konnten Lalja wenig beruhigen. Vom Vater unbemerkt, begann sie sich an den Bienen zu rächen, wobei sie sich aller verfügbaren Mittel bediente.

Ich weiß noch, wie wir im Herbst Honig schleuderten. Dafür wurde im Sommerbadehaus ein spezielles Fass aufgestellt, in dem sich eine Zentrifuge befand, in die wiederum die Rahmen mit den Waben gesetzt wurden. Oben war ein Handgriff, mit dem das System in Bewegung gebracht wurde. Die Zentrifuge rotierte, und aus der Wabe floss flüssiger, bernsteinfarbener Honig, der sich am Boden des Fasses sammelte und durch eine kleine Öffnung in den ans Fass gestellten Behälter floss. Wenn Honig geschleudert wurde, entstanden im Badehaus ganze Wirbel von Honigaromen, und an seinen Wänden – ein ganzes Meer an bösen, verabscheuungswürdigen Bienen, die nicht nur das Badehaus belagerten, sondern auch den gesamten Garten. An solchen Tagen fürchteten wir uns, die Nase hinauszustecken und saßen lieber mit dicht verschlossenen Türen, Fenstern und Lüftungsschlitzen im Zimmer.

An gewöhnlichen Tagen konnte man ohne besondere Gefahr durch die Imkerei gehen. Man brauchte nur auf den Vater hören und keine jähen Bewegungen machen. Bei uns Zuhause gab es eine Fotografie, auf der die ganze Familie sich zwischen den Bienenstöcken befand, allerdings in etwas angespannter Pose. Nein – nur Lalja. Nicht einmal mit einem Lebkuchen konnte man sie dorthin locken.

Ich weiß noch, wie der Vater den Schwarm einmal einfing. Eine lange Stange, an deren Ende ein Beutel aus Birkenrinde aufgehängt ist. Er hielt ihn unter etwas, das an einem hohen Baum hing, eine Ulme oder ein Ahorn, und es sah aus wie ein aufgescheuchter Ameisenhaufen. Der Vater hatte schreckliche Angst, dass der Schwarm aus dem Garten hinausfliegen würde. Ich konnte nicht verstehen, wie die Bienen, die in so einem Haufen zusammenklebten, fliegen könnten und warum sie bei der ganzen Sache nicht zu Boden fielen.

Die grüne Hecke, die den Garten umsäumte, wuchs mit der Zeit und bildete einen eigenartigen, sehr schmalen, nicht mehr als drei-vier Meter breiten schützenden Waldstreifen, der den Garten von der Außenwelt abriegelte. In diesem Waldstreifen, wir nannten ihn «Wäldchen», war es selbst an heißen Tagen kühl und feucht. Dorthin gingen Lalja und ich zum Pilze sammeln, für gewöhnlich nicht weit von der Eingangspforte entfernt. Doch einmal ließen wir uns hinreißen und gingen (außen am Garten entlang) weiter als sonst. Und obwohl es nicht schwierig war, zwischen den Baumstämmen die Datsche auszumachen, bekamen wir Angst. Und da sahen wir eine echte Schlange. Sie lag da, ausgestreckt in voller Länge, und rührte sich aus irgendeinem Grund nicht. Auf unsere verzweifelten Schreie kam Daisy als erste angelaufen. Sie blieb in einiger Entfernung stehen und fing an zu bellen. Hinter ihr kam Tusik angerannt, stieß sie mit der Nase an, wich jedoch schnell zurück. Dann erschienen die Erwachsenen, und obwohl sie maßgeblich erklärten, dass sie harmlos und zudem tot sei, entschieden Lalja und ich uns, bis zum Ende des Sommers nicht wieder allein auf eine so riskante Reise zu begeben.

Ich erinnere mich, wie ich einmal nachts von schrecklichem Donner wach wurde. Blitz und Donner folgten unaufhörlich aufeinander. Die Datsche erzitterte von den Windstößen und der Regen peitschte gegen die Fenster. Es schien, als befänden wir uns geradewegs im Zentrum der Hölle, und um uns herum, auf viele Werst, keine Menschenseele. Vater und Mutter knieten vor dem Kruzifix und beteten. In dem Moment erkannte ich, dass der Vater nicht allmächtig war. Die Furcht vor der Einsamkeit und Schutzlosigkeit befiel mich und zwang mich, mein Gesicht im Kissen zu vergraben. Am Morgen sahen wir im Garten Pfützen, abgebrochene Äste, verstreut herumliegende Äpfel, an den Boden gepresste Blumen, und am Himmel eilten graue und tiefhängende Wolkenfetzten vorüber. Alle hatten schlechte Laune, sogar der auf der Terrasse erschienene Tusik, wedelte, nicht wie sonst, wenn er zur Begrüßung kam, mit seinem Küken-Schwänzchen.

In meiner Kindheit spielte ich gern Indianer. Ich besaß einen guten Bogen und einen Köcher mit Pfeilen. An einer verborgenen Stelle im Garten (meistens im Himbeergesträuch) baute ich mir einen Wigwam. Anschließend “begab ich mich auf den Kriegspfad”, zog mich aus (mitunter splitternackt), steckte mir eine Feder ins Haar und stürzte mit einem kichernden Schrei auf meine imaginären Feinde los. Meine Auskleide-Aktionen, die, wie ich mich erinnere, Nachahmungen einer Lithografie aus einem der väterlichen Bücher waren, wurden von den wachsamen Eltern schnell unterbunden. Sie untersagte mir auch das Aufbauen von «Wigwams» im Himbeerdickicht, wo ich angeblich schwer zu finden war. Aber einmal haben sie mich trotzdem verloren. Alle suchten mich – die Hausherren wie die Gäste. Sie suchten sogar im Brunnen, obwohl er mit einer Abdeckung versehen war, die man mit einem Schloss verriegelt hatte. Es herrschte eine schreckliche Panik. Schließlich fand mich mein Vater, als er gegen Abend aus der Stadt zurückkehrte. Er fand mich in süßem Schlaf unter dichtem Weinlaub.

Auf unserer Datsche war stets irgendjemand zu Besuch: Verwandte, Bekannte oder Bekannte von Bekannten. Wenn sie abreisten, waren sie stets mit Obst und Blumen beladen.


Saratow 1926
Ein Teil unseres Gartens. Im Vordergrund Lalja und ich.
Im Hintergrund – Mama, Papa, Tante Mathilda, Ernotschka, Lisa

Auf einer Fotografie, die im Sommer 1927 aufgenommen wurde, sieht man ein Stück von der Datsche und den Weingarten.

Etwas deutlichere Erinnerungen beginnen etwa mit dem Alter von sechs Jahren. Viele von ihnen stehen mit religiösen Bräuchen im Zusammenhang. Heute bin ich nicht mehr so naiv, um an Gott zu glauben. Aber meine kindlichen Vorstellungen waren nicht dieser Art. Wir wurden im Glauben erzogen und befolgt streng alle katholischen Riten. Verpflichtend waren unbedingt das Morgen- und besonders das Abendgebet, in denen man sich, in Vergegenwärtigung der Geschehnisse des vergangenen Tages, an all seine großen und kleinen Sünden erinnern musste. Die Gewohnheit, aus dem erlebten Tag die Bilanz zu ziehen, ist bis heute erhalten geblieben. Die Kirche besuchten wir normalerweise an den Sonntagen, und zwar mit der ganzen Familie. Den Sinn der Predigt begriff ich nur schlecht, und das interessierte mich auch nicht. Großen Eindruck hinterließen bei mir die allgemeine Atmosphäre,


Saratow 1926
Im Vordergrund – ich, Lalinas Freundin und Lalja. Zwischen uns dreht sich Daisy mit erhobenen Pfoten.
 In der zweiten Reihe – Lendi Befort, auf dem Foto ist sie aus irgendeinem Grund abgeschnitten.
Petja, Ernotschka, Mama (sie ist 54 Jahre alt), hinter ihr – Lisa,
dann Mutters Bekannte und schließlich, ganz rechts, in den Weinreben, - Papotschka (59 Jahre alt)

die Helligkeit der Farben, der feierliche Gottesdienst, der Chorgesang, den Ernotschka häufig begleitete, und die irgendwie erhabene, reine und aufrichtige Stimmung, in der mir zum Weinen zu Mute war und ich meine ganzen kindlichen Sünden hätte zugeben können. Der Geistliche dieser Kirche, Pater Baumtrog, besuchte unsere Familie häufig. Er war ein sehr gebildeter und gutmütiger Mensch. Besorgt um das Schicksal seiner Herde, schleppte sich der Pater, ein schon älterer und nicht sehr gesunder Mann, der zudem wegen seiner religiösen Tätigkeit von den Behörden verfolgt wurde, durch die ganze Stadt bis an den Stadtrand von Saratow zu einer gewissen Frau Berte, um mit Worten des Trostes, Ratschlägen und mitunter auch materieller Hilfe ihre bedürftige Familie zu unterstützen. In den dreißiger Jahren wurde er, zusammen mit hunderten anderen Kultdienern verhaftet und in ein Konzentrationslager gesperrt. Dort kam er ums Leben. In den Jahren meiner Kindheit unterhielt er sich oft mit meinem Vater. Worüber? Freilich weiß ich es nicht, denn damals war ich noch sehr klein, aber ich erinnere mich, dass sie häufig Schach spielten und ich, danebenstehend, die wunderschönen, aus Elfenbein geschnitzten und, wie Mama sagte, sehr teuren Figuren betrachtete. Er unterhielt sich auch mit mir. Über Gott, die Eltern, Ehrlichkeit, Edelmut und Mitleid.

Sehr gut erinnere ich mich daran, wie ich einmal, ich war damals sechs Jahre alt, zusammen mit irgendwelchen anderen Jungen dem Pater Messdienste erwies. Die Kirche war voll. Die Leute saßen auf langen Bänken, knieten nieder, mit Gebetsbüchern in den Händen. Vor ihnen flackerten die Kerzen mit ihrem warmen Licht. Auf den steinernen Bodenplatten wurde das Sonnenlicht in allen Farben reflektiert. Der Chor sang. Es herrschte eine freudige und zugleich beängstigende Stimmung. Beängstigend, weil Mama und Papa nicht in der Nähe saßen, sondern irgendwo unter all den fremden Leuten, und ich trug so ein ungewohntes langes Kleidungsstück, und mir kam es so vor, als ob alle auf mich schauten und ich nicht das tat, was ich sollte, und niemand mich beschützte. Auch der Pater schien mir unbekannt, feierlich und entrückt. Am Abend hatte ich einen nervösen Anfall. Danach habe ich am Messdienst nicht mehr teilgenommen.

Die religiöse Thematik ist auch in vielen meiner anderen Erinnerungen präsent. Das Kinderzimmer – dort hängt ein Kruzifix an der Wand neben dem Bett. Wie viele Male sprach ich, auf den Knien sitzend und den geneigten Kopf des gekreuzigten Christus ansehend, die Worte des Kindergebets: Vater unser, der du bist im Himmel. Im Esszimmer zwei Bilder. Auf einem, in ovaler Form, eine Darstellung des Kopfes von Jesus Christus mit der Dornenkrone. Unter den spitzen Dornen sickern Blutstropfen hervor. Bis heute erinnere ich mich an das seelenvolle Gesicht und den traurigen, verzeigenden und verständnisvollen Blick Christus‘. Das zweite – das genaue Gegenteil des ersten. Ein warmer, sonniger Tag. Jesus klopft an eine verschlossene Tür. Er trägt ein blaues, fließendes Gewand, eine Art Umhang oder Robe, an den Füßen Sandalen, in den Händen einen Hirtenstab. Woher ist er gekommen, an wessen Tür klopft er, was erwartet ihn hinter dieser Tür? Das durchdringende Licht, das von dem Bild ausgeht, die hellen Farben beruhigen, und es entsteht die Überzeugung, dass alles gut werden wird. Und wieder wird das Auge von der Dornenkrone angezogen, dem Leid, welches auch das erste dieser Bilder durchdringt.

Das Wohnzimmer... Mit ihm hängen meine Erinnerungen vorwiegend an die Weihnachtsfeste zusammen. Ich weiß noch, wie sich in Sotschelnik die schwere, mit großen Messinggriffen versehene Tür schloss, die vom Esszimmer ins Wohnzimmer führte, und Lalja und ich versuchten, durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen zu schauen, um festzustellen, was dort vor sich ging. Dann knallten die Türen, die in die Diele führten, durch die Ritzen strömte kalte Luft, man hörte gedämpfte, vollkommen unbekannte Stimmen, Geraschel und erneut Stille – langsam, sehr langsam verrann die Zeit. Im Licht der Deckenlampe schimmerten die Fensterscheiben blau, die Dämmerung wurde stärker. Und endlich öffnete sich die Tür. In der rechten Ecke des Wohnzimmers, zwischen Fenster und Klavier – die majestätische Tanne, die bis an die Zimmerdecke emporragte, geschmückt mit Spielzeug und glitzernd im Schein der echten, lebendig wirkenden Kerzen, und das ist ganz etwas anderes als die heutzutage verwendeten entseelten, wenngleich bunten, Glühbirnen der elektrischen Lichterketten. Nach den ersten Ausrufen und einer langen Pause stillen Entzückens ertönte ein leises Klopfen an der Tür. Das sind Väterchen Frost und das Schneemädchen, an das wir heute alle gewöhnt sind, und ein sanfter Engel mit Flügeln mit Halbmaske und einem geflochtenen, wunderschön geschmückten Körbchen in den Händen. In dem Körbchen liegen Geschenke. Doch nicht sie waren es, die meine Aufmerksamkeit an sich zogen. Ein Engel, ein lebendiger Engel in unserem Zimmer, den man richtig anfassen konnte! Und diese durchsichtigen, glitzernden Flügel! Viel später, bereits nach dem Tod des Vaters, als es nicht nur die persönlichen Weihnachtsmänner und Engel, sondern auch die Weihnachtstannen nicht mehr gab, erfuhr ich, dass Lenchen die Rolle des Engels gespielt hatte. Das war für mich eine große Enttäuschung, ein tiefer Schlag gegen meinen Glauben. Aber damals, als ich diese göttliche Schöpfung ansah, erschauerte ich und hatte plötzlich auch das Gedicht völlig vergessen, das ich zuvor eingeübt hatte.

Zu den recht deutlichen Erinnerungen aus der Kindheit würde ich auch noch die Erinnerungen an die Fahrten in den Süden nennen. Zu Lebzeiten des Vaters, d.h. bis 1928, waren es für mich immerhin drei: in den Kaukasus, nach Tuaps und zwei auf die Krim – nach Feodosia und Sarygol. Freilich habe ich letztere am besten von allen in Erinnerung, obwohl ich nicht ausschließen kann, dass es in meinem Gedächtnis einige in solchen Fällen unvermeidliche Überschneidungen gab. Aus Saratow fuhren wir zu dritt ab: Mama, Lalja und ich. Papa musste arbeiten und sollte später zu uns stoßen. Ernotschka konnte den Unterricht am Konservatorium nicht unterbrechen, und sie wollte wohl auch nicht gern mit uns zusammen reisen, denn sie war bereits zweiundzwanzig Jahre alt und hatte sich bereits mit Petja angefreundet. Im Zug nahmen wir ein gesondertes Abteil ein, in dessen Mitte ein großer geflochtener Korb in Form einer Truhe stand. Dieser Korb, in dem Mama die gesamte Bettwäsche mitnahmen, begleitete uns auf allen langen Reisen, denn, wie sie wohl schon verstanden haben, wurde Bettwäsche auf Reisen in der damaligen Zeit nicht zur Verfügung gestellt. Dem Zug war auch kein Speisewagen angeschlossen. Deswegen wurde das Essen direkt im Abteil zubereitet. Dafür hatten wir einen von den Eltern aus Deutschland mitgebrachten Feld-Spirituskocher – Gegenstand meines fortwährenden Interesses. Auf den ersten Blick war er sehr einfach konstruiert: eine lange Röhre, an deren einem Ende eine glänzende Kugel befestigt war, und am anderen – der Brenner. Der gesamte Aufbau ruhte auf einem langen Metallständer, der von oben mit einem Griff verschlossen wurde.

Wenn Mama anfing zu kochen, sperrte sie zuerst das Abteil zu, dann goss sie Spiritus in die Kugel und zündete den Brenner an. Obwohl auf dem Behälter in hübschen gotischen Buchstaben Sicherheit gewährleistet wurde, setzte man mich vorsorglich in die entfernteste Ecke des Abteils. Und diese Entfernung von dem lebendigen, flackernden Feuer bereitete mir großen Verdruss. In Gedanken schob ich alles in die Flamme des Brenners, was meiner Meinung nach brennen konnte, aber, wie Lisa sagte, «hat Gott der stoßenden Ziege kein Horn gegeben». In den Pausen, wenn sich der Wunderkocher unter Verschluss in dem Korb befand, saß ich für gewöhnlich am Fenster und bewunderte die vorüberziehenden Bilder. Die mit saftigem Grün überzogenen Felder; die Birkenhaine; die Blockhütten der Weichensteller; die Weichensteller selbst, die unseren Zug mit Flaggen begrüßten; die mit Nieten übersäten Brückenübergänge, und wieder Felder. Ich mochte gern in Fahrtrichtung des Zuges hinausschauen, was es mir mitunter ermöglichte, den vorderen Teil des Zuges zu sehen. Besonders verblüffte und faszinierte mich der Anblick de Dampflokomotive, wenn es bergauf ging: sie schnaufte und strengte sich an, warf aus ihrem Inneren Funkenbündel, die, sich mit den schwarzen Rauchwolken vermischend, am Fenster vorbei wirbelten, und dann schien es, als ob der Zug, seine Fahrtgeschwindigkeit verzehnfachend, in einen schwarzen Abgrund stürzte. Das Abteil füllte sich im Nu mit Rauch und Brandgeruch. Mama schob mit Laljas Hilfe den Fensterrahmen hoch, und verdonnerte uns zu der drückenden Hitze im Waggon. Doch nach einiger Zeit senkte sich durch das Gerüttel und meine von Mama unbemerkte Mithilfe der Rahmen wieder.

Generell sind bei mir mit diesen Waggonfenstern recht merkwürdige Erinnerungen verbunden. Ich wunderte mich beispielsweise sehr, weshalb die Zugbegleiter vor der Einfahrt in einen Tunnel allen Passagieren die strikte Anweisung erteilte, die Fenster fest zu schließen. Anfangs dachte ich, dass das eine Frage des Qualms wäre, der den gesamten Tunnel ausfüllte, wenn ein Zug hindurch fuhr. Allerdings kam ich, nachdem ich mich erinnert hatte, dass die gleiche Anordnung auch gegeben wurde, wenn der Zug über eine große Brücke fuhr, zu dem Schluss, dass dies getan werden musste, damit nicht irgendeiner der Passagiere eine Bombe hinauswarf. Aber dann wäre der Fahrgast selbst ja auch umgekommen, wozu also sollte er das tun? Weil ich auf die quälende Frage keine Antwort fand, wollte ich mich an den Zugbegleiter wenden, aber Mama verbot mir strengstens, irgendwem eine, wie sie es ausdrückte, derart schwachsinnige Frage zu stellen, und warnte mich, dass man sie und Papa dafür ins Gefängnis bringen, Lalja und ich mutterseelenallein zurückbleiben und verhungern würden. Diese Warnung übte eine heftige Wirkung auf mich aus, und ich kam später in meinen Gedanken mehrmals darauf zurück, wobei ich mir Gefängnisgitter und die dahinter verborgenen Gesichter von Vater und Mutter vorstellte. Das war die erste Schramme in meinem kindlichen Bewusstsein, die erste Schramme der Angst vor dem allmächtigen Staat.

Das Meer, das unverändert großen Eindruck auf mich machte, überdeckte auch dieses Mal in meiner Erinnerung die meisten Ereignisse jener Zeit. Stundenlang konnte ich meinen Blick darauf richten. Es ließ in mir ein süßes Gefühl der Freiheit und von noch irgendetwas anderem entstehen, das ich heute als geistige Befreiung bezeichnen würde. Dieses Empfingen erfasst mich auch jetzt immer dann, wenn sich nach der Biegung im Schienenverlauf zum ersten Mal der Blick auf die endlose Weite des Meeres eröffnet.

Wir wohnten in einem Privathaus in der Nähe des Meeres. Ich erinnere mich an ein großes kühles Zimmer mit geschlossenen Fensterläden, durch deren Ritzen die glühenden Sonnenstrahlen mit darin tanzenden Staubpartikeln drangen. Stets ein frisch aufgewischter Fußboden und der sehr hohe Treppenaufgang, dessen steile Stufen in ein kleines Gärtchen führten, das mit Blumen bepflanzt war. Mit dieser Treppe ist noch eine weitere Erinnerung verbunden: wir sitzen am Tisch und frühstücken. Lalja erhebt sich, geht zur Vordertreppe und wirft heimlich, damit Mama es nicht merkt, das von ihr so wenig geliebte Eigelb hinaus. Und sie wäre um ein Haar auf Papa gestoßen, der gerade aus Saratow zu uns gekommen war.

Ich erinnere mich an die Bucht, die sich tief ins felsige Ufer einschnitt; die sandige, von Muscheln übersäte seichte Sandbank und der abgebrochene Felsen, den man beim Verlassen der Bucht aus dem Wasser herausragen sah. Ich erinnere mich an die glühende Sonne, das durchdringend blaue Meer und den einsamen Strand, an dem sich in kleine Gruppen nicht mehr als fünfzig Urlauber niedergelassen hatten. Am Ufer, in einiger Entfernung, ein Basar, auf dem man verschiedene Kleinigkeiten erwerben konnte, unter anderem ein Getränk mit der merkwürdigen Bezeichnung «Busa». Lalja und ich wollten es so gern probieren, aber Mama ließ nicht einmal den bloßen Gedanken daran zu.

Und nun die schlimmsten, traurigsten Erinnerungen an meine Kindheit. Papa fühlte sich bereits im Süden nicht gut. Schwächegefühl, Appetitverlust, abends ein wenig erhöhte Temperatur. Nach Saratow kehrten wir etwas früher als sonst zurück, etwa Mitte August. Aber auch hier verschlechterte sich seine Gesundheit weiter. Bald darauf brachten sie Papa ins Eisenbahner-Krankenhaus. Egal, womit sie ihn auch behandelten, aufhalten konnten sie den Prozess nicht. Morgens sank seine Temperatur unter 36 Grad, abends stieg sie auf über 40. Und so ging es Tag für Tag, über einen Zeitraum von beinahe drei Monaten. Die ganze Zeit über saßen Ernotschka und Mama, immer im Wechsel, an seinem Bett. Mehrmals traf ein Ärzte-Konsilium zusammen, aber erst im November konnten sie dann endlich die Diagnose stellen: eine besondere Art von Blutvergiftung. Medikamente gegen diese Erkrankung gab es in Russland nicht. Onkel Robert schickte sie aus Deutschland, doch es war bereits zu spät, die Krankheit war bereits zu weit fortgeschritten.

Anfang Dezember 1928 entließen sie ihn als hoffnungslosen Fall aus dem Krankenhaus und brachten ihn nach Hause. Sie legten ihn ins Kinderzimmer, den hellsten Raum im Haus. Ich erinnere mich, wie ich mit Furcht und sogar Grauen diesen, nun in ein Krankenzimmer verwandelten, einst so freundlichen und Freude bringenden Raum betrat. Das Bett des Vaters stand etwas schräg in der hintersten Ecke. Am Kopfende ein Nachttisch. Darauf befanden sich Fläschchen mit aufgeklebten länglichen Papierstreifen, auf denen in unleserlicher Handschrift Rezepte vermerkt waren, Pulver, die bekannte braune Tasse mit der Zahnprothese und an der Wand das schwere bronzefarbene Kruzifix. Der Vater, erschöpft und abgezehrt, mit spitzen Gesichtszügen, lag beinahe unbeweglich da. Freilich war er es, mein heiß geliebter Papotschka, der mich noch kürzlich, auf den Knien kriechend, durch die Zimmer reiten ließ und dem Lalja und ich immer so gern Zöpfe geflochten und Schleifchen umgebunden hatten. Und gleichzeitig war es doch wieder nicht. Das Gesicht, mit dunklen, grauen Stoppeln bewachsen, die tiefliegenden Augen, in denen anstelle der gewohnten Wärme, Zärtlichkeit und Liebe nun Schwermut und Verzweiflung flackerten. Und die Hände! Erst kürzlich waren sie doch noch so geschickt und gut gewesen, hatten mit dabei geholfen, einfaches Spielzeug zu basteln, und mich manchmal auch gerechterweise bestraft – und nun lagen sie auf der Bettdecke, so mager und kraftlos.

Ich stand da, bemüht, den vertrauten, aber mich dermaßen erschreckenden Menschen nicht anzuschauen. Die Augen brannten mir von den aufsteigenden Tränen, und ich hatte das Gefühl, dass ich trotz der strengen Warnungen der Mutter gleich weinen würde.

Von dem Tag an sprachen alle im Haus nur noch flüsternd, die Türen wurden bedächtig geschlossen, man versuchte, sie nicht laut zuschlagen zu lassen. Es roch nach Medizin. Mama, Ernotschka und Lisa liefen mit verweinten Augen herum. Häufiger als sonst kamen Verwandte, Bekannte und unbekannte Leute und unterhielten sich flüsternd in der Küche. Fast täglich kam Pater Baumtrog.

In den letzten Tagen wurde Papa von einer unbestimmtem Unruhe heimgesucht. Er wollte sich irgendwohin auf den Weg machen und bat darum, seine Kleidung vorzubereiten. Auf sein hartnäckiges Bestehen hin wurde das Bett in die Mitte des Zimmers geschoben. Die Rosatöne des Lüsters änderten sich in blaue. Am nächsten Tag rasierte wurde Papa auf seinen Wunsch von Petja rasiert. Das war für ihn offenbar sehr schmerzlich, denn die Tränen rannen ihm aus den Augen. Als die Rasur beendet war, - erinnert sich Petja, - ergriff er meine Hand, küsste sie und flüsterte:

– Petja, pass gut auf Ernotschka auf, sie ist eine gute Seele.

Am 14. Dezember ging es Papotschka plötzlich besser. Er sprach mit uns, strich Lalja und mir über den Kopf, bat uns darum ehrlich zu sein und der Mama zu helfen. Danach bat er um Kaffee und sein Lieblingsgericht – Piroggen, mit Butterkrümeln bestreut (Ribelkuchen). Heute weiß ich, dass dies ein Zeichen des nahenden Endes ist, aber damals habe ich mich schrecklich gefreut und dachte, dass er nun wieder gesund wird. Doch die Freude währte nur kurz. Als ich die andächtigen Gesichter der Älteren sah, bekam ich Angst und wurde still.

Gegen Abend ging es dem Vater schlechter. Ernotschka lief zum Arzt. Pater Baumtrog kam, und man brachte uns aus dem Zimmer. Offensichtlich fand die Zeremonie des Abendmahls statt. Mit jeder Minute ging es ihm schlechter. Er schlug auf das Bett und rief irgendjemanden. Man brachte Lalja und mich zum Papotschka. Am Kopfende stand der Pater, daneben Mama, Onkel Karlusch, Tante Mathilda, Lisa. Papotschka betrachtete uns, versuchte den Kopf zu heben und sagte etwas, aber der Kopf fiel sofort auf das Kissen zurück. Dann machte er noch drei tiefe Atemzüge, zitterte mit dem ganzen Körper und wurde still. Jemand schrie auf, es entstand eine Hysterie. Man brachte mich ins Schlafzimmer und legte mich ins Bett. Ich kauerte mich wie ein Ball zusammen und zog mir die Decke über den Kopf. Ein leichtes Schaudern überlief mich.

 

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