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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Kapitel 4. Das Leben ohne Vater

Das für unsere Familie so schreckliche Schaltjahr 1928 näherte sich dem Ende. Mitte Dezember – die Beerdigung. Seit dem Morgen sah der Himmel düster aus, bedeckt von zottigen, tiefhängenden dunklen Wolken. Der Schnee fiel in schweren, nassen Flocken. Auf dem katholischen Friedhof in Saratow die Grabsteine der Verwandten: Großmütter, Großeltern, Romotschka. Die wohlbekannte Tanne, deren zottigen Zweige unter der Last des Schnees herabhingen. Wie oft waren wir mit der gesamten Familie, mitunter auch nur mit Mama, hierhergekommen. Und immer hatte mich eine leichte Trauer befallen, war der Gedanke an den Tod aufgekeimt und wieder verschwunden. Aber niemals hatte ich daran gedacht, dass sie hier, ganz in der Nähe, meinen Vater begraben würden. Und nun war diese Stunde gekommen. Das Grab. Geöffnet, der vom kalten, feuchten Wind umwehte Sarg, und darin der Vater!

Ich stand da, Mamas kalte Hand umklammernd, und sah, wie sich die Schneeflocken auf sein vom Schmerz vor dem Tode gequältes Gesicht legten. Sie blieben liegen und schmolzen nicht. Ich fand das schrecklich. Mit meinem ganzen Wesen fühlte ich, wie kalt im sein musste. Er war tot und nicht mehr bei uns, und wir blieben ganz allein zurück. Aber warum ausgerechnet er, mein Papotschka? Ich hatte doch Gott so sehr gebeten, Erbarmen mit ihm zu haben, hatte doch so viel gebetet. Warum nur hatte Er, der Barmherzige und Allmächtige, meine Gebete nicht erhört, war Er denn so grausam? Und jetzt begruben sie den Vater, und wir sind allein, ganz allein. Da fallen bereits Erdklumpen auf den Sargdeckel. Nein! Nein!

Als wir vom Friedhof nach Hause zurückkehrten, bat ich Gott wieder und wieder in völliger Verzweiflung, mir den Vater zurückzugeben, und hoffte insgeheim, dass er uns, wenn wir eintreten, entgegenkommt, um uns zu begrüßen – gesund und mit einem Lächeln im Gesicht. Nein, wenn er wenigstens nur am Leben wäre. Aber etwas Derartiges geschah nicht. Zuhause erwarteten uns leere, kalte Zimmer und unbekannte, fremde Leute, die aus irgendeinem Grund im Saal lange, schmale Tische gedeckt hatten. Konnte ich noch weiter an Gott glauben? Konnte ich in Zukunft noch beten? Gegen Morgen bekam ich Schüttelfrost, meine Temperatur stieg, vor meinen Augen erschienen bunte, gleichmittige Kreise und verschwanden wieder. Und ein nervöses Gähnen, welches ich mit aller Macht zu unterdrücken versuchte, denn ich hatte Angst, dass mit dem dritten Atemzug, wie bei Papa, meine Seele entfliehen würde. Weder Ärzte noch Medizin, und nicht einmal ein Hypnotiseur, konnten mir helfen. Wie immer heilte auch hier die Zeit. Zum Frühjahr hin konnte ich meine Umgebung bereits wieder normal aufnehmen, konnte mich wieder freuen oder betrübt sein.

Aber in dieser Zeit ereigneten sich im Land gravierende Veränderungen. Die Neue Ökonomische Politik wurde liquidiert und der Kurs auf die Industrialisierung und Kollektivierung des Landes proklamiert, die Repressalien verstärkten sich. Das Land kehrte in den Lauf deswarenlosen Sozialismus zurück. Verboten wurde der Privathandel mit Getreide, es kam zu Absperrungen, die keine Durchfahrten für Fuhrwerke mit Getreide in die Stadt mehr zuließen. Getreide wurde nicht verkauft, sondern konfisziert und verteilt. Praktisch wurde die Ablieferungspflicht wieder eingeführt, nur nannte man es jetzt staatliche Planungsaufgabe. Mehr noch, wenn der «Kriegskommunismus» nur den Bauern das Getreide weggenommen, ihnen die Freiheit zum Pflügen und Säen jedoch überlassen hatte, so entzog man dem Bauern nun auch dieses Recht.

In jenem Jahr wurde in allen Städten Russlands das Kartensystem für die Verteilung von Produkten eingeführt. Dabei fanden viele diese Form der Versorgung der Bevölkerung dem Geiste des Sozialismus entsprechend und deswegen gerechter, denn jetzt konnten die Nepmannen sich nicht mehr «auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung überfressen». Bei der «Hilfestellung» zur kommunistischen Reform der Dörfer schickte die Landesregierung 25000 Industriearbeiter dorthin, vorwiegend Kommunisten. Es begann die Zwangsvergesellschaftung der Häuser, des Kleinviehs und sogar des Geflügels. In den Dörfern verschärfte sich die Jagd auf wohlhabende Bauern. Im Februar-März des Jahres 1930 setzte die Massen-Entkulakisierung ein. Das Land wurde von einem Netz an Lagern, den Siedlungen der „Sondersiedler“ überzogen. Hunderttausende ehemalige Farmer wurden gewaltsam von ihren Ländereien fortgerissen und man machte aus ihnen unbezahlte Arbeitskräfte auf Baustellen des Fünfjahresplans.

Das Aussehen Saratows veränderte sich. Auf den zentralen Straßen der Stadt gab es immer weniger Reklame, aus den Vitrinen verschwanden als Erstes Luxusartikel, welche die Menschen verrückt gemacht hatten, und dann auch die allernötigsten Waren. Die von den Nepmannen konfiszierten Geschäfte und Restaurants wurden geschlossen. In der Deutschen Straße schloss die Lieblingskonditorei der Kinder, die Konditorei Philippow, in der sie so leckere Kuchen und Waffelröllchen mit einer göttlichen Creme-Füllung verkauft hatten. Praktisch verschwanden die rücksichtslosen Droschkenfahrer, ihr aufforderndes Geschrei: «He, lasst mich vorbei» war nicht mehr zu hören. Es bildeten sich Schlangen, die von Monat zu Monat länger wurden. Es gab immer mehr rote Tafeln, entlang und über den zentralen Straßen der Stadt. Auf diesen forderte die Partei die Bürger in Briefen verschiedener Größe und unterschiedlichen Stils auf, den Fünfjahresplan in vier Jahren zu erfüllen, die Industrialisierung und Kollektivierung des Landes zu verwirklichen, Bourgeoisie, Kulaken und Schädlinge auszurotten. Die Gesichter der Menschen wurden fokussierter und strenger.

Für unsere Familie begannen nach dem Tod des Vaters schwere Tage. Für ärztliche Behandlung, Beerdigung, Grabstein wurden sämtliche Ersparnisse verbraucht, es entstanden Schulden. Wir lebten von der Rente für den Vater und dem Geld, welches zwei Familien uns zahlten, die in dem zur Straße zeigenden Haus wohnten. Auf materielle Hilfe der Verwandten, besonders von Papas Seite, konnten wir nicht rechnen, denn sie machten selbst schwere Zeiten durch. Onkel Fedja hatten sie die Werkstatt weggenommen, obwohl er darin allein gearbeitet und nie irgendwelche Arbeiter angestellt hatte. Dabei hatte er eine kranke Ehefrau und zwei Kinder: Sohn Viktor und Tochter Olga. Erst ein Jahr später fand er endlich Arbeit als Buchbinder in der Bibliothek der Saratower Universität. Onkel Karlusch, der 1929 sein 63. Lebensjahr vollendete, musste für den Unterhalt von vier Personen aufkommen: seine Ehefrau, zwei Töchter und die älteste Schwester – Tante Amalie. In der Familie von Onkel Eduard waren nach dessen Tod zwei Töchter hinterblieben, und ihre Mutter fristete nur mit Mühe ihr Dasein. Tante Lena begab sich nach Kasachstan, wohin ihr Ehemann ausgewiesen worden war – Konstantin Jakowlewitsch Kwitkowski. Von ihren drei Söhnen war nur Jascha noch am Leben. Tolja, der an Tuberkulose gelitten hatte, starb recht jung. Sascha wurde Repressalien ausgesetzt und kam im Lager ums Leben. Tante Mathilde, die als Kassiererin in einem der Geschäfte Saratows arbeitete, lebte allein.

Hilfe kam von Onkel Robert aus Deutschland. Er, der seinen Neffen sehr gern hatte, schickte uns Überweisungen und Pakete, und im Frühjahr 1929 traf er selbst bei uns ein. Er kam völlig unerwartet, hatte niemandem vorher Bescheid gegeben. Ich kann mich noch sehr gut an den Tag erinnern. Wir frühstückten gerade. Plötzlich schlug das Tor zu und der Hund fing an zu bellen. Mama schaute aus dem Fenster und sah einen stattlichen Herrn mit einer Reisetasche in der Hand. Zuerst erschrak sie, hielt ihn für einen Steuerinspektor, doch als sie genauer hinsah, erkannte sie ihn, stieß einen Schrei aus und lief zur Tür, um diese zu öffnen. Wir begriffen anfangs nichts. Mit wem umarmt Mama sich denn da, wen küsst sie und warum weint sie? Dann waren wir an der Reihe ihn zu küssen. Zwanzig Minuten vergingen mit Gesprächen, bevor meine Mutter sich vorsichtig nach seinem Koffer erkundigte. Er war sicher nicht nur mit leichtem Gepäck aus Deutschland gekommen. Woraufhin der Onkel sehr ruhig antwortete, dass er die Sachen draußen beim Droschkenkutscher gelassen hätte, der wohl erraten könnte, dass er es ins Haus bringen sollte. Mama geriet in helle Aufregung und versuchte zu erklären, dass dafür gerade nicht die Zeiten seien und dass der Kutscher vermutlich längst mit den Sachen über alle Berge sei. Wie groß war ihre Überraschung, als sich herausstellte, dass der Mann immer noch an Ort und Stelle stand und lediglich mit brummigem Unterton fragte, weshalb er so lange hatte warten müssen. Auf die Frage des Onkels, weshalb er das Gepäck nicht ins Haus getragen hätte, bemerkte er vernünftig:

– Soll ich etwas die Equipage (er benutzte genau dieses Wort «Equipage») unbeaufsichtigt lassen, - und dabei wies er mit einer ausdrucksstarken Geste auf eine Horde Kinder, die interessiert die Kutsche und die beiden großen Lederkoffer betrachteten.

Was der Onkel mitbrachte, vermag ich nicht zu sagen, aber ich denke, dass sich auch Lebensmittel darunter befanden, denn für eine gewisse Zeit standen auf dem Tisch wieder süßer Kaffeeå, Käse, Wurst und andere Delikatessen. Mir hatte er eine Spielzeuglokomotive mitgebracht, die mit Dampf fuhr, genau wie einen echte, nur dass in den Feuerraum eine Spirituslampe mit drei Dochten gestellt wurde. Die Lok paffte und pfiff auch wie eine richtige und rate über die Schienen, wobei sie einen Zug aus vier Waggons hinter sich herzog. Als der Onkel abreiste, ließ er alles zurück, was möglich war, sogar die Reisedecke, mit der er sich unterwegs zugedeckt hatte.

Und wieder Alltag, Mühsal und Sorgen. Mama hatte es wahrscheinlich sehr schwer. Die Rente reichte lediglich für Brot. Sich eine Arbeit zu suchen machte keinen Sinn, denn dann hätte sie ihre Rente verloren. Mit dem Tode des Vaters drohte Ernotschka der Ausschluss aus dem Konservatorium, denn sie war nicht mehr abhängig, arbeitete nicht, sondern studierte an der Universität. Und da entschloss Petja sich zu einem Schritt, der, nach seinen Worten, ganz und gar nicht typisch für ihn war: er schloss eine fiktive Ehe mit Ernotschka. Nachdem er das letzte Studienjahr abgeschlossen hatte, erhielt er seine Ernennung als Lehrer im Jagodna-Poljansker Bezirk. Von dort schickte er Ernotschka eine Bescheinigung, dass sie seine Ehefrau und von ihm abhängig sei, was es ihr ermöglichte, ihr Studium fortzusetzen. Es kam der Winter, das Lehrjahr ging zu Ende. Nachdem Petja sich einige Tage in Saratow erholt hatte, fand er Arbeit bei der statistischen Verwaltung und begab sich auf eine statistische Arbeitsreise in die Deutsche Republik. Ernotschka verließ, nachdem sie den dritten Kurs an der pädagogischen Fakultät abgeschlossen hatte, ebenfalls die Universität und schrieb sich für pädagogische Fremdsprachenkurse ein. Am 1. September 1929 ließen sie sich in der römisch-katholischen Kirche von Saratow durch Pater Freilich trauen. Mama, Lalja und ich befanden uns zu diesem Zeitpunkt, den letzten kostenlosen Zug nutzend, auf der Krim, Lisa auf der Datsche.

Petja kommentiert diese Ereignisse in seinen Erinnerungen folgendermaßen: «Nach der kirchlichen Trauung ein kleines festliches Mittagessen im «Astoria» (damals das beste Restaurant in der Stadt) im engsten Freundeskreis. Wäre Sophia Oswaldowna zu Hause gewesen, hätte die Hochzeit möglicherweise nicht stattgefunden! Und wieder gehen wir in verschiedene Richtungen auseinander – ich nach Krasnij Kut für meine Tätigkeit als Lehrer an der deutschen Oberschule, Ernotschka blieb in der Stadt, um ihre Prüfungen abzulegen».

Ich weiß noch, wie Mama und ich im «Lipki»- Stadtpark auf das Ende ihres Abschluss-Konzerts warteten. Soweit ich mich erinnere, bestand es aus den von uns allen so geliebten Werken Schumanns, Liszts, Chopins, und wir bedauerten, dass wir es nicht hören durften. Das Konzert verlief erfolgreich. Das Konservatorium war beendet. Und nun stand vor Ernotschka die Frage nach ihrem weiteren Familienleben. Sie, die die Stadt und die städtische Lebensweise leidenschaftlich liebte, versuchte Petja dazu zu überreden, sich in Saratow niederzulassen. Doch er setzte seinen Dickkopf auf: «Wir werden nur auf dem Lande leben, näher am Volk, an unseren Quellen und Wurzeln». Offenbar hatte er reichlich genug von unseren familiären Problemen. Und dann, nachdem Ernotschka Neujahr 1930 zu Hause gefeiert hatte, fuhr sie zu Petja nach Krasnij Kut. Sie fuhr mit gemischten Gefühlen. Einerseits freute sie sich auf das Wiedersehen, andererseits – hatte sie wie bei einem Feuer Angst vor dem Dorf, der dörflichen Lebensweise, den ländlichen Sitten und Gebräuchen und dem Bauern Petja, der sie mit seiner Grobheit, seinem Despotismus und seiner Einstellung zu Frauen in Schrecken versetzte. In Krasnij Kut arbeitete sie an der Schule – sie unterrichtete Musik und Chorgesang. Doch bereits im Herbst, nachdem sie in Mutterschaftsurlaub gegangen war und das neue Schuljahr nicht mehr begonnen hatte, kehrte sie nach Saratow zurück.

In diesen Jahren verschärfte sich in Saratow, wie überall im Land, vehement die politische Lage. Zu den gegen Kulaken, Nepmannen und Gottesdiener gerichteten Repressalien kamen nun Verfolgungen der technischen Intelligenz, Führungskräfte, Beamten hinzu, welche, die man beschuldigte, terroristische Akte, Sabotage und Schädlingstätigkeit verübt zu haben. In der Stadt munkelte man, dass es Massenverhaftungen geben würde. Einige sprachen darüber flüsternd und voller Angst, andere – sagten es lauthals frohlockend heraus, die Dritten hatten, wie sich jetzt herausstellte, nichts gehört und nichts gewusst. Mama war furchtbar besorgt. Und obwohl unsere Familie bei keinerlei Terrorakten, Sabotagen und Schädlingstätigkeiten involviert war, waren ihre Befürchtungen nicht grundlos. In den Jahren 1929-30 wurden viele von Papas Kollegen verhaftet, aber auch bekannte Gottesdiener. Mama wartete, dass man sie auch bald holen würde.

Das geschah 1930. Die Stille der Nacht durchdrang ein jähes, anhaltendes Klopfen. Alle sprangen auf. Mama begriff sofort und öffnete klaglos die Tür. Lalja und ich schauten verängstigt aus dem Kinderzimmer. Vier Männer traten ein. Einer von ihnen, der mit einer schwarzen Lederjacke bekleidet war und weder grüßte noch den erschrockenen, halb bekleideten und barfüßigen Bewohnern die geringste Aufmerksamkeit schenkte, ging durch alle Zimmer und wollte dann, nachdem er nur uns entdeckt hatte, mit lauter Stimme wissen: «Und wo ist der Hausherr?«. Nach einer längeren Pause fragte Mama fassungslos zurück: «Welcher Hausherr?» - wodurch sie den Tschekisten auf das Äußerste verärgerte. Es folgte eine lange wütende Tirade, der wir entnehmen konnten, dass sie gekommen waren, um Papa zu verhaften. Mamas Versuche anhand der Dokumente in ihren Händen zu beweisen, dass Papa bereits vor mehr als zwei Jahren verstorben war, fasste der Tschekist als persönliche Beleidigung auf. Der zweite der nächtlichen Besucher, mit einem Soldatenmantel bekleidet, ließ sich auf einem Stuhl an der Eingangstür nieder. Er streckte seine durch die nächtlichen Märsche ermüdeten, in Schweineleder-Stiefeln steckenden, Beine aus, lehnte sich an die Stuhllehne zurück und zeigte mit seinem ganzen Erscheinungsbild, dass sie für lange Zeit hierhergekommen wären und sich nicht so leicht würden entfernen können. Neben ihm, von einem Fuß auf den anderen tretend, standen zwei unserer Wohnungsmieter, die, wie ich es heute verstehe, als Zeugen geladen worden waren. Neben ihren Füßen breiteten sich auch schlammige Pfützen von den Füßen der Soldaten aus. Nachdem das Wortgefecht zwischen dem Sicherheitsbeamten und Mama einen recht scharfen Charakter angenommen hatte, räusperte sich einer der Zeugen, der in der Stadt bekannte Schneider Mitzmacher und versuchte mit unkenntlich heiserer Stimme den Tod des Vaters zu bestätigen. Doch der Tschekist verlangte in groben Worten, dass er schweigen sollte.

Unterdessen begann Mama, die für gewöhnlich so schüchtern und ängstlich war, besonders wenn es um das NKWD ging, urplötzlich, wahrscheinlich gebrochen von all dem über sie hereingestürzten Unglück, mit verzweifelter Entschlossenheit den Tschekisten der Unmenschlichkeit und Grausamkeit zu beschuldigen. Wir alle erstarrten vor Angst. Aber zu unserer Verwunderung, und wohl auch zum nicht geringeren Erstaunen des Soldaten, zog der Tschekist schweigend aus seiner Brusttasche irgendwelche Papiere hervor und zeigte sie Mama. Es handelten sich um den Befehl für Papas Verhaftung und die Durchsuchung der Wohnung. Nach all dem, was wir erlebt hatten musste ich plötzlich dringend zur Toilette, doch der Soldat ließ mich nicht, und ich, von einem auf den anderen Fuß springend, quälte mich so sehr, dass ich an allem anderen, was vor sich ging, das Interesse verlor. Die Situation wurde durch eben jenen Mitzmacher gerettet, der mir mit Erlaubnis des Soldaten einen Topf aus der Toilette holte. Leider war es bereits zu spät.

Danach begann die Durchsuchung. Sie nahm nach Mamas Erinnerungen einen gewissen formellen Charakter an und entsprach nicht den damals geltenden Standards. Er Tschekist erwachte erst wieder zum Leben als er sich an die Kommode machte und in ihren Schubladen die Vielzahl sorgfältig zusammengerollter Beutel, Bündel und Säckchen sah. Wohl in der Annahme, dass darin Listen geheimer Organisationen, Terroristen oder andere nicht weniger wichtige Dinge aufbewahrt wurden, begann er die Schleifchen zu lösen, die sich in seinen für derartige Tätigkeiten ungeschickten Händen gelegentlich noch mehr verknoteten. Er wurde wütend, riss an den Faltungen des nächsten Bandes, entdeckte, nachdem er es entwirrt hatte, jedoch wieder nur irgendwelche Fetzen, Bändchen und Schleifchen. Müde geworden, holte der Tschekist den zweiten Zeugen zur Hilfe. Aufgrund ihrer fast zweistündigen Arbeit war der gesamte Fußboden um die Kommode herum mit Fetzen übersät, aus denen Mama so kunstvoll Überwürfe für die Betten, Matten und Läufer genäht hatte. Sie gingen fort als vor den Fenstern die Morgendämmerung graute. Von nun an sahen wir jeder hereinbrechenden Nacht mit Angst und Sorge entgegen, weil wir dachten, dass sie kommen würden, um Mama zu verhaften. Im Kinderzimmer stellten wir die Betten so zusammen als wäre es ein gemeinsames großes und legten uns zusammen schlafen. In der Mitte Mama, an den Bettkanten Lalja und ich. Die Nächte verrannen wie im Fieberwahn. Jedes Mal, wenn ein Auto am Haus vorüberfuhr oder die Pforte zuschlug, erwachten wir und sprangen auf. Seitdem habe ich mich noch lange Zeit vor dem Einbruch der Nacht gefürchtet.

Sie kamen nicht, um Mama abzuholen. Sie kamen wegen Petja. Sie verhafteten ihn in Krasnij Kut am 25. Dezember 1930, zwei Tage vor der Raingolds (Reinholds) Geburt - Goldi (Holdi), wie Ernotschka ihren Erstgeborenen nannte. Drei Monate lang stürmten Ernotschka und Mama die Schwellen der Gefängnis-Kanzleien, fuhren nach Krasnij Kut, Pokrowsk. Es stellte sich heraus, dass er ins Untersuchungs-Isolations-Gefängnis von Saratow gebracht worden war. Mit viel Mühe gelang es, ihm Wäsche und etwas Essen zukommen zu lassen. Hier, im Besucherraum des Gefängnisses, konnte er zum ersten Mal seinen Sohn sehen. Er kehrte im Sommer zurück und machte sich sogleich an die Gartenarbeit. Und obwohl er vollkommen freigesprochen wurde, berichtete er nichts von den Ereignissen, die sich in den Kerkern des NKWD zugetragen hatten.

Mit der Ablehnung der NÖP und dem Beginn der Massen-Kollektivierung verschärfte sich auch jäh der Druck auf die Einzelbauern. Für sie erhöhte man, im Gegensatz zu den Kolchosbauern, die Normen der Pflichtabgaben an den Staat, setzte die Agrarsteuersätze herauf und senkte die Preise für die abzugebenden Produkte. Infolgedessen nahm die Zahl der Bauern, die nur ein Pferd oder überhaupt keins mehr besaßen, dramatisch zu. Die Getreideproduktion sank erheblich. Ab dem Jahr 1928 lebte das Land auf Karten. Alles, was man im erntereichen Jahr 1930 aus den Dörfern herausholen konnte, ging an den Staat. Im Frühjahr 1932 lebten die Menschen von der Hand in den Mund. Sobald die ersten Ähren gereift waren, gingen die Mütter der hungernden Kinder nachts mit Scheren aufs Feld. Als das Einbringen der Ernte begann, trugen die Kolchosbauern, aus Angst, dass sie nach der Zwangsabgabe an den Staat ohne Brot dastehen würden, das Getreide in ihren Taschen und an der Brust nach Hause. Als Antwort darauf kam am 7. August 1932 das Gesetz zum Schutz des sozialistischen Eigentums heraus, welches im Volk das «Drei-Ähren-Gesetz» genannt wurde. Gemäß diesem Gesetzwurde sollte für das Sammeln von Ähren der Tod durch Erschießen oder ein Freiheitsentzug von nicht weniger als 10 Jahren mit Konfiszierung des Besitzes angewendet werden. Innerhalb von 5 Monaten des Jahres 1932 wurden 55000 Personen verurteilt, darunter 2100 zur Erschießung. Unter den Verurteilten befanden sich zahlreiche Frauen. Und trotzdem wurden, ungeachtet der großen Hungersnot, 18 Millionen Zentner Getreide ins Ausland exportiert - zum Erhalt von Valuta für die Industrialisierung.

Im Winter 1932 brach vor dem Hintergrund der «vollständigen Kollektivierung» im Land eine in Friedenszeiten noch nie dagewesene Hungersnot aus. Sie suchte etwa 25-30 Millionen Menschen heim. Es waren die Getreidebezirke der Ukraine, des Don, des Nord-Kaukasus, des Wolgagebiets, des Süd-Urals und Kasachstans.

Bei dem Versuch, das Ausmaß der Tragödie zu verbergen, untersagte die Regierung des Landes den Hunger in den Masseninformationsmitteln zu erwähnen. Eine Verletzung dieses Verbots wurde als kriminelle Handlung gewertet, die mit 3-5 Jahren Gefängnis bestraft wurde. Die Zeitungen kamen mit lächelnden jungen Leuten heraus, die Banner in ihren Händen hielten, mit Artikeln über die gigantischen Bauten des Fünfjahresplans und Auszeichnungen der Bestarbeiter. Aber in dieser Zeit starben ganze Dörfer aus, und es kam sogar zu Kannibalismus.

Die Wellen der Entkulakisierung, die die Republik in den Jahren 1930- 32 überrollten, richteten diese zugrunde. 1933, wie seinerzeit auch, füllten sich die Bahnhöfe und Märkte Saratows mit aus den Dörfern geflohenen hungrigen Kolonisten. Hunger und Repressalien führten zu einem starken Rückgang der Einwohnerzahl in der Republik. Wenn laut der landesweiten Volkszählung des Jahres 1926 in der Republik der Wolgadeutschen noch 650000 Menschen lebten, so waren es 1938 nur noch 379000. Dementsprechend gab es in der Schwarzmeer-Region von ursprünglich 600000 lediglich noch 355000.

Die materielle Lage unserer Familie war 1932 kritisch. Die Steuern für Datsche, Garten und Hausbesitz stiegen gravierend. Unter Berücksichtigung der Einnahmen von den Mietern wurde die Rente von 70 auf 30 Rubel im Monat gekürzt. Mama begann nach und nach unseren Besitz zu veräußern. Bereits zuvor, 1929, gleich nach dem Tod des Vaters hatte sie das Bienenhaus verkauft. Dieser Verkauf war in gewisser Weise normal gewesen, denn es hatte niemanden mehr gegeben, der sich um die Bienen kümmerte. Dann wurde das teure Service verkauft, und schließlich kam das Haus an die Reihe – Laljas und mein angestammtes Nest. Fast die Hälfte der dafür eingenommenen Summe musste für Schuldentilgungen und Steuerzahlungen verwendet werden. Der Rest war durch die Lebenshaltungskosten schnell verbraucht. Wir zogen in das Haus, welches zur Straße zeigte, und bezogen dort zwei Räume, von denen einer das Durchgangszimmer war. In dem abgetrennten Zimmer wurden Ernotschka, Petja und Goldi untergebracht, im Durchgangszimmer – Mama, Lalja und ich. Es begann eine für uns vollkommen unbekannte Lebensweise. Ein Leben vor den Augen anderer Leute. Die Wohnungsmieter, welche die anderen beiden Zimmer (in einem davon wohnten die Mitzmachers) bewohnten, waren zu jeder Zeit, Tag und Nacht, gezwungen, auf dem Weg in die Küche, ins Badezimmer oder zur Toilette, durch unser Zimmer zu gehen. Auch die Wandschirme, die Mamas und Laljas Betten umgaben, waren nicht sehr hilfreich. Besonders litt Lalja unter dem Zustand, da sie inzwischen bereits 16 Jahre alt geworden war.

Bald darauf zogen Ernotschka, Petja und Goldi in die Wohnung meines Patenonkels – Karl Iwanowitsch Staub, der dort ein kleines Zimmerchen bewohnte. Dort wurde ihr zweiter Sohn geboren - Adolf. Petja schrieb in Anbetracht der beengten Wohnverhältnisse: «Wenn Adolf Fjodorowitsch hätte sehen können, mit was für einem schrecklichen Schicksal meine geliebte Ernotschka bedacht worden war». Karl Iwanowitsch selbst war Professor am Lehrstuhl für Chemie an der Universität Saratow. Seine Familie stand mit unserer in einer verwandtschaftlichen Beziehung, in welcher genau, weiß ich nicht. Seine Frau hieß Alexandra Iwanowna. Die beiden hatten eine Tochter in meinem Alter, mit hübschem Gesicht, doch, ebenso wie Karl Iwanowitsch, hinkte sie stark. Wir hielten uns selten bei ihnen auf. Von diesen Besuchen ist in meiner Erinnerung das Bild eines großen und aus irgendeinem Grund immer dunklen Raums geblieben. Zwischen den Fenstern ein Schreibtisch, dessen Oberfläche von einem grünen, mit Tintenflecken übersäten Tuch bedeckt war; darauf stand eine Tischlampe mit einem Schirm aus grünem Glas – und der Onkel saß dort mit gebogenem Rücken in einer braunen Samtjacke. Wenn Mama und ich Karl Iwanowitsch besuchten, riss er sich nie lange von seiner Arbeit los; er erkundigte sich nach der Familie, dem gesundheitlichen Befinden, strich mir über den Kopf, bot mir Konfekt an und beugte sich erneut über seinen Schreibtisch. Mama, die sich zu Alexandra Iwanowna gesellt hatte, unterhielt sich leise mit ihr. Und mir war entsetzlich langweilig.

Das freigewordene Zimmer vermietete Mama an Artisten eines Zirkus, der sich zwei Blocks von uns entfernt befand. Es versteht sich von selbst, dass ich unter diesen Bedingungen oft, und nach Mamas Ansicht zu oft, alle neuen Zirkusvorstellungen aufsuchte. Die prächtigen Farben, die Dynamik der Abläufe, die nervliche Anspannung und ganz besonders die mysteriösen Darbietungen der Magier faszinierten mich. Aufgeregt, voller lebendiger Eindrücke, kehrte ich nach Hause zurück und konnte lange nicht einschlafen. Mama war darüber besorgt. Außerdem war der systematische Wechsel der Mieter und deren übermäßig lautes Verhalten recht strapaziös. Infolgedessen tauchte im Zimmer ein neuer Bewohner auf – Wladimir Plotnikow, Ingenieur der Saratower Funkstation, ein junger Mann von 23 Jahren, wohlgebaut, militärisch fit und voller Energie. Zu meinen Aufgaben gehört keine detaillierte Beschreibung seines Äußeren, daher werde ich mich auf einen einzigen Satz beschränken: er war schön. Nicht umsonst gaben Laljas Freundinnen, die damals 16, 17 Jahre alt waren, ihm den Spitznamen «Schönling». In jenem Zimmer brachte Mama gemäß der Vereinbarung auch mich unter. Soweit ich das verstehe, wollte Mama damit zwei pädagogische Aufgabenstellungen zugleich lösen. Erstens, den Beginn meiner Männlichkeit bei der Erziehung zu stärken, und mich, zweitens, für den Beruf eines Funkers zu interessieren.

Nach allem zu urteilen wurde die zweite Aufgabe am besten gelöst. Ich nahm begierig Wolodjas Erklärungen auf und begann schon bald unter seiner geschickten Anleitung mit dem Zusammenbau eines Detektorempfängers. Jetzt werden solche Singe ganz einfach gemacht. Man kauft einen Bausatz, zu dem die Baupläne und Montageanleitungen gehören, die Platine und alle notwendigen Teile mit Markierungen, die einem zeigen, was wo angelötet werden muss. Dabei besteht keinerlei Notwendigkeit jene Prozesse zu verstehen, die in dem gebauten Gerät ablaufen. Alles ist sehr einfach, aber wenig interessant.

Ich musste fast alles komplett selbst machen: die Basis für die Spulen kleben, die Windungen - ohne mich zu verzählen, den Draht darauf wickeln, der mit einer grünen, seidigen Ummantelung versehen war, nach einer bestimmten Anzahl Windungen die Ableitungen herstellen und sie mit Kabelklemmen zu befestigen. Und wie mühselig es war, die Rückkopplungsspule zu befestigen, die sich innerhalb der Hauptleitung (Kontur) frei drehen können sollte. Die einzigen Fabrikteile waren die Kopfhörer und der Detektor. Aus irgendeinem Grund fand letzterer mein besonderes Interesse, wahrscheinlich wegen des geheimnisvoll schimmernden Kristalls, der an bestimmten Punkten über eine einseitige Leitfähigkeit verfügte. Die Punkte mussten jedes Mal mit einer in eine Glasröhre eingebettete Feder ertastet werden.

Aber was für eine Freude, als ich zum ersten Mal die Stimme des Ansagers einer lokalen Radiostation in den Kopfhören vernehmen konnte. Später habe ich in meinem Leben viele Radios gebaut, zuerst batterie- und dann auch netzbetriebene, aber das Gefühl, das ich damals, als ich zum ersten Mal die Geräusche des Äthers vernahm, empfand, ist mir für immer in der Erinnerung geblieben. Allerdings gab es auch bittere Minuten. Ich weiß noch, wie Wolodja mir eine Skalenscheibe mitbrachte – eine schwarze, mit einem mit weißen, nummerierten Markierungen versehenen Griff, der zum Drehen der Rückkopplungsspule bestimmt war. Meine Freude kannte keine Grenzen. Und man durfte nicht ungeschickt sein. Als ich anfing, die Scheibe an der Vorderseite des Empfängers anzubringen, glitt sie mir aus den Händen, fiel zu Boden und zerbrach. Mir schien es so, als ob ich nice wieder im Leben eine derartige Freude erleben würde. Egal womit ich auch versuchte, den zerbrochenen Griff wieder zusammenzukleben, er ging jedes Mal unwiderruflich wieder entzwei. Und diese Versuche, das Zerbrochene wieder ganz zu machen, zogen meine Erfahrungen nur noch in die Länge.

Anfangs war meine Beziehung zu Wolodja mehr als gut. Ich erriet jeden seiner Wünsche, und er hielt an seinem väterlichen Tonfall fest. Doch diese Idylle begann nach und nach aufgrund von Umständen zu zerbrechen, die nicht von mir abhängig waren. Zwischen Wolodja und Lalja, die sich zu jener Zeit von einem zickigen, mich ständig aufziehenden Mädchen in ein sympathisches Wesen verwandelt hatte, entstand eine besondere Beziehung. Sie gingen häufig ins Kino, mitunter auch ins Theater. Ich, die Rechte eines Bruders nutzend, wünschte mir, mehr in Wolodjas Nähe zu sein, doch ich störte ständig. Unsere Beziehung verschlechterte sich. Alles endete kläglich.

Wolodja machte sich daran einen Fernseher zu bauen. Damals gab es nichts von dem, was als Grundlage eines heutigen Fernsehgeräts dient. Die Rolle der zeitgenössischen Bildröhre nahm die Nipkow-Scheibe (Bildabtastscheine; Anm. d. Übers.) ein. Die Nipkow-Scheibe baute Wolodja aus einer großen (1 x 1 Meter) Ebonit-Platte, die er von der Arbeit mitbrachte und in seinen Schrank stellte. Zu der Zeit war ich besessen von der Idee, einen batteriebetriebenen Zwei-Röhren-Rundfunkempfänger zu bauen, wofür ich ein Untergestell benötigte. Mir schien, dass Ebonit am besten dafür geeignet wäre. Und so sägte ich aus der Platte, die Wolodja mitgebracht hatte, mit großer Mühe mittels einer Laubsäge das Stück heraus, das ich brauchte. Als Wolodja die verdorbene Platte entdeckte, wurde er furchtbar wütend, drückte mich in die Bett-Ecke und schlug mich mehrmals mit seinem breiten Soldatengürtel. So hat sich mir gegenüber niemals irgendjemand verhalten. Ich war zutiefst gekränkt. Aber ich wusste nicht, was ich unternehmen sollte. Mich bei meiner Mutter zu beschweren wagte ich nicht, und sie war auch nicht zu Hause; auch Lalja war nicht da, auf die ich einen Teil Meiner Kränkung übertrug. Meine Tränen hinunterschluckend rannte ich nach draußen und ging ziellos durch die Gegend. Doch allmählich verwandelten sich meine Gefühle in einen konkreten Plan. Ich beschloss, in den Garten zu fahren. Es war Spätherbst. Die Datsche war schon vernagelt. Und weder im Garten noch in der näheren Umgebung konnte man auch nur eine einzige Menschenseele antreffen. Aber davor fürchtete ich mich nicht. Das Wichtigste war, dass ich verschwand, alle mit mir Mitleid hatten und Wolodja seine Tat bereute. Obwohl – nein, das war nicht nötig. Sollten doch alle auf ihn böse sein, einschließlich Lalja. Vielleicht war dies genau der Punkt meines hinterlistigen Plans, meiner Rache. Ich stieg in die halbleere Straßenbahn, die in Richtung Datschen fuhr, kaufte einen Fahrschein und setzte mich ans Fenster. Und erst da fiel mir plötzlich ein, dass ich eigentlich in die Schule musste. Zuerst bekam ich Angst, aber dann beschloss ich, dass dieser Umstand allem, was passiert war, eine besondere Schärfe verleihen würde. Es war eine lange Fahrt, allmählich ließ die nervliche Anspannung nach, und ich begann die Situation kritisch zu bewerten. Nun war ich schon nicht mehr überzeugt von der Richtigkeit meines Vorgehens. Selbstverständlich hatte Wolodja kein Recht gehabt mich zu schlagen, davon war ich überzeugt, aber einfach fortzulaufen – damit rächte ich mich nicht an ihm, sondern zwang Mama sich Sorgen zu machen. Ich konzentrierte mich auf diesen Gedanken und stellte mir vor, wie sie weinend durch das Haus lief und schließlich zur Miliz eilte. Als ich schließlich an meiner Endhaltestelle ausstieg, war ich beinahe vollständig sicher, dass meine Aktion falsch war.

Nachdem ich einige Dutzend Meter auf dem mir wohlbekannten Pfad gegangen war, hielt ich am Waldrand inne. Die Blätter hatten sich zu hellen Gelb- und Rottönen verfärbt, stellenweise standen die Bäume vollkommen kahl da, und ihre vom Wind zerbrochenen Äste erinnerten an aus den Gelenken gedrehte Arme. Aus der Niederung, die ich nun durchschreiten musste, wehte ein feuchter, moderiger Geruch herüber. Und ich fühlte mich plötzlich so verlassen, so verwaist und wünschte mir so sehr Mamis Zärtlichkeit und beruhigenden Worte herbei, dass ich auf dem Absatz kehrtmachte und durch das raschelnde Laub in Richtung, zur Straßenbahn rannte, die Richtung Stadt fuhr. Ich sprang auf das Trittbrett und stieg ein. Mir wurde leichter ums Herz und aus irgendeinem Grund erinnerte ich mich daran, dass Mama heute meine Lieblingsnudeln kochte. Der Waggon war ein Anhängewagen, und es gab keinen Schaffner. Auf den vorderen Sitzen saßen zwei alte Frauen mit Eimern. Ich machte mir die Situation zunutze, trat auf die Trittstufe hinunter, lehnte mich ein wenig zurück und sah zu, wie die Schienen unter den Rädern davoneilten. Und plötzlich ein Schlag, ein greller Lichtblitz und dann Dunkelheit. Unten an der Böschung erwachte ich irgendwann wieder. Oben stand die Straßenbahn, der es nicht gelungen war, sich weit von dem unglückseligen Stützpfeiler zu entfernen, und gab ein Ruf-Signal. Ich stand auf, winkte dem Straßenbahnführer mit der Hand zu und ging, mühsam ein Bein vor das andere setzend, in Richtung eines in der Ferne sichtbaren Hauses. Aus der Kurve der Dorfstraße kam eine Kutsche herausgefahren, die sich schon bald mit mir auf einer Höhe befand. Als der Kutscher mich sah, hielt er das Pferd an und rief: «Junge, wer hat dich denn so zugerichtet?». Erst da, als ich meinen Kopf berührte, bemerkte ich, dass meine Haare blutverklebt waren. Der Mann war äußerst teilnahmsvoll: er brachte mich zu einer Holzhütte, half mir mich zu säubern und fuhr mich dann zur nächstgelegenen Haltestelle. Als ich in die Stadt zurückkam, dämmerte es bereits. Doch ich ging nicht nach Hause, sondern zu Ernotschka. Entsetzt von meinem Anblick, desinfizierte sie vorsichtig meinen ziemlich verletzten Hinterkopf, wobei sie beinahe eine ganze Flasche Jod verbrauchte. Es ist mit nicht gelungen, mich daran zu erinnern, womit die Geschichte endete, wie ich Mama wieder begegnete und vor allem Wolodja.

Jetzt sollte ich über das Lernen und die Schule sprechen, aber gerade in dieser Sache hat mich mein Gedächtnis vollends verlassen. Zweifelsohne gehörte ich nicht zu den Wunderkindern. Ich glaube vielmehr, dass ich an einer gewissen Verzögerung in der Entwicklung litt. Jedenfalls begann ich erst später als meine Altersgenossen zu sprechen, und Lesen lernte ich erst im sechsten Lebensjahr. Ich besuchte nie einen Kindergarten. Es waren die Eltern, die mich auf die Schule vorbereiteten. In dieser Zeit zog ich es vor, zu malen und einfache arithmetische Aufgaben innerhalb der ersten zwanzig Zahlen zu lösen. Ich hörte gern zu, wenn Mama, Lalja und Ernotschka der Reihe nach einen Roman vorlasen. Zur Schule schickten sie mich erst im Alter von acht Jahren. Der Unterricht dort fand in deutscher Sprache statt. An derselben Schule, in der vierten Klasse, lernte Lalja. Die Schule befand sich irgendwo in der Nähe der Deutschen Straße. Sehr schattenhaft erinnere ich mich an die riesige kubische Form der Eingangshalle. Eine gusseiserne Treppe führte in den zweiten Stock. Ans Foyer schloss sich ein langer Korridor mit kahlen Wänden an. Ich mochte diese Schule nicht. Ich ging ohne großes Verlangen dorthin, denn ich zog es vor, mich zu Hause zu beschäftigen, aber um meine Noten war ich besorgt. In Arithmetik bekam ich in der Regel die Note «sehr zufriedenstellend», das war damals die höchste Bewertung. Aber es gab auch Vieren, die man damals als «nicht zufriedenstellend» bezeichnete. An einen derartigen Fall kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ein dünnes Schreibheft mit großen Kästchen. Mit roter Tinte durchgestrichene Beispiele (das war in der dritten Klasse) und in schwungvoller, aber akkurater Schrift, die Note «nicht zufriedenstellend». Das Heft verbrannte mir die Hände, und ich wusste nicht wohin damit. Zu Hause versteckte ich das unglückselige Heft ganz unten in einer der Kommoden-Schubladen. Jahre später geriet es mir erneut in die Hände, und ich habe es lange Zeit zur Erinnerung an meine Kindheit aufbewahrt. Was die Sprache betrifft, fühlte ich mich viel schwächer, besonders nachdem 1933 die Schule russisch wurde. In diesem Fach waren meine Noten «zufriedenstellend».

Ich hatte in jenen Jahren auch keine wirklichen Freunde und Kameraden. Während der Pausen im Korridor drückte ich mich an den Wänden herum und schaute mit einer gewissen Angst auf die rennenden, hüpfenden, schreienden und schubsenden Jungs. Wohl fühlte ich mich nur zu Hause, im Kreis der mir vertrauten Menschen.

In diesen Jahren wurde das Leben für uns von Monat zu Monat schwieriger. Die Rente (40 Rubel) und die Zahlungen der Mieter (60 Rubel) reichten gerade für den Kauf der Lebensmittel, die uns laut Karten zustanden. Aber es gab von diesen Produkten viel zu wenige. Manches musste man auf dem Markt kaufen. Und gerade dafür war nicht genug Geld vorhanden. Ich weiß noch, wie Mama geweint hat, als sie vom Basar ein kleines Fläschchen Pflanzenöl mitbrachte und merkte, dass sie betrogen worden war. Die Flasche war aus dunklem Glas, und Mama hatte nicht gesehen, dass sein wesentlicher Inhalt aus Wasser bestand und nur ein wenig Öl im Flaschenhals stand.

Um uns die Lage etwas zu erleichtern, arbeitete Lisa zeitweise als Haushaltshilfe in der Familie eines Parteileiters. Und Mama ging im Juni 1932 arbeiten – zuerst als Statistikerin, später als Rechnungsführerin. Sie erhielt 90 Rubel im Monat. Das Leben wurde ein wenig leichter. Aber schon im Januar 1933 wurde sie wegen Personalabbau, und wieder wurde die Situation kritisch.

Eine gewisse Erleichterung brachte der Sommer mit sich, als wir mit der ganzen Familie, einschließlich Lisa, Petja, Ernotschka, Holdi und Adjuscha auf die Datsche fuhren. Hier, wie es uns schien, so weit wie möglich von der verrückt gewordenen Welt abgeschirmt, versuchten wir, die Vergangenheit zu reanimieren. Es gelang uns nicht gut. Die Veränderungen innerhalb der Gesellschaft und auch in uns selbst waren zu bedeutsam. Auf den ersten Blick war alles an Ort und Stelle: der Garten, die Datsche, die Laube, der Brunnen, die Baumreihen, die Wege. Alles war wie immer – und doch war es anders. Die Bäume standen dort mit nicht geweißten Stämmen, zwischen den Stämmen wucherte das Gras, von den Bänken blätterte die Farbe ab, auf den einst so üppigen Blumenbeeten wuchsen Tomaten, und dort, wo bis vor kurzem die Bienen angesiedelt waren – Kartoffeln. Hinter der Küche grasten zwei Ziegen und ein am Bein festgebundenes Ferkel. Sein Quieken und Grunzen befand sich überhaupt nicht im Einklang mit dem blühenden Flieder und den wilden Kastanien.

Außerdem hatten wir Hunger, vor allem in der ersten Hälfte des Sommers, als Gemüse und Obst noch nicht herangereift waren. Aus Saratow brachte man nun anstelle des fülligen, schneeweißen Filippowsker Brotes sorgfältig nach der Kartennorm abgewogenes, schweres und feuchtes Schwarzbrot mit einer Beimischung aus Kleie. Wir kochten Suppe aus Brennnesseln und Sauerampfer. Wir buken Fladen mit Salz. Anstelle von Brot konnte man auch Mehl nehmen. Grobes Salz ersetzte das Öl. Es wurde in die Pfanne geschüttet und so stark erhitzt, dass es zu «schießen» anfing, und danach wurden die Fladen hineingelegt. Wenn der letzte braun geworden war, schüttelte man das Salz herunter. Wir mochten diese Fladen, besonders dann, wenn es süßen Tee dazu zu trinken gab. Doch das kam nicht sehr häufig vor.

Als Flieder und Boule-de-Neige-Rosen blühten, stellte Mama daraus Blumensträuße zusammen und nahm sie mit nach Saratow zum Verkauf. Es war schrecklich demütigend. Denn als Papa noch lebte, wurde aus dem Garten keine einzige Blume, kein einziger Apfel verkauft. Aber die Not schnürte einem die Kehle zu, und so ging Mama, nachdem sie die Blumen in einer großen schwarzen Tasche untergebracht hatte, in die Deutsche Straße, in den Bezirk Lipok. Besonders erfolgreich lief es mit der Boule-de-Neige-Rose - einer dekorativen Garten-Variante des Schneeballs, deren kleine Blüten zu kugelförmigen Blütenständen von grell-weißer Farbe verschmolzen, die wie ein Schneeball aussahen. Vor dem Hintergrund der dunkelgrünen Blätter sahen sie sehr effektvoll aus und lösten allgemeine Begeisterung aus. Aber damit Handel treiben... Ich kann mir gut vorstellen, in welcher Verfassung sich Mama befand. Zweimal nahm Mama mich mit, und ich sah, zu welchem Preis dieser Handel erfolgte. Einmal, als in der Ferne irgendwelche Bekannten auftauchten, versteckte sie in aller Eile die Blumen und brachte ein dermaßen gequältes Lächeln hervor, dass ich beinahe angefangen hätte zu weinen. Später, nachdenklich und als würde sie etwas Böses von sich abgeschüttelt haben, nahm sie mich bei der Hand und begann ihre Lieblingsgedichte zu zitieren. Und sie kannte viele, die sie auch auswendig wusste. Eines von ihnen, «Das Luftschiff», lernte ich bereits hier in der Deutschen Straße. «Wenn es mich einmal nicht mehr gibt, - sagte sie, - dann sage es auf und erinnere dich an mich».

Als das Gemüse und die Früchte herangereift waren, gestaltete sich unser Leben fröhlicher. Wir kochten Kartoffeln und aßen sie mit Gurken und Tomaten. Die Äpfel tauschten wir gegen Honig- und Wassermelonen ein, die auf einem benachbarten Melonenfeld wuchsen. Manchmal wurden Äpfel en gros auf dem Markt von Saratow verkauft. Dabei wurde die Sorte «Choroschawka» gern genommen, eine sehr schöne aussehende, aber nicht besonders wohlschmeckende Apfelsorte.

In dieser Zeit, wie auch in den vergangenen Jahren, kamen Verwandte und Bekannte zu uns auf die Datsche. Hier lernten wir Petjas Schwestern Tjokla und Lida kennen. Sie sprachen sehr schlecht Russisch, und es war lustig zu hören, wie sie die einfachsten Wörter entstellten. Ständig war bei uns irgendeine von Laljas Freundinnen zu Besuch. Ich liebte es um sie herumzuschleichen und war so eine Art Page für sie.

Zugleich brachte der letzte Herbst auch neue Sorgen mit sich. Nachts, und mitunter auch tagsüber, kamen aus den Nachbardörfern (Poliwanowka und Rasboischtschina) finster dreinblickende Männer mit Säcken und schüttelten, ohne sich großartig zu verstecken, die Äpfel von den Bäumen. Dann zogen sie, nachdem sie uns als Bürgerliche, die zu viel des Guten hatten, bezeichnet und versprochen hatten, unser «bürgerliches Nest» in Brand zu stecken, mit krummen Rücken und den Säcken voller Äpfel ab. Das Leben auf der Datsche begann gefährlich zu werden. Im Familienrat wurde beschlossen: den Garten und die Datsche zu verkaufen, bevor es zu spät war. Hier wurde eine noch radikalere Idee geboren: von Saratow nach Tambow umzuziehen, wo das Leben, wie Augenzeugen berichtet hatten, erheblich billiger war und wo man auf dem Markt zu einem vernünftigen Preis Milch, Sahne und Eier kaufen konnte.

Die bevorstehende Trennung vom Garten brachte eine starke Moll-Note in unser Leben. Was wir auch taten, womit wir es auch zu tun hatten, die ganze Zeit ging es uns im Kopf herum, dass es vielleicht das allerletzte Mal war, dass bald jemand anders auf diesen Wegen gehen, unsere Äpfel essen und die wunderschönen Blumen ausreißen würde.

Den Garten verkauften wir im Herbst 1933 zu einem lächerlich niedrigen Preis, und im Sommer 1934 reiste Mama mit mir und Lalja nach Tambow.

 

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