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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Kapitel 5. Tambow

Nach Tambow begaben wir uns Ende Mai 1934 in leichter Kleidung, wobei wir nur das Allernötigste mitgenommen hatten. Die ganzen Sperrgüter blieben in Saratow. Ernotschka und Petja sollten sie zusammen mit dem Haus verkaufen. Es war vorgesehen, von dem Geld hier in Tambow ein Häuschen oder den Teil eines kleinen Hauses sowie ein paar Möbel zu erwerben. Vorerst mussten wir allerdings in einer Wohnung leben und eine zum Kauf geeignete Behausung suchen.

Mama verließ Saratow mit schwerem Herzen. Hinter den roten Signalleuchten des letzten Waggons blieben ihr gesamtes vergangenes Leben, die Gräber der Familienangehörigen zurück. Sie wurde von schweren Gedanken gequält. In den etwas mehr als fünf Jahren, die seit dem Tod ihres Ehemannes vergangen waren, hatte sie alles verkaufen müssen, was von ihnen geschaffen und mit so viel Mühe angeschafft worden war: das Haus, die Datsche, der Garten. Alles, was ihr zur Gewohnheit geworden, was vertraut gewesen war, was als Symbol ihres glücklichen Lebens in der Vergangenheit gewesen war, hatte sie für praktisch nichts verkauft – es war zerronnen. Und nun, nachdem sie ihre letzte Zuflucht verlassen und alle Verbindungen mit den gewohnten Orten du Menschen abgebrochen hatte, fuhr sie ins Ungewisse, und es wäre einfacher gewesen, wäre sie allein gefahren. Sie fuhr mit den Kindern, um deren Schicksal sie sich große Sorgen machte.

Tambow – was wusste sie schon über diese Stadt, außer dass Lebensmittel dort erheblich billiger waren als in Saratow. Ernotschka, die zur Erkundung dorthin gereist war, charakterisierte sie als ausgesprochen widersprüchlich. Provinziell, kaufmännisch. Drei- bis viermal weniger an Einwohnern. Flach, staubig. Sie steht am Ufer eines kleinen, aber malerischen Flüsschens mit dem merkwürdigen Namen – Zna. Grün, fast an jedem Haus ein kleines Gärtchen. Schöner Häuser – sehr wenige. Zwei asphaltierte Straßen, eine höhere Lehreinrichtung, ein Theater, ein Museum. Dafür auf dem Markt zahlreiche erschwingliche Lebensmittel: Milch, Sahne und sogar Eier. Und die Menschen? Menschen wie überall, ganz unterschiedliche.

Hätten wir vielleicht doch bleiben sollen? – dachte sie, als ihr Blick auf die halb verfallenen Hütten eines vorüberziehenden Dorfes fiel. Aber wie sollte man dann leben? Das Letzte, was ihr geblieben war, war das mit Brettern beschlagene Haus gewesen, in dessen kleinem Durchgangszimmer sie die letzte Zeit mit ihren Kindern elendig gehaust hatte. Sie hatten es verkaufen müssen, bevor man es ihnen wegnahm. Verkaufen und davon leben, genauso, wie sie alles andere verkauft und es dann zum Leben verbraucht hatten. Leider wird das Geld, das sie in Saratow bekommen haben, für nicht mehr als ein Jahr, ein halbes, reichen. Und dann wird schnell das Elend über sie hereinbrechen. Mit sechzig Jahren, ohne einen vernünftigen Beruf, wird sie, eine Frau, und dazu noch eine Deutsche, in Saratow, wo es so viele fachmännische und gebildete Menschen gibt, keine Arbeit finden. Die ganze Hoffnung liegt auf Lalja. Sie ist bereits 17 Jahre alt, hat aber noch keinen konkreten Beruf im Auge. Und was soll aus Robotschka werden, der erst 13 ist? Nein, wir müssen fahren und wenigstens noch 8-10 Jahre durchhalten – dachte sie – und ihm zu einer Ausbildung verschaffen. Eine Ausbildung um jeden Preis.

Es gab noch einen weiteren Grund, weshalb Mama aus Saratow fortwollte. Sie hatte panische Angst vor einer Verhaftung. Die Verhaftung, deren Möglichkeit sie seit jener denkwürdigen Nacht, als erbarmungslose Hände die Bänder an ihren Taschen und Bündeln zerrissen hatten, nicht eine Minute aus ihrem Gedächtnis hatte verbannen können. Sie empfand keine konkrete Schuld bei sich und glaubt auch nicht an irgendeine Schuld ihres Mannes. Außer Gedanken! Gedanken, die sie nie laut auszusprechen wagte. Aber gerade für derartige Gedanken,


Stadt Tambow 1934
Ernotschka mit ihrem Ehemann – Petr Bartholomäjewitsch Gunger
Und den Kindern: Holdi (Reinhold) und Aljuscha (Adolf)

bei nur einem einzigen Verdachtsmoment, dass sie existieren könnten, würden sie nicht nur einen ihrer Bekannten und Verwandten arrestieren. Und nun, da sie Saratow verließ, hoffte sie in naiver Weise ihr Schicksal zu täuschen – das Schicksal in schwarzer Lederjacke und chromledernen Stiefeln.

Wieviel leichter wäre es, wenn Ernotschka hier wäre, - führte sie ihre Gedanken fort. Aber dort war Petja, mit tausend Fäden an die deutsche Republik, an Marienthal, gebunden. Er bemühte sich, auch Ernotschka an die dörfliche Lebensweise zu gewöhnen. Doch sie wusste, wie wenig geeignet ihre Tochter für ein Leben auf dem Lande geeignet war, wieviel Angst sie davor hatte. Sie wusste, wie sehr Ernotschka Saratow liebte, wie wichtig es für sie war, dass es irgendwo in der Nähe ein Opernhaus, ein Konservatorium, eine Universität gab; dass sie sich, wenn sie nach Hause gekommen war, ans Klavier setzen und Chopin, Schumann und Grieg spielen konnte. Mama machte sich auch Sorgen um die angespannte Beziehung zwischen ihr und Petja. Sie begriff, dass sie wegen ihrer Tochter mit seiner vorsätzlichen Grobheit und seiner Ablehnung der in unserer Familie üblichen Form von Umgang und Erziehung klarkommen musste. Sie anerkannte viele seiner Tugenden: er rauchte nicht, er trank nicht, er war fleißig, zweifellos nicht dumm und belesen. Aber all das vereinigte sich in ihm auf merkwürdige Weise mit seiner domostrojewsker Einstellung gegenüber seiner Frau und den Kindern. Bei Tisch musste er, der Hausherr, das erste und beste Stück Fleisch auf den Teller gelegt bekommen, nicht die Kinder, wie es bei uns üblich war. Innerhalb der Familie mussten seine Forderungen widerspruchslos erfüllt werden. Er geriet außer sich, als man anfing den Kindern zu erklären, warum sie es so machen sollten und nicht anders. Dazu dieser Wolga-Dialekt mit seiner grob-kehligen Aussprache, der, wie es ihr schien, ideal für einen derartigen domostrojewsker Umgang geeignet war. Dabei kannte er sich gut in den Werken Schillers und Goethes aus – er liebte, wie er selbst sagte, deren Sprache. Wie konnte er sich da dieses Barbarische «Was hotterst du gesat» erlauben. Die arme Ernotschka, die armen Kinder, wie schwer musste es für sie mit einem solchen Vater sein. Wenigstens Lalja hat mit ihrem Mann Glück gehabt – dachte sie.

Und Lalja, die neben ihr in dem stickigen Liege-Waggon saß, dachte daran, dass sie Wolodja Plotnikow wohl niemals wiedersehen würde, der bereits vor einem Jahr zu seiner kranken Mutter nach Wolsk gefahren war und in der Zeit lediglich drei Postkarten geschickt hatte. Sie dachte auch an ihre Freundinnen, die in Saratow geblieben waren, und daran, was sie in Tambow erwarten würde. Sie hatte begriffen, dass die Mutter allein nicht mit den aufkommenden Problemen zurechtkommen würde, dass sie nun selbst in die Situation der ältesten geraten war, auf der eine große Verantwortung ruhte.

Und ich versuchte, auf der oberen Pritsche liegend, beim Licht der untergehenden Sonne «Die Zeitmaschine» von Welles zu Ende zu lesen. Damals kam ich nicht auf den Gedanken, dass meine goldene, sorglose Kindheit, zusammen mit den vorüberziehenden Kilometer-Markierungen, in die Vergangenheit fortgetragen wurde - Erinnerungen, auf die ich später in schwierigen Augenblicken meines Lebens Bezug nehmen werde.

Und so gehen wir nun durch Tambow. Im Vergleich zu Saratow kam es auch uns wie ein großes Dorf vor. Besonders abends. Bereits gegen neun Uhr waren alle Fenster dunkel. Nur hier und da war durch die Ritzen der Fensterläden Lichtschein sichtbar. Nachdem wir uns in den unbeleuchteten Straßen verlaufen haben, finden wir schließlich das Haus, das wir suchen. Der Hausherr, ein Schneider, leicht buckelig und mit unverhältnismäßig langen Händen, musterte uns mit abschätzendem Blick und zeigte uns dann unser Zimmer. Klein, mit einem einzigen Fenster, das zum Nachbarhof zeigte. Ein Tisch, zwei Stühle und zwei Betten. Direkt unter der Decke, an einem kurzen Draht, eine von Fliegen bedeckte Glühbirne.

Am Morgen machten wir uns mit den anderen Bewohnern bekannt. In der Hälfte, die unserem Hauswirt gehörte, lebte außer uns, in einem ebenso kleinen Zimmer, noch eine weitere Familie. Mutter und Sohn. Er war mit mir im gleichen Alter. Er hieß Ljowa, Ljowa Petersson. Später freundeten wir uns an. In der zweiten Hälfte des Hauses, die zum Hof zeigte, wohnte ein Mädchen, etwa so alt wie Ljowa und ich oder ein Jahr älter. Es war kraushaarig, schwarzäugig und lächelte oder lachte ständig über irgendetwas. Ihr Name war Ira. Sie gefiel mir sehr gut, und es war mir lange peinlich, auf dem Weg zur draußen befindlichen Toilette an ihrem Fenster vorüberzugehen.

Leider erwies sich unser Hauswirt als Trinker und Wucherer. Nachdem er die Wohnungsmiete für drei Monate im Voraus erhalten hatte, fing er bereits nach einem Monat an, Amok zu laufen und uns aus dem Haus zu jagen, wobei er damit drohte, die Tür mit der Axt einzuschlagen. Wir und die Peterssons banden, nachdem wir in so eine Lage geraten waren, nachts die Türklinken an den Betten fest. Es ging so weit, dass wir zum Verlassen des Zimmers mehrfach aus dem Fenster klettern mussten. Die Zwillingsbrüder Zaretzkij, die gerade in jenem Hof wohnten, zu dem unser Fenster zeigte, halfen uns. Sie waren 16 Jahre alt, trieben Sport und hielten den ganzen Bezirk in Angst und Schrecken. Lalja gefiel ihnen auf den ersten Blick. Sie begannen miteinander zu flirten, was darin zum Ausdruck kam, dass sie bei uns unter dem Fenster herumstanden, Hand in Hand gingen, am Reck die «ñîëíöå» drehten. Nachdem sie erfahren hatten, dass der «Buckelige», so nannten sie unseren Vermieter, uns traktierte, ergriffen sie die «notwendigen Maßnahmen», woraufhin sich die Einstellung des Hauswirts uns gegenüber merklich verbesserte. Aber Laljas Situation wurde komplizierter. Mama machte sich nicht zum Spaß Sorgen. Es begann die Suche nach einer neuen Unterkunft.

Bald darauf zogen wir in die Wohnung irgendwelcher Polen um. Für den Umzug war nicht viel Zeit nötig. Von der August-Bebel-Straße, in der wir bei dem «Buckeligen» gewohnt hatten, bis zur neuen Wohnung in der Karl-Marx-Straße waren es keine zehn Minuten Fußweg. Die neuen Vermieter sahen sehr anständig aus, aber das uns zugeteilte Zimmer gefiel mir überhaupt nicht. Es war dunkel. Sein einziges Fenster war von Flieder zugewuchert, der zum Zeitpunkt unseres Einzugs bereits verblüht war. Der Raum war mit dunkelroten Tapeten tapeziert. Fast in der Mitte stand ein großer Kleiderschrank der Wirtsleute, der, ebenso wie die Tapeten, von dunkelroter Farbe war. Nach Mamas Idee sollte er die Ecke, in der Lalja untergebracht werden sollte, abteilen. Drei Betten, ein Schrank, und ein kleiner Tisch, auf dem wir kochten und an dem wir aßen, nahmen den gesamten Raum ein. Für Stühle blieb kein Platz mehr. Es gab lediglich einen Schemel.

In der ersten Nacht waren wir einem Überfall der Wanzen ausgesetzt, denen wir vorher noch nie begegnet waren. Am nächsten Tag stellten wir die Bett-Füße auf Anraten der Wirtsleute in Konservendosen, die mit Kerosin gefüllt waren, aber die Wanzen krochen an die Zimmerdecke und ließen sich von oben auf unsere Betten fallen. Es begann ein aufreibender, viele Tage dauernder Kampf, wobei sämtliche zugängliche Mittel zum Einsatz kamen.

Ich erinnere mich auch noch an das Eisengittertor, den kleinen Hof, darin eine alte Ulme, auf der ich, zu Mamas Missfallen, gern herumklettern und durch ein selbstgebasteltes «Teleskop» den Mond und die Sterne beobachten mochte. Hinter dem Haus gab es einen Garten mit einem Dutzend Obstbäume, den ein Schäferhund an der Kette bewachte. Die Kette glitt über einen langen Draht, der sich von einer Ecke des Gartens zur anderen erstreckte. Der Hunde lebte in einer blechbeschlagenen Hütte, die in eben jener dunkelroten Farbe gestrichen war. Ich konnte den Hund nicht ausstehen und ärgerte ihn, indem ich seine Hütte mit Steinen bewarf.

Und das Leben ging weiter. Lalja meldete sich zu Lehrgängen für Rechnungsführer an, nach deren Beendigung sie eine Arbeit als Kassiererin in der Überweisungsabteilung des Tambowsker Postkontors aufnahm. Mama erteilte Nachhilfeunterricht, und ich besuchte die 8. Klasse der Schule N° 8. Sie befand sich in der Lermontow-Straße, fast direkt an der Zna – dorthin liefen wir während der Pausen.

Mit dieser Periode unseres Lebens in Tambow ist ein Ereignis verknüpft, das in meiner Erinnerung ein Gefühl von Verlegenheit und Scham hinterließ. Ich hatte hohes Fieber und lag im Bett. Neben dem Bett stand der Hocker, darauf befanden sich Bücher. Mama bereitete irgendetwas auf dem Kocher zu. Im Zimmer war es dunkel und dunstig, und in dem Moment klopfte es an der Tür. Mama öffnete. In der Tür stand Ira, unsere Nachbarin mit den schwarzen Augen aus dem Hof des «Buckligen». Vor lauter Scham über unsere Behausung, unsere elende Lage, unsere Armut zog ich mir die Decke bis über den Kopf. Mamas Überredungsversuche brachten keine Abhilfe. Nachdem Ira fortgegangen war, erklärte Mama mir lange, dass es eine Sünde wäre, sich vor Armut zu schämen. Man muss sein Kreuz mit Würde und Tapferkeit tragen. Diesem ihrem Gebot versuchte ich so gut es ging Folge zu leisten. Doch es gelang mir nicht immer.

Und dann endlich war unser Haus in Saratow verkauft. Ein beträchtlicher Teil der erhaltenen Geldmittel wurden durch Steuerzahlungen aufgebraucht, ein bestimmter Betrag viel Ernotschka zuteil. Für das restliche Geld kaufte Mama einen Teil eines Hauses in der Karl-Marx- Straße 73. Dort gab es insgesamt zwei Zimmer, eins mit 18, das andere mit 20 Quadratmetern Größe, sowie eine kleine Abstellkammer. Eine Küche war nicht vorhanden. Eines der Räume zeigte mit seinen beiden Fenstern zur Straße, das andere – in den Hof, genauer gesagt, in den engen Durchgang zwischen Haus und Zaun. Zu diesem Durchgang führte auch die Eingangstür unserer Wohnung, und von dort – eine kleine Pforte zur Straße hinaus. Hinter dem Haus befand sich ein Gemeinschaftshof und dahinter ein von einem Holzschuppen abgeteiltes Gärtchen. In dem uns gehörenden Teil standen drei Apfelbäume, zwei Kirschbäume und ein Johannisbeerstrauch.

Von der Lermontow-Straße waren wir nun durch zwei Häuser getrennt, so dass die Schule ganz in der Nähe lag, nicht mehr als 15 Minuten zu Fuß. An der Kreuzung mit der Karl-Marx-Straße wurde die Lermontow-Straße breiter, bildete einen kleinen Platz, der mit dürren Bäumen bepflanzt war. Man sprach darüber, dass hier ein Denkmal für M.J. Lermontow errichtet werden sollte. Auf der anderen Seite der Karl-Marx-Straße stand ein gedrungen wirkendes, eingeschossiges Gebäude, ohne Fenster, mit eisernen, an Tore erinnernden, Türen, welches die Ortsansässigen aus irgendeinem Grund «das Arsenal» nannten. Das «Arsenal» bildete einen Einschnitt die Lermontow-Straße, so dass diese sich gabelte.

Auf der anderen Seite des Platzes – ein Lebensmittelgeschäft. Dort gab es Brot, Nudeln, Graupen. Vor allem aber Hirse und Perlgraupen, manchmal Reis und Grieß. An Fetten – Pfanzenöl. An Süßigkeiten: Quarktaschen, Lollys, Halwa, Pfefferkuchen. Mitunter Marmelade und Pastilas. Eingewickelte Bonbons gab es nur sehr selten. An Getränken, neben Wodka und Wein, Zitro und Creme-Soda. Auf der Straße ein Fass mit Kwas. Im Vergleich mit den Geschäften in Saratow schien hier alles reichlich vorhanden zu sein. Alle anderen Lebensmittel: Fleisch, Eier, Milch, Sahne, Quark, Butter, Gemüse und Obst konnte man nur auf dem Markt kaufen. Und obgleich sie erheblich billiger waren als in Saratow, waren sie doch für uns kaum erschwinglich. In der Hauptstraße (der Lenin-Straße) und im Stadtpark gab es Sahne-Eis aus «Eismaschinen». Zwei Waffelscheiben, dazwischen, abhängig vom Preis, zwanzig, dreißig oder vierzig Gramm Sahne-Eismasse. An heißen Sommertagen drängten sich die Kinder um den Eiskarren, um zu beobachten, wie die Tante im weißen Kittel ihr Werkzeug schwang: eine Blechform in der Art eines kurzen Zylinders mit Kolben. Auf den Boden des Zylinders wird eine Waffelscheibe gelegt, dann zwei, drei geschickte Bewegungen mit dem Löffel, und der Zylinder ist gefüllt mit der schneeweißem, vor Kälte dampfenden Masse. Obendrauf – die zweite Waffelscheibe. Und schließlich drückt die Verkäuferin auf den Kolben und hebt das fertige Eis aus dem Zylinder. An heißen Tagen stehen die Menschen Schlange. Einige kaufen sich gemeinsam ein Eis, lecken immer der Reihe nach daran und passen auf, dass der Kamerad nicht etwa ein Stückchen abbeißt.

Als ich bereits in der achten Klasse lernte, entstand im städtischen Park ein Pavillon, in dem Sprudel verkauft wurde. Zwei lange, unterteilte Glaszylinder, die an einem vertikalen Pfosten montiert sind. Darin zwei Arten Sirup: Apfel- und Birnen-Sirup. Die Verkäuferin dreht ein Ventil und der Sirup fließt in einem dünnen Strahl ins Glas. Die mit Apotheker-Genauigkeit abgemessene Dosis wird mit einem prallen Strahl zischendem, kaltem Sprudelwasser verdünnt. Es gab wohl nichts Angenehmeres, was man sich an heißen Sommertagen denken konnte.

Die wohlhabenden Bürger bestellen die zwei- oder dreifache Menge Sirup. Wichtigtuer bevorzugen das reine Wasser ohne Sirup, sie sind der Ansicht, dass es den Durst besser löscht. Wir trinken auch meistens das klare, sprudelnde, kalte Wasser, allerdings aus einem ganz anderen Grund.

Abends amüsieren sich im Park Gruppen junger Leute mit kräftigem Bizeps und Stiernacken: sie bestellen Sprudelwasser für die ganze Gesellschaft und, nachdem sie ein wenig zur Seite getreten sind, trinken sie lachend und ohne Eile das zischende Getränk. Es gibt keine leeren Gläser mehr. Die Menge wartet geduldig. Dann bestellt die Gruppe eine zweite, anschließend eine dritte Portion. Die Menschen in der Schlange sind empört, es wird laut. Aber die sportlichen jungen Leute lachen schallend und haben ihren Spaß.

Wir führten in jenen Jahren ein schweres Leben, Mama schaffte es eben gerade uns durchzubringen. Sie und ich erhielten eine Rente. Laljas Gehalt war gering. Das Geld reichte nur zum Erwerb der Allernötigsten Lebensmittel, besonders, nachdem 1935 die Marken abgeschafft worden waren. Kleidung nähte Mama aus alten Sachen. Schwieriger war es mit Schuhwerk. Vor allem mit meinem. Ich musste in Galoschen gehen, die ich mit Schnürsenkeln durch Löcher an der Rückseite festband.

Aber ich muss dazusagen, dass ich mich selbst in derartiger Kleidung nicht sonderlich von den anderen Schülern unterschied. Und auch in der Ernährung gab es keine großen Unterschiede. Selten brachte jemand zum Frühstück ein Butterbrot mit Wurst oder Käse mit in die Schule. Der am meiste begüterte Schüler in unserer Klasse war wohl Petrow, dessen Vater eine Bäckerei leitete. Da er mit meiner Hilfe bei der Erledigung der Hausaufgaben in Mathematik rechnete, lud er mich gelegentlich zu sich nach Hause ein. Dort bewirtete seine Mutter uns mit schneeweißen, heißen Brötchen und kalter Milch. Mir kam das wie eine Mahlzeit für die Götter vor. Ich war nur verwirrt wegen der vielen Wanzen, die aus der hinter der Wand liegenden Bäckerei in ihre Wohnung krochen.

Im Juni 1935 ereignete sich ein Unheil. Bei Lalja auf der Arbeit war ein Fehlbestand entstanden, der ihr Jahresgehalt um ein Vielfaches überschritt. Da die Kasse täglich abgegeben wurde, konnte dieses Manko nur in Folge einer Fehlberechnung zustande gekommen sein: entweder bei Zahlung einer Überweisung oder bei Schichtwechsel. Ich erinnere mich, wie Mama und ich die Wohnungen der Klienten aufsuchten, die an jenem unheilbringenden Tag Überweisungen erhalten hatten. Doch natürlich erreichten wir, außer Demütigungen, nichts. Die Situation wurde erneut kritisch. Es drohte die Konfiszierung unseres Besitzes, infolgedessen wir uns auf der Straße wiedergefunden hätten. Ungefähr in der gleichen Zeit wurde in Krasnij Kut, wo Petja und Ernotschka wohnten und arbeiteten, Petja verhaftet. Nach einem sechsmonatigen Ermittlungsverfahren und seiner Verurteilung nach § 58, Punkt 10 è 11, schickten sie ihn für drei Jahre in den hohen Norden in die Uchto-Petschorsker Lager. Ernotschka wurde als Ehefrau eines Verfolgten von der Arbeit entlassen. Im Herbst kam sie mit Lisa, Holdi und Adjuscha zu uns nach Tambow. Nun waren wir sieben Personen. Und keiner von uns arbeitete. Lalja war entlassen worden, aber ihre Papiere bekam sie erst, wenn die Schulden getilgt waren. Ernotschka stand auf den Schwellen der Stadt- und Bezirksverwaltungen für Volksbildung sowie der Schulen, reiste zweimal nach Moskau – aber ohne Ergebnis. Lehrer für Deutsch und Musik wurden benötigt, aber sobald sich herausgestellt hatte, dass sie die Frau eines Verfolgten war, verweigerte man ihr einen Arbeitsplatz. Erfolglos blieben auch Mamas Versuche, eine Arbeit zu finden. Aus der Patsche half uns, wie schon früher, Onkel Robert, der aus Deutschland so viel Geld schickte, wie für die Abzahlung von Laljas Schulden notwendig war.

Erst um März 1936 fand Lalja endlich Arbeit als Buchhalterin beim Eisenbahner-Krankenhaus. Auch bei Ernotschka keimte Hoffnung auf. Auf ihren endlosen Wanderungen durch die Korridore der Behörden hatte sie einen gewissen Tkatschenko kennengelernt – seines Zeichens Inspektor des Kommissariats und pensionierter Diplomat, der ihr dabei behilflich war, einen Posten als Lehrerin der deutschen Sprache in der Eisenbahner-Schule N° 51 in Tambow zu beziehen. Schließlich, im Dezember 1937 fand auch Mama, trotz ihrer 63 Jahre, Arbeit im Sanitärbereich der Eisenbahn und anschließend, bis September 1938 – als Rechnungsführerin bei der Bezirksverwaltung für Volksbildung.

Es schien, als hätte sich alles zum Besseren gewendet, doch 1938 wurde zuerst Lalja, dann auch Ernotschka, wegen Onkel Robert zum Untersuchungsrichter des NKWD bestellt. Sie wollten herausfinden, wann und warum er Russland verlassen hatte, und weshalb er 1929 hergekommen wäre und mit welcher Absicht er Geld geschickt hätte. Schließlich kam auch die Frage nach Ernotschkas Reise nach Deutschland auf den Tisch. Der Tatsache, dass dies vor dem 1. Weltkrieg geschehen und sie damals gerade erst 8 Jahre alt gewesen war, wurde keinerlei Aufmerksamkeit beigemessen. Die Einbestellungen wiederholten sich. Der Fragenkomplex wurde ausgeweitet, die Antworten in den Protokollen dagegengehalten. Täglich erwarteten sie, dass man auch Mama vorladen würde.

Es war beängstigend, dass diese Vorladungen und Verhöre unter Bedingungen stark zunehmender politischer Repressalien stattfanden. Welle um Welle hochkarätiger Prozesse schwappte über das Land: 1936 der Prozess in Sachen des «trotzkistisch-sinowjewschen terroristischen Zentrums», wonach 16 Personen zum Tod durch Erschießen verurteilt wurden, unter ihnen Sinowjew und Kamenew. 1937 – der Prozess in Sachen des «parallel- trotzkistischen Zentrums» (Zweiter Moskauer Prozess), in dem G. Pjatakow, L. Serbrjakow und andere zur Erschießung verurteilt wurden. 1938 – der Prozess in Sachen des «antisowjetisch-trotzkistischen Blocks» (Dritter Moskauer Prozess), in dem weitere 29 Personen verurteilt wurden, unter ihnen N. Bucharin und A. Rykow. An allen Straßenkreuzungen wurde darüber mittels langer Lautsprecher, in der Art von Gramofon-Röhren, ausposaunt, die Zeitungen waren voll davon, sie wurden in den Vorprogrammen vor beinahe jedem Film gezeigt, man studierte sie eingehend in Bildungseinrichtungen, Fabrikhallen und Feldlagern. Die Suche nach Feinden wurde verschärft. Der Stempel «Volksfeind» wurde den eigenen Leuten und den «anderen», Bekannten und Verwandten, Bauern, die nicht lesen und schreiben konnten und Akademikern aufgedrückt. Jede Republik, jedes Gebiet, jede Fabrik und Kolchose waren bemüht, die Leitung mit neuen Errungenschaften zu erfreuen. Die Gesellschaft, die die Politik der Partei im Kampf gegen die «Volksfeinde» guthieß, baute noch mit großem Enthusiasmus neue Städte und Straßen, die erste Metro im Land und unterirdische Züge. Das Land wurde durch eine unsichtbare und bewegliche Grenze in zwei Lager geteilt: «wir» und «die Feinde». Mit Hilfe der Repressionen wurde eine riesige Armee von Lagerarbeitern geschaffen, die es erlaubte, den Lebensunterhalt für diejenigen zu sichern, die sich einstweilen noch auf dieser Seite des Stacheldrahts befanden, auf Kosten des Lebens derer, die bereits auf die andere gelangt waren. Das Land, das Kurs auf den warenlosen Sozialismus genommen hatte, war zu einem Rückfall in die vorkapitalistische Form der Ausbeutung verdammt. Das System schuf das Fundament für eine «glänzende Zukunft», die sich nicht nur auf Enthusiasmus stützt, sondern sich auch legaler halbfeudaler und sogar sklavischer Ausbeutungsformen bedient.

Freilich verfügte damals keines unserer Familienmitglieder auch nur über einen winzigen Teil jener Informationen, die heutzutage jedem Schüler zugänglich sind. Doch manche Gerüchte erreichten uns trotzdem. Ich erinnere mich, dass es mir trotz der unbarmherzigen Funkstörungen der Störsender gelang, einige Sätze aus einem offenen Brief von Fjodor Raskolnikow mitzubekommen, der von irgendeinem englischen Radiosender, wahrscheinlich BBC, übertragen wurde. Flüsternd berichteten sie von W.I. Lenins Vermächtnis und die angeblich wahren Gründe für S.M. Kirows Tod, über die Gräueltaten der Armee Tuchatschewskijs, der in der Region Tambow die aufständischen Trupps Antonows vernichtet hatte, und vieles mehr. Doch die Zwietracht in den oberen Machtebenen beunruhigten Mama nur wenig. Als viel schmerzhafter empfand sie die Verhaftungen von nahestehenden und vertrauten Menschen, an deren persönlichem Anstand und loyaler Haltung gegenüber dem Staat sie keinerlei Zweifel hegte. Erstaunen lösten die politischen Prozesse aus, in denen lese- und schreibunkundige Kolchosbauern angeklagt wurden: Wärter, Pferdepfleger, Melkerinnen.

Die allgemeine Atmosphäre der Angespanntheit, und für manche – der Angst, wurde durch alle möglichen Bagatellen verstärkt, beispielsweise die Kampagne der Konfiszierung von Schreibheften, auf deren Umschlägen Wereschtschagins Ritter abgebildet waren. Einige der besonders wachsamen Genossen hatten es fertiggebracht, aus der Ligatur der Zeichnung irgendeine antisowjetische Losung herauszulesen. Und da begannen die kreidebleichen und verängstigten Lehrer, geleitet von der geltenden Richtlinie, mit gespensterhaftem Blick die Umschläge von unseren Heften abzureißen. Interessiert an dieser Aktion, führten wir selbst Untersuchungen durch, und schon bald schafften es die gescheitesten von uns sogar einige Wörter zu verbergen, deren kriminellem Charakter schon keine politische Färbung mehr innewohnte, sondern eine rein moralische Schattierung. Wahrhaftig findet jeder das, was er sucht.

Freilich warteten wir unter diesen Bedingungen mit ängstlich darauf, wie die Ermittlungen ausgehen würden, die von den NKWD-Organen im Hinblick auf Onkel Robert durchgeführt wurden. Wie bereiteten uns auf das Schlimmste vor. Wir beschlossen die Wohnung auf Lisa zu überschreiben, das einzige Familienmitglied, dessen soziale Herkunft bei den Behörden keine besonderen Beanstandungen hervorrufen würde. In ihrer Obhut sollte, im Falle einer Verhaftung Mamas, Ernotschkas und Laljas, außer mir, Holdi und Anjuscha bleiben. Doch die Einbestellungen hörten völlig unerwartet auf. Sie wurden ohne irgendwelche Erklärungen eingestellt. Wir waren ratlos, uns quälten schlimme Vorahnungen. Doch Woche um Woche verging, und allmählich ließ die Furcht nach. Sie ließ nach, aber die Narbe blieb.

Im Herbst 1938 fuhr Ernotschka mit den Kindern in die Siedlung Tschakino, um am landwirtschaftlichen Technikum Deutsch zu unterrichten. Lalja ging als Buchhalterin zur landwirtschaftlichen Bezirksverwaltung und begann gleichzeitig mit zehnmonatigen Kursen zur Erlernung der deutschen Sprache. Mama wurde aufgrund von Personalabbau entlassen. Doch jetzt konnte auch ich bereits meinen Beitrag zum Familienbudget leisten. Im Nachbarhaus wohnt ein Fünftklässler, der mit Mathematik nicht zurechtkam. Auf Bitten seiner Eltern erledigte ich mit ihm die Hausaufgaben, wofür sie einen gewissen Betrag an mich zahlten. Eine andere Einnahmequelle bei mir war das Reparieren elektrischer Haushaltsgeräte (Herde, Wasserkocher, Bügeleisen) und Rundfunkempfänger, selbstverständlich nur bei Bekannten und das auch nicht immer gegen Bezahlung. Ich erinnere mich, dass ich einen leistungsstarken Wasserkocher für einen mir bekannten Schuster in Ordnung brachte, wofür er mir eine Art tiefer Laufschuhe nähte, so dass ich endlich die lästigen Galoschen ausziehen konnte.

Die Schule, an der ich den Unterricht besuchte, war nach heutigen Maßstäben nicht groß. Ein zweigeschossiger Steinbau und sehr gemütlich. An der Schule ein Garten, von der Straße abgegrenzt durch eine hohe Backsteinmauer. Ich habe ihn aus irgendeinem Grund herbstlich in Erinnerung. Wunderbarer Sonnenschein. Feuchte Erde. Gelbe und rote Ahornblätter. Wir schaufeln sie auf einen Haufen und versuchen sie anzuzünden, und sie qualmen. Der Rauch brennt in den Augen. In der Schule ist es warm und gemütlich. An den Fenstern Blumen. Über der Tafel das für jene Zeiten unabänderliche Portrait des «Führers und Lehrmeisters». Die Lehrer! Gut erinnern kann ich mich noch an die Klassenleiterin, eine gutherzige Deutschlehrerin namens Klykowa; die kleine, energische und sehr strenge Mathematik-Lehrerin Anninskaja, die wir alle mochten und die wir «Tausendfüßler» nannten, weil sie immer so schnell ging und ihre hohen Absätze einen hölzernen Klang verursachten. Ich erinnere mich an unseren Geschichts- und Geografielehrer, Teilnehmer am ersten Weltkrieg. Hinter seinem strengen Schnauzbart verbarg sich stets ein freundliches Lächeln. Von besonderem Respekt ihm gegenüber war ich er füllt als er, über den Krieg im Jahre 1914 berichtete, sagte, dass von allen Soldaten, die auf Seiten der dreifachen Allianz gekämpft hätten, nur die Deutschen den russischen Bajonettattacken Stand gehalten hätten. So etwas damals zu sagen, war nicht ungefährlich.

Die konkreteste frühe Periode meines Schullebens, die in meinem Gedächtnis verwahrt ist, hängt mit Karbid zusammen. Es war in der fünften oder sechsten Klasse. Die Jungs hatten irgendwo Karbid aufgetrieben und es in ein Tintenfass gegossen. Mein Tintenfass blieb als erstes auf der Strecke. Damit niemand in der Klasse meine mit Tinte bespritzte Gestalt sah und anfing zu lachen (wie bekannt, ist dies das schlimmste Los, das einen Jungen ereilen kann), versteckte ich mich unter der Schulbank und kroch dann Richtung Ausgang, in der Hoffnung, vor dem Eintreten des Lehrers hindurchgeschlüpft zu sein. Es misslang! Die Begegnung fand in der Tür statt. Ich musste mich unter dem amüsierten Gelächter der Klasse auf die Füße stellen.

Viele Probleme hatte ich beim Sport. Die Erziehung durch die Frauen zeigte wohl ihre Auswirkungen. Körperlich schlecht entwickelt, erfüllt ich zwar die für mein Alter vorgegebenen Normen, stand aber bei vielen Sportarten hinter meinen Klassenkameraden zurück, was sie zu ständigem Spott verleitete. Besonders hilflos war ich in den Sportarten, bei denen die Muskelkraft der Arme gefordert war. Mit Mühe zog ich mein Kinn bis zur Querlatte und warf meinen Kopf verzweifelt, bis der Hinterkopf schmerzte, zurück; mit Mühe stemmte ich mich vom Boden ab, um die erforderliche Anzahl Liegestütze zu schaffen, und an den Ringen hing ich wie ein Sack. Dafür stand ich beim Laufen und Springen, aufgrund meiner langen und ausreichend kräftigen Beine, den meisten anderen Jungs meiner Klasse in nichts nach. Eine Zeit lang spielte ich sogar in der Schul-Fußballmannschaft. Sie stellten mich als Verteidiger auf. Und wenn ich mich herabbeugte und mit großen Sprüngen den Ball hinüber schoss, liefen alle auseinander. Freilich sah das sehr komisch aus. Jedenfalls pfiffen und johlten die Fans, die sich am Rande des Spielfelds drängten und mich beobachteten. Doch das Ganze währte nicht lange. In der achten Klasse fing ich an, mich sehr gekränkt gegenüber den taktlosen und manchmal nur recht unhöflichen Bemerkungen des Sportlehrers und dem Gelächter meiner Kameraden zu fühlen. Nach einer seiner erneuten Zwischenbemerkungen bezüglich meiner langen und tölpelhaften Beine verließ ich die Unterrichtsstunde und nahm von dem Tag an nicht mehr am Sportunterricht teil. In jenen Jahren, als das ganze Land sich auf Arbeit und Verteidigung vorbereitete, sah das wie eine Kampfansage, wenn nicht gegen die gesamte sowjetische Gesellschaft. So doch zumindest gegen das ganze Schulkollektiv aus. Ich bestand darauf, der Skandal weitete sich aus. Gerettet wurde ich durch den Leiter des Schul-Schachclubs, zu dem ich (entsprechend meiner Altersgruppe) gehörte. Außerdem zwangen sie mich, an allen Schwimmwettkämpfen teilzunehmen, bei den ich für meine Altersgruppe gute Resultate erzielte. Das Schwimmen hatte mir schon der Vater beigebracht, als ich sechs Jahre alt war. Seitdem hasste ich unseren Sportlehrer und zugleich auch alle Sportler und den Sport überhaupt.

Später, in der 9. Und 10. Klasse, übertrug ich meine Einstellung zum Sport auch auf den militärischen Vorbereitungsunterricht und auf alle, die mit Stiefeln und einer militärischen Uniform bekleidet waren. Am allerwenigsten mochte ich die Mitarbeiter des NKWD, welche Schirmmützen mit roten Bändern und dunkelblauem Aufsatz trugen. In jenen Zeiten hieß es, dass diese Farben das Blut und die Tränen des Volkes symbolisieren. Dieses mein Unbehagen gegenüber dem Sport, der bloßen Körperkraft, des militärischen Drills, habe ich durch mein ganzes Leben getragen.

Der Freund, der mir in jenen Jahren am nächsten stand, war mein Klassenkamerad und Namensvetter Robert Stoks. Er war in Wladiwostok geboren. Seine Mutter war bei der Geburt gestorben, und sein Vater, ein englischer Seemann, in die Heimat zurückgegangen. In Tambow lebte Stoks bei seiner Tante Jewgenija Aleksandrowna in einem kleinen Zimmer in der Lermontow-Straße, nicht weit von uns entfernt. Er war sehr mager und kränklich. Sommers wie winters trug er einen feuerroten Pullover, dessen Kragen seinen Hals eng umschloss. Unsere Lieblingsbeschäftigung war das Krieg-Spielen, für das wir unterschiedliche Waffen aus Papier klebten, aus Holz schnitzten oder aus Eisen zurechtbogen: Geschosse, Waffen, Panzer, Flugzeuge und sogar Soldaten. Wir erarbeiteten auch strenge Regeln für das Kommando und die Kontrolle der Truppen. Manchmal spielten wir Schach. Nie gab es zwischen uns irgendwelche Rivalitäten: weder beim Spielen noch beim Lernen. Aber vielleicht kam mir das auch nur so vor, denn sowohl beim Lernen als auch beim Spielen lag ich immer mit deutlichem Vorsprung vorn. Und trotzdem gerieten wir Jungs einmal in Streit. Es war ein Streit, der bis zur Prügelei führte. Weder ich noch er hegten irgendwelche Absichten einander zu verhauen, und doch erforderte unsere Jungenehre es. Nach dem Unterricht gingen wir in Begleitung anderer Jungs aus der Klasse zum Ufer der Zna. Es war kühl und ungemütlich. Vom Fluss wehte ein feuchter Wind herüber. Unter den Füßen knirschten Sand und Kies. Auf den Steinen und hier und da verstreuten Brettern und Kisten -Aktentaschen, Taschen und Jacken. Ein dichter Halbkreis von Jungs. Alle warteten. Die Lage war ausweglos. Der Anfang musste gemacht werden. Stoks, der anscheinend die seemännischen Gewohnheiten seines Vaters geerbt hatte, stürzte sich als erstes auf mich. ìåíÿ. Ich schloss die Augen und begann wahllos mit meinen Fäusten in die Luft zu schlagen. Und was geschehen musste, geschah: mit dem ersten Schlag traf ich meinen Freund auf die Nase. Blut spritzte. Und im selben Moment war alles zu Ende. Er stand da, wie immer blass, mit herabhängenden Armen, und das Blut tropfte ihm vom Kinn auf den Pullover. Die Jungs begriffen, dass ein Kampf nicht zustande kommen würde; sie nahmen enttäuscht ihre Taschen, Jacken und Mützen und zerstreuten sich einer nach dem anderen. Und wir standen da und schämten uns einander in die Augen zu sehen. Nachdem wir abgewartet hatten, bis alle fortgegangen waren, wuschen wir den Pullover und gingen zu uns nach Hause, um ihn zu trocknen.

Ich erinnere mich an noch einen Fall. Mama und Jewgenija Aleksandrowna waren in die Schule zur Elternversammlung gegangen. Nachdem Robert und ich diskutiert hatten, wie wir auf die Beschwerden der Lehrer reagieren sollten, legten wir uns auf das Sofa und schliefen ein. Als sie aus der Schule zurückkam, klopfte Mama. Erst leise, dann immer lauter. Doch im Haus war es vollkommen still. Die von innen mit Fensterläden verschlossenen Fenster waren dunkel. Nun wurde das Klopfen schon mit vier Händen wiederholt. Aber Robert und ich hörten nichts und setzten unseren süßen Schlaf fort. Schon bald hatte sich an Fenstern und Türen eine Menschenmenge versammelt. Von verschiedenen Seiten kamen Ratschläge und Vorschläge. Jemand, der den inneren Verschluss des Fensterladens ausgehakt und die Luft eingesogen hatte, verkündete sachverständig: «Gas! Da lebt keiner mehr!». Ein anderer versuchte die Eingangstür einzuschlagen. Und in diesem Augenblick erwachte ich, machte das Licht an, um auf die Uhr zu schauen, und erst da bemerkte ich den Fensterladen, der nur noch in einer Angel hing, auf dem Fußboden Glasscherben und vor dem Fenster eine Menge bleicher, neugieriger Gesichter.

Meine Freundschaft mit Stoks dauerte bis zum Ende der Schule. Dann trennten sich unsere Wege. Er machte eine Ausbildung zum Zahntechniker und wurde ein guter Spezialist. Während des Krieges wurde er in die Armee einberufen, wo sich seine Spuren für mich verloren.

Schwieriger gestalteten sich die Beziehungen zu Lew Petersson. Nachdem wir uns bereits beim «Buckligen» kennengelernt hatten, waren unsere Familien weiterhin miteinander befreundet. Seine Mutter kam oft zu uns. Ich verbrachte mit Lew und seinen Freunden die langen Sommertage an der Zna. Unsere Mütter waren sehr besorgt und beunruhigt, doch unser Drang zum Wasser erwies sich als stärker.

Mit der Zna verbinden mich zahlreiche Erinnerungen. Ich kann mich beispielsweise noch gut an unsere Invasion auf dem Frauen-Strand erinnern. An dem Tag verspäteten wir uns. Lews Freunde erwarteten uns schon längst am anderen Ufer der Zna, und wir traten kräftig in die Pedale unserer Fahrräder. Der Weg zur Brücke führte bergab, und wir hofften die Brücke zu überqueren, bevor die Herde Kühe, angeführt von den Hirten, von der Wiesenseite her sie betrat. Als Lew merkte, dass wir es nicht rechtzeitig schaffen würden, bremste er plötzlich scharf ab. Meine Bremse funktionierte nicht, und nachdem ich in der Kurve zur Brücke weggerutscht war, sauste ich über einen steil abfallenden Pfad geradewegs in das Dickicht des Frauen-Strandes hinein. Der Tumult, der nun entstand, war ebenso groß, als wenn ein Fuchs in den Hühnerstall eingedrungen war. Ich stieß das Fahrrad von mir, bedeckte demonstrativ mit den Händen meine Augen und kletterte mühsam den Hang zur Straße hinauf, wo Lew bereits auf mich wartete. Zum Glück war es bereits Abend und wir mussten nicht lange dort verharren. Als die letzten Besucherinnen den Strand verlassen hatten, stieg Lew hinunter und holte mein unglückseliges Fahrrad zurück. Später beschrieb er alles sehr farbenfroh in einem scharfsinnigen, aber boshaften Epigramm. Über einen Monat sprachen wir nicht mehr miteinander.

Eine andere Erinnerung ist mit dem «Ratten»-Spiel verknüpft. Der Führer verschwand, die anderen mussten ihn fangen. Dieser Prozess wurde dadurch erschwert, dass die «Ratte» auf der Flucht häufig einen der Verfolger mit der Hacke im Gesicht traf. Wir spielten gern in der Nähe der städtischen Bäder: eins für Männer, eins für Frauen. Sie lagen etwa einhundert Meter voneinander entfernt und waren durch Abgrenzvorrichtungen miteinander verbunden, die sich am Ufer entlangzogen. Die Badeanlagen selbst ruhten auf, wie auf einem Floß, auf leeren, geteerten Fässern. Auf der Rückseite jeder Anlage waren zwei Boxen für diejenigen installiert, die nicht schwimmen konnten. Von der Außenwelt waren sie durch inen hohen Zaun abgetrennt.

Ich war mit dem «Führen» an der Reihe. Ich verschwand. Ich schwamm in die Tiefe, und tauchte mit einer jähen Wende unter das Schwimmbecken. Auf dem Weg durch ein Gewirr aus rutschigen Fässern, Befestigungsklammern und irgendwelchen Seilen bemerkte ich mit Schrecken, dass die Lücke, die ich am Vorabend in einer der Boxen entdeckt hatte, verstopft war. Zur Umkehr fehlte die Zeit, ich bekam schon keine Luft mehr. Zwischen Wasser und Boden des Schwimmbeckens gab es so gut wie keine Lücke. Ich hielt mich an ein paar Klammern fest, trat mit den Füßen ein Brett aus seiner Verankerung und schoss wie ein Torpedo in die Box hinein – voller Blut und mit aufgerissenem Oberschenkel. Zum Glück hatte ich niemanden niedergeschlagen. Taumelnd stieg ich die Leiter hinauf und legte mich sofort auf den Boden. Hier, im inneren Teil des Beckens, wehte kein Wind, die Sonne wärmte mich und ich döste unbemerkt ein. In der Zwischenzeit waren Lew und seine Freunde um das Becken herumgetaucht und hatten angefangen sich Sorgen zu machen, weil sie mich nicht finden konnten. Sie wandten sich an die Diensthabenden mit der Bitte um Hilfe, und die machten sich nun, mit Stangen bewaffnet, auf die erfolglose Suche nach meinem «Körper». Nachdem ich das Chaos bemerkt und erkannt hatte, dass dort jemand ertrunken war, begab ich mich arglos auf die Außenseite des Beckens. Es ist nicht schwer sich die Empörung Lews und seiner Freunde vorzustellen, als sie mich in der Menge der Neugierigen sahen.

In der achten Klasse freundete ich mich mit einem stadtbekannten Funkamateur mit dem für unsere Zeit ungewöhnlichen Vornamen Serafim und dem in Tambow äußerst seltenen Nachnamen Akulinin an. Er wohnte in unserer Straße, nicht weit von uns entfernt. Seine Freunde nannten ihn Simatsch. Er war ein oder zwei Jahr älter als ich. Er besuchte ein Technikum und verdiente nebenbei Geld, um seine Mutter und die kranke Schwester zu unterstützen. Viel zu ernst für sein Alter und den Faktor Zeit hoch einschätzend, unterband er entschieden alle Versuche ihn in ein Spiel mit einzubeziehen. Simatsch stammte aus einer enteigneten Großbauern-Familie. Er erzählte mir viel über Tambow, seine Umgebung, den Antonowsker Aufstand und Tuchatschewskij, durch dessen Hände, soweit ich es verstand, sein Vater getötet wurden war. Sein wichtigstes Hobby war die Funktechnik, was eigentlich auch die Grundlage unserer Freundschaft bildete. Wir tuschten Einzelheiten, Schaltpläne, Gedanken aus. Wir analysierten Artikel, die in der Zeitschrift «Radio» veröffentlicht worden waren. Dann meldeten wir uns zusammen im Radio-Club der städtischen DOSAAF an und legten die Standardprüfung für Funker ab. Unsere Freundschaft war von einer systematischen Konkurrenz begleitet: wessen Empfänger, und die bauten wir natürlich selbst, die weitest entfernte und schwächste Station empfangen kann, wer die wenigsten Störungen, den reinsten Ton hatte. Um die nervigen «Störsender» loszuwerden, welche Tag und Nacht die ausländischen Stationen «ausixten», bauten wir gerahmte Antennen, bei deren Drehung es, wie es uns schien, gelang, die «Störfaktoren» zumindest ein wenig abzuschwächen.

In der Schule setzte ich mein Wissen auf dem Gebiet der Radiotechnik bei der Wartung des Schulfunkzentrums ein, manchmal allerdings zum Nachteil der Sache. Es war in der achten Klasse, im Winter. Wir hatten in der zweiten Schicht Unterricht, und die letzten Stunden sollten bei elektrischer Beleuchtung stattfinden. Um den Unterricht zu unterbrechen, schaltete ich das Licht im Klassenzimmer aus, durchbohrte die Drähte, die zur Glühbirne führten mit einer dicken Nadel und schaltete das Licht wieder ein. Die Stecker am Schild vor dem Amtszimmer des Direktors brannten durch, und das Licht ging zur Freude aller Schüle in unserem gesamten Flügel aus. Man rief den Hausmeister. Er wechselte die Stecker, doch sie brannten erneut durch. Nachdem er den Vorgang mehrere Male ohne Erfolg wiederholt hatte, ging er los, um einen Monteur zu holen, und wir wurden nach Hause entlassen. Bevor ich wegging, zog ich die Nadel heraus und die Stecker, die der Elektriker eingeschraubt hatte, brannten zur Verwunderung des Hausmeisters nun nicht mehr durch. Lange musste ich nicht als Held herumlaufen. Das Gerücht über meinen Streich verbreitete sich in der Schule und drang schließlich auch bis zu den Lehrern vor. Es folgte mein erster bedingter Ausschluss von der Schule.

Viel Zeit verbrachte ich mit der endlosen Vervollkommnung von Rundfunkempfängern. Nachdem ich viel über Verbesserungsmöglichkeiten gelesen oder von irgendjemandem, zumeist war es Simatsch, erfahren hatte, nahm ich Änderungen in den Plänen vor, die mitunter nicht zum Erfolg führten. Da es bei uns damals keine elektrischen Lötkolben gab und Mama es nicht erlaubte, jedes Mal den Primus-Kocher anzuzünden, wurden diese Änderungen alle ohne Löten vorgenommen, wie wir damals sagten, - «mit Rotz». Allmählich sammelten sich die Veränderungen und Korrekturen an, und schließlich kam der Augenblick, dass das Gerät seinen Geist vollständig aufgab und die Montage eines neuen begann. Mama war ärgerlich. «Wenn das Radio wenigstens einen Monat gehalten hätte». Besonders viel Zeit beanspruchte das Regulieren des Rundfunkempfängers. Damit befasste ich mich für gewöhnlich nachts, wenn es von außen weniger Störungen gab. Das Pfeifen und Knattern während der Justierung verursachten bei allen im Haus Verdruss. Besonders von Lisa bekam ich meinen Teil ab, die auf einen guten Schlaf ihrer Kinder achtete. Nach solchen nächtlichen Justierungsarbeiten schlief ich gewöhnlich aus und brauchte mit Mamas Erlaubnis nicht zur Schule gehen.

Mit Mädchen freundete ich mich während der Zeit nicht an. Ich hegte keine starken Gefühle, außer bei der schwarzäugigen, lockigen Irinka. Erst ganz zum Ende der achten Klasse fing ich plötzlich an Interesse zu einem Mädchen zu bekunden, die auf der Schulbank hinter mir saß. Was der Grund dafür war und was mir an ihr besonders gut gefiel, erinnere ich nicht mehr, aber in der Klasse bemerkten sie, dass ich mich öfter als gewöhnlich zu ihr umdrehte, Spickzettel warf und sie sogar zweimal nach Hause begleitete. Besonderes Gespött löste das nicht aus. Im Sommer wartete ich mit Ungeduld auf das Ende der Ferien, in der Vorfreude auf ein Wiedersehen. Doch wie groß war meine Verwunderung, als ich am ersten September in die Schule kam und bei ihrem Anblick keinerlei Gefühle mehr empfand. Sie war daran nicht schuld. Etwas hatte sich in mir selbst verändert. Mit aller Macht versuchte ich das alte Gefühl wieder hervorzulocken, doch es geschah nichts. Vor mir stand ein gewöhnliches Mädchen, nicht schlechter, aber auch nicht besser als die anderen. Diese Enthüllung verwirrte mich sehr, und ich fühlte mich schuldig. Die Zeit des Knabenalters war vorbei, die Jünglingszeit hatte begonnen. Eine Jugend, die durch Krieg und Lager zerstört wurde!

 

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