Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Kapitel 6. Das Jahr vor dem Krieg

Meine Lernerfolge bis zur 9. Klasse können nicht gerade als herausragend bezeichnet werden. Gut war es um Mathematik und Physik bestellt. Passabel in den Fächern Chemie, Biologie, Geschichte und Geografie. Schlechter verhielt es sich mit der russischen Sprache, denn die ersten vier Jahre hatte ich die deutsche Schule besucht. Oft gab es Probleme mit Literatur. Ich las viel. Häufig versäumte ich wegen eines guten Buches den Unterricht. Doch, wie sich herausstellte, las und mochte ich nicht das, das erforderlich war. Ich weiß noch, dass ich mich in der achten Klasse für Dickens begeisterte, obwohl ich Gorkij hätte lesen sollen. Mama mochte Gorkij ebenfalls nicht und verhielt sich in Bezug auf meine Dreien in Literatur recht gelassen.

Eine Wende gab es in der zehnten Klasse. Nach Ernotschkas Erinnerungen veränderte ich mich in diesem Jahr sehr. Ich hörte mit den Kinderspielen auf, wandte mich ernsthafter dem Lernen zu und begann, was sie besonders verwunderte und in Besorgnis versetzte, mich lebhaft für die Lage im Land und in der Welt zu interessieren. Wenn ich mich an jene Zeit zurückerinnere, denke ich, dass die Grundlage für diese Veränderungen nicht so sehr an meinem Alter, ich wurde im Dezember 1938 siebzehn Jahre alt, lag, sondern am systematischen Lesen ernsthafter Bücher, Unterhaltungen mit Ernotschka über den Sinn des Lebens und die Vorbestimmungen des Menschen sowie Gespräche mit Simatsch über akute politische Themen. Eine große Rolle spielte auch die allgemeine Weltlage im Zusammenhang mit der Aktivierung des Faschismus.

Faschismus! In meinem Bewusstsein, ebenso wie im Bewusstsein jedes sowjetischen Menschen, konzentrierte sich in diesem Begriff alles Negative, Düstere, Aggressive. Alle Handlungen der faschistischen Staaten bestätigten das. In den Jahren 1935-36 fiel das faschistische Italien in Äthiopien ein, das zu dem Zeitpunkt Abessinien hieß. Im November 1936 schlossen Deutschland und Japan den «Anti-Komintern-Pakt», dem sich das faschistische Italien ein Jahr später anschloss. Drei Jahre lang, von 1936 bis 1939, führten Deutschland und Italien, die die Franco-Rebellen unterstützten, Krieg gegen die spanische Republik. Im März 1938 realisierte Deutschland, indem es sich die Ergebnisse der Volksbefragung in Österreich zunutze machte, den «Anschluss» dieses unabhängigen, souveränen Landes. Mit dieser Methode wurde im Oktober ein wesentlicher Teil der Tschechoslowakei (die Sudeten) und das Memel-Gebiet Litauens an Deutschland angeschlossen.

Jede dieser Aktionen wurde in unseren Masseninformationsmitteln ausführlich beleuchtet und erörtert. Zeitungskorrespondenten, Journalisten schrieben darüber, es gab Informationssendungen im Radio. Über einzelne Episoden des Kriegsgeschehens berichteten Foto- und Filmkorrespondenten. Besonders detailliert wurden die Ereignisse des Bürgerkriegs in Spanien beschrieben. Viele seiner Helden kannten die sowjetischen Menschen mit Namen. Sie wussten, dass sich in der internationalen Brigade, die auf Seiten der Republik kämpfte, viele unserer Freiwilligen befanden. Alle Sowjetmenschen freuten sich über Siege der Republikaner und waren betrübt über ihre Misserfolge. In den höheren Klassenstufen, in Unternehmen und in staatlichen Einrichtungen wurden der Verlauf der Kriegsoperationen und die politische Situation in Spanien im politischen Unterricht diskutiert. Eine Niederlage der Republikaner in diesem Krieg erlebte jeder sowjetische Mensch als wäre es sein eigenes Unglück.

Seit dieser Zeit war in den Augen der Sowjetmenschen der größte Feind unseres Landes der Faschismus, der spanische, italienische und deutsche gleichermaßen. Die Gleichsetzung des Faschismus mit der deutschen Nation erfolgte bereits 1938-39, als klar wurde, dass Deutschland die führende Rolle unter den faschistischen Staaten einnahm. Diese Veränderung im gesellschaftlichen Bewusstsein war für mich schmerzlich. Wenn sich Anfang der dreißiger Jahre massenhaft die Vorstellung über Deutschland als Land mit tiefen revolutionären Traditionen, der Heimat der Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus, in der es zahlreiche Kommunisten gab, die dem Faschismus aktiv entgegenstanden, verbreitet hatte, so war davon Ende der dreißiger Jahre immer weniger die Rede. Immer seltener erinnerte man sich daran, dass Deutschland nicht nur die Heimat Hitlers, Himmlers und Göbbels‘ war, sondern auch Thälmanns, Liebknechts und Rosa Luxemburgs. Auf dem berühmten Plakat der vier Führer wurden, wie mir schien, die Profile von Marx und Engels zunehmend von den Profilen Lenins und Stalins verdeckt, gerieten in deren Schatten des großen Führers und Lehrmeisters.

In der Schule begann der Beiname «Deutscher» im Sinne von «Faschist» aufzuflackern. Die Jungs zeichneten mit Kreide ein Hakenkreuz auf ihre Handflächen und verliehen ihnen, indem sie ihnen auf den Rücken klopften, ein Schandmal. Allerdings beinhaltete in jenen Jahren der Begriff Faschismus noch nicht jenen glühenden Hass, der während des Großen Vaterländischen Kriegs aufkam. Vielmehr gab es Spott und Verachtung, ein Gefühl moralischer Überlegenheit. Und fast keine Furcht. Es herrschte die Überzeugung, dass die Grenze zuverlässig geschützt war, und falls die Faschisten in unser Land einmarschieren sollten, dann würde die Rote Armee sie schon mit Leichtigkeit auf ihrem Boden zerquetschen. Auf Plakaten malten sie ein Spinnen-Hakenkreuz, das vom Bajonett eines Rotarmisten im Boden festgenagelt war.

Trotz der angespannten internationalen Lage schien für viele Sowjetbürger das Leben jener Jahre ungetrübt und glücklich zu sein. Ganz anders stellte es sich für mich dar. Seit meinen Kindertagen hatte ich in der Angst gelebt, hatte mich gefürchtet, dass sie Mama verhaften würden, wobei ich den Unterhaltungen der Älteren aufmerksam zugehört hatte, die über die Verhaftungen und Verbannungen und Bekannter Leute, diskutierten, von denen die meisten zu den Russland-Deutschen gehörten. Im Alter von siebzehn Jahren begann ich die Unsicherheit unserer Existenz heftig zu spüren, denn ich begriff, wie viel im Leben der Russland-Deutschen von den gegenseitigen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland abhing. Und diese Beziehungen gestalteten sich damals nicht in der besten Weise. Es bedeutet nicht, dass wir als Deutsche verfolgt wurden. Nein, äußerlich sah alles ordentlich aus, aber in all diesen Jahren lebte in mir eine innere Anspannung, die sich besonders mit der Aktivierung des Faschismus in Deutschland zuspitzte.

Wie alle sowjetischen Menschen hasste auch ich den Faschismus, las Feuchtwangers antifaschistischen Romane und war schmerzlich besorgt über die Identifikation der Deutschen mit den Nazis. Nachdem ich mich mit dem Werk einiger deutschen antifaschistischen Dichter vertraut gemacht hatte, übersetzte ich einige ihrer Gedichte ins Russische. Eines davon, «Der Stern», wurde in meiner Übersetzung anscheinend im «Tambowsker Komsomolzen» veröffentlicht. Für diese und eine weitere Publikation erhielt ich ein kleines Honorar, und vor allen Dingen nahm mein Ansehen in der Schule stark zu. Es tauchten neue Kameraden, wenn auch nicht Freunde – die alten blieben mir wie bisher erhalten – auf, unter denen sich auch Mädchen befanden. In der warmen Jahreszeit fuhren wir mit der ganzen Gruppe mit Fahrrädern in den Wald oder zum wilden Strand, wo wir badeten und uns sonnten. An den freien Tagen begaben wir uns mit Booten nach Eldorado – einen beliebten Erholungsort der Einwohner von Tambow. Hier, auf dem letzten Kilometer vor der Eisenbahnbrücke über die Zna, waren ihre Ufer mit Wald bewachsen. Vorwiegend wuchsen hier Eichen, Ahorne, Ulmen und Weiden. Es gab jede Menge saftig-grünes Gras, verlockende Wiesen, begrenzt von dichtem Gebüsch. Es gab auch viel Sonne und Schatten. Nur Sand fehlte. Aber wir tauchten vom Ufer aus und benötigten im Grunde genommen auch keinen Sand. Die Zeit in Eldorado verging wie im Flug. Wenn ein Motorboot uns passierte, sprang die ganze Gesellschaft einvernehmlich ins Wasser, um auf den Wellen zu schaukeln. Wenn die Hitze nachließ, entfachten wir, obwohl es verboten war, ein Lagerfeuer und erhitzten darauf Kartoffeln. Anschließend, bemüht uns nicht mit Ruß zu beschmieren, kauten wir sie in angebranntem und oft noch halbrohem Zustand. Das Hauptnahrungsmittel bei diesen Fahrten waren Brot, Gurken und Tomaten. Als Snack zwischendurch Äpfel, an denen es in Tambow nicht mangelte. Mitunter nahmen die Jungs auf gemeinsame Kosten Wein mit. Obwohl ich auch meinen Beitrag dazu geleistet hatte, nahm ich an der Trinkerei nicht teil. Ich beteiligte mich auch nicht an den Kartenspielen, mit denen unser Besuch in Eldorado oft seinen Abschluss fand. Stattdessen zog ich mich zurück und las ein Buch. Wenn die Dämmerung hereinbrach, sangen wir Lieder. Und obwohl es keine Transistorradios, keine Tonbandgeräte, keine Sneakers und keine Pepsi-Cola gab, waren wir alle fröhlich. Wir wollten nicht zurückfahren, zumal wir dafür gegen die Strömung rudern mussten. Doch die Zeit lief uns davon. Wir mussten bis zur Schließung der Bootsstation wieder zurück sein.

Mädchen! Welchen Platz nahmen sie in meinem Leben ein? In der Kindheit waren, entsprechend der katholischen Traditionen, alle Gespräche über Probleme des Kinderkriegens sorgsam vermieden worden. Bis zum Alter von zehn Jahren glaubte ich weiterhin, dass der Storch die kleinen Kinder bringt. Der Sinn der Zaun-Aufschriften, von denen es damals sehr viele gab, wurde mir erst viel später begreiflich. Mit sechzehn hatte ich, verglichen mit heutigen Maßstäben, eine äußerst primitive Vorstellung vom Intimleben. Mit siebzehn wurde meine Beziehung gegenüber Mädchen durch den Einfluss der familiären Erziehung und besonders durch Ernotschka höchst romantisch: ich vergötterte und fürchtete sie. Ich fürchtete sie aus der Tiefe des Unterbewusstseins meiner Instinkte heraus. Doch ich erlaubte mir keinerlei Freiheiten gegenüber den Mädchen. Und überhaupt vergingen bis zu meinem ersten und für viele Jahre letzten Kuss noch fast drei Jahre. Aber Schwärmereien gab es.

Ich erinnere mich, dass in der Schule der Neujahrs-Maskenball stattfand. Ich spielte die Schallplatten ab und genoss meine Bedeutung. Ab und zu kamen Mädchen angelaufen, die darum baten, ihre Lieblingstanzmusik aufzulegen. Ich selbst tanzte nicht, mochte aber gern den anderen dabei zusehen. Und plötzlich bemerkte ich in Mädchen. Es war hochgewachsen, schlank, und trug ein langes, bis zu den Füßen reichendes, schwarzes Kleid, einen schwarzen Hut mit Feder und eine schwarze Halbmaske. Na, genau wie Bloks «Unbekannte». Beim Tanzen erschien sie mal in der Tür, mal verschwand sie. Meine Verpflichtung vergessend, verließ ich den Radioraum, lehnte mich an den Türrahmen und verfolgte das tanzende Paar mit meinen Augen, um zu erraten, wer sich hinter der Maske der Unbekannten verbarg. Wenn ich doch nur hätte tanzen können…. Doch ich konnte es nicht, außerdem drehten sich so viele Jungs um sie herum. Sportliche, schneidige Jungs. An jenem Abend fühlte ich deutlich, wie unzugänglich ein solches Wesen für mich ist, und wahrscheinlich dachte ich zum ersten Mal mit Groll über meine unsportliche Figur und meinen schüchternen, verlegenen Charakter nach. Den ganzen folgenden Tag lief ich unter dem Eindruck der «Unbekannten» herum und wagte es nicht, jemanden nach ihr zu fragen. Ab da, endlich, wurde das Geheimnis enthüllt. Die Unbekannte war Nina Wanina, eine an unserer Schule bekannte Sportlerin. Sie selbst war es, die mich im Korridor fragte, weshalb ich ihr so lange Zeit gefolgt und nicht an sie herangetreten war. Der Zauber zerbrach. Eine Sportlerin konnte in meinem Verständnis niemals die Bloks Unbekannte gewesen sein, außerdem verfügte sie über ansehnliche muskulöse Beine und eine raue Stimme. Ich erzählte ihr von meinen Empfindungen und dann lachten wir lange darüber.

Im März 1939 kehrte Petja aus der Haft zurück. Er kam zurück und machte sich sofort auf die Suche nach Arbeit. Er suchte lange. Erst nach einigen Monaten gelang es ihm eine Stelle als Buchhalter im Kontor «Glawtabak» zu finden. Zu dieser Zeit kehrte Ernotschka mit den Kindern aus Tschakino zurück. Bald darauf gelang es auch ihr eine Stelle als Leiterin des Büros für Fremdsprachen am Tambowsker Institut für Lehrerfortbildung und Teilzeit-Musiklehrer in der Schule zu bekommen. Petja kehrte aus dem Lager noch düsterer und verschlossener als zuvor zurück. Ständig erwartete er seine neuerliche Verhaftung. Im Kleiderschrank hing sein Rucksack mit allen für diesen Fall nötigen Sachen. Niemals berichtete er irgendeinem von uns über die Zeit in Haft, über die Haftbedingungen. In seinen Tagebuch-Aufzeichnungen ist dieser Periode keine einzige Zeile gewidmet.

Trotz all seiner Härte und offenkundigen Missbilligung meines Verhaltens respektierte ich ihn und hätte sehr gern mit ihm über Themen gesprochen, die politische und nationale Fragen betrafen. Aber wer war ich schon für ihn: eine verwöhnter Junge, der nie richtige Arbeit gekostet hatte. Nicht einmal mit Ernotschka redete er über diese Themen, aus Angst, dass dies, falls sie sie verhafteten, woran er keinerlei Zweifel hegte, ihre Situation bei den Verhören erschweren könnte. Und er tat richtig daran; davon konnte ich mich zwei Jahre später überzeugen, als der Ermittlungsrichter, der mich verhörte, plötzlich verlangte:

– Und nun erzählen sie, welche antisowjetischen Unterhaltungen Sie mit Peter Bartholomäjewitsch Gunger geführt haben. Bald zerfiel unsere Familie in zwei Teile. Anscheinend begannen Petja, Ernotschka und die Kinder auf Petjas Drängen getrennt zu essen. Lisa kochte für sie. Der signifikante Unterschied in der Ernährung verursachte einige Spannungen. Ernotschka und Lisa halfen uns so gut sie konnten, was bei Petja Missfallen hervorrief. Mama, Lalja und ich wohnten in dem Zimmer, welches zur Straße zeigte. Ernotschka mit ihrer Familie sowie Lisa – in dem Raum, der zum Hof gelegen war. Im Sommer errichtete Petja einen Anbau in der Art einer isolierten Veranda, wo anschließend das Schlafzimmer eingerichtet wurde.

1939 gelang es Mama einen Posten als Rechnungsführerin im Kontor der «GlawTraktorSbyt» (Hauptverwaltung für den Vertrieb von Traktoren; Anm. d. Übers.) zu bekommen. Von dort brachte sie ihre Aufstellungen mit und ich half ihr dann abends bei den Konten. Ich lernte meisterhaft mit den Konten zu arbeiten. Ich addierte, subtrahierte, multiplizierte und dividierte. Später hat mir das sehr geholfen. Außerdem gelang es ihr und mir, Aufträge für die Herstellung von Lehr-Plakaten zu erhalten, auf denen die Teile und Baugruppen von Traktoren und Autos abgebildet waren. Mein Unterricht mit den Nachbarskindern ging weiter. Manchmal reparierte ich mit Simatsch die damals erscheinenden allerersten Massen-Netzempfänger vom Typ SI-235.

Und in der Zeit lernte Lalja, die als Buchhalterin bei der ländlichen Kreisabteilung für Volksbildung arbeitete, Igor Aleksandrowitsch Krassawzew kennen, der in derselben Organisation als Inspektor für politische Aufklärung tätig war. Er war auf dem Land aufgewachsen, hatte eine technische Ausbildung erhalten und seinen Armeedienst als Panzersoldat abgeleistet; er sah wesentlich älter aus als seine sechsundzwanzig Jahre es hätten vermuten lassen. Bis dahin hatte Lalja viele Fans gehabt, von denen manche den Weg zu ihr über eine Freundschaft mit mir gesucht hatten. Mir gefiel das, und ich stellte diese Freundschaft so gut wie möglich zur Schau. Die Bekanntschaft mit erwachsenen, starken jungen Leuten verschaffte mir ein entsprechendes Image, das mich vor denen beschützte, die sich gerne über Mamas Sohn, der ich nun einmal war, lustig machten. Igor Aleksandrowitsch brauchte meine Freundschaft nicht, deshalb nahm ich sein Erscheinen ohne Enthusiasmus auf, zudem ließen mich seine militärische Körperhaltung und die Uniform, die er trug, aufmerken. Doch nach und nach fing er sogar an mir zu gefallen. Er, ein einfacher, lebensfroher Mensch, der Scherze liebte und verstand, hatte schnell auch den Rest unserer Familie in seinen Bann gezogen.

Bald wurde Igorka auf Fortbildungskurse für Kommandopersonal der Roten Arbeiter- und Bauern-Armee geschickt, man verlieh ihm den Rang eines Unterleutnants der Reserve. Ich erinnere mich noch, wie Lalja und ich nach Moskau fuhren, und von dort zu seinem Truppenteil, der in Narofominsk stationiert war. Als Igorka nach Beendigung der Kurse nach Tambow zurückkehrte, arbeitete er noch einige Zeit auf seinem vorherigen Posten und war 7unser häufiger Gast. Im Unterschied zu Petja war es mit ihm relativ einfach über politische Inhalte zu sprechen. In meinen Augen war er Wortführer der Staats- und Parteipolitik. Mit der mir charakteristischen Eigenschaft eines Streiters feilte ich an ihm meine deduktiven Fähigkeiten aus. Er wehrte sich nicht gerade überzeugend, weil er offensichtlich den Kontakt nicht verderben wollte. Jedenfalls schien es mir so, als ob er weit davon entfernt war, alle Deutschen, und umso mehr die Russland-Deutschen, für Faschisten zu halten, und das war mir nur recht. Die Zukunft sollte zeigen, dass er in dieser seiner Position hinreichend aufrichtig war.

Während des Winters kam Igorka manchmal mit dem Pferd zu uns, das vor einen ordentlichen Schlitten gespannt war. Man erlaubte mir und Simatsch, der die Feinheiten des bäuerlichen Handwerks verstand, durch die Stadt und ihre Umgebung zu fahren, wovon wir selbstverständlich gerne Gebrauch machten.

Im Sommer 1939, ganz um Ende der Schulferien, kam der Außenminister des faschistischen Deutschlands Ribbentrop nach Moskau, der von Molotow höchstpersönlich empfangen, umarmt und geküsst wurde. Und am 23. August wurde zwischen der UdSSR und Deutschland der Nichtangriffspakt geschlossen. Für alle Sowjetmenschen, die nicht in die Geheimnisse dessen eingeweiht waren, was sich hinter den Kulissen der Regierung abspielte, war dies eine völlige Überraschung, obwohl es bereits Andeutungen für Veränderungen in der Außenpolitik gegeben hatte. Dieser Prozess begann mit der Rede Stalins auf dem 18. Parteitag der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewisten) und fand seine Fortsetzung in der Auswechslung des damaligen Außenministers Litwinow durch Molotow und der Reise des Letztgenannten nach Berlin zur Führung von Verhandlungen mit Hitler.

Freilich konnten wir damals nur das wissen, worüber die Massenkommunikationsmittel Mitteilung machten. Über die wahren Motive der Handlungen der Führer der beiden Staaten und die geheimen Zusätze zu den geschlossenen Verträgen wussten die gewöhnlichen Bürger des Landes nichts, und sie verloren sich in Rätseln um den Sinn der Geschehnisse.

Nach dem Abschluss des Paktes kam es zu ernsthaften Veränderungen bei der Berichterstattung über unsere Außenpolitik durch die Medien. Die Angriffe auf den Faschismus und auf Deutschland hörten auf. Mehr noch, es erschienen Artikel, in denen über die Ähnlichkeiten beider Systeme die Rede war, über die wirtschaftlichen und militärischen Errungenschaften Deutschen, und man schimpfte über die Engländer, die beschuldigt wurden, den Krieg angestiftet und unsere beiden Staaten gegeneinander ausgespielt zu haben. Unser Radiosender begann mehrmals am Tag bravouröse Militärmärsche zu übertragen. Dabei hatte man sie noch wenige Monate zuvor mit demselben Eifer, gedrosselt wie die antisowjetischen Reden der westlichen Führer, und für den Versuch sie zu hören, hätte man für sehr lange Zeit sehr weit fortgebracht werden können.

Sofort nach Schließung des Paktes, marschierten die Deutschen, als ob sie nur auf diesen Moment gewartet hätten, in Polen ein. Dies geschah am 1. September 1939, an dem Tag, als der Unterricht in der Schule begann. Das feurige Kriegsrad drehte sich auf Hochtouren. Im Gegenzug erklärten England und Frankreich nun Deutschland den Krieg. Zur Verwunderung der Leser schrieben die Zeitungen, die erst kürzlich noch die Handlungen der deutschen und italienischen Faschisten enthüllt und stigmatisiert hatten, jetzt mehr über die polnische Regierung, die angeblich ihr Volk verraten und unter dem Schutz der bürgerlichen britischen Regierung nach London geflohen war. Bei ihren Beschreibungen der Kriegsaktivitäten in Polen beschränkten sich die Zeitungen auf eine Aufzählung von Fakten und hielten sich von jeglichen Kommentaren und Einschätzungen zurück. Die Mitglieder unserer Familie, wie auch die Mehrheit der Sowjetmenschen «litten» mit den Polen. Besonders schwer war es zu beobachten, wie die mechanisierten Truppen der Deutschen die in den Süden zurückweichende polnische Kavallerie verfolgten.

Damals wurde viel über die Notwendigkeit gesprochen, die Verteidigungsfähigkeit des Landes zu stärken. Die Bewegung zur Norm-Abgabe GTO (bereit zu Arbeit und Verteidigung) wurde ausgeweitet. Die jungen Leute waren stolz auf die Abzeichen mit der Darstellung eines Sportlers mit dem Zielband auf der Brust. In der Schule wurden Gedichte und Lieder einstudiert, in denen der Heroismus unserer Soldaten, die Stärke und Unzerstörbarkeit der Roten Armee, die Tapferkeit der Feldherren und Führer gelobt und besungen wurden. Dem Volk wurde die Unbesiegbarkeit unserer Armee eingeschärft. Man tat alles dafür, damit ein Mensch mit dem Gewehr in der Hand und einem Abzeichen am Helm allgemeinen Respekt und Liebe genoss.

Als am 17. September 1939, auf dem Höhepunkt der militärischen Handlungen, welche die deutschen Truppen in Polen durchführten, unsere Truppen die polnische Grenze von Osten her überschritten und damit begannen, die West-Ukraine und den Westen Weißrusslands zu befreien, erstarrten alle, weil sie den Zusammenprall unserer Armee mit der Armee der Faschisten erwarteten. Schließlich wussten wir damals nicht, dass die Teilung Polens und die Demarkationslinie bereits durch eine geheime Übereinkunft mit Deutschland festgelegt worden war. Ich erinnere mich, dass in der politischen Stunde, die diesem Ereignis gewidmet war, der Gedanke geäußert wurde: «Jetzt werden wir den Deutschen einheizen!». Ausgerechnet den Deutschen und nicht den deutschen Faschisten. Allerdings begruben die gemeinsame Parade der sowjetischen und deutschen Truppen in Brest-Litowsk am 22. September 1939 und der am 28. September desselben Jahres geschlossene Freundschaftsvertrag mit Deutschland diese Hoffnungen.

Es fällt mir heute schwer jene Gefühle wiederzugeben, die damals von mir Besitz ergriffen hatten. Wie alle sowjetischen Menschen jener Zeit, hasste ich den Faschismus und glaubte an die kommunistische Zukunft der Welt. Aber gleichzeitig war ich stolz auf die deutschen Wissenschaftler, Forschungsreisenden, Schriftsteller und Musiker. Ich war stolz darauf, dass die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus Deutsche waren. Und, was ich niemals jemandem gestand, ich war stolz auf die militärischen Erfolge der Deutschen. Wären sie doch nur keine Faschisten, wären ihre militärischen Anstrengungen doch nur nicht auf die Unterdrückung, sondern die Befreiung der Völker gerichtet – dachte ich damals. Solche Gedanken waren wohl die Reaktion auf den Spott, dem alles Deutsche in unserem jugendlichen Milieu ausgesetzt war.

In der zehnten Klasse war mein Leben bis an die Grenzen gesättigt. Nun, da ich erwachsen wurde, traf ich die Entscheidung, nach dem Schulabschluss, mich am Institut für Fernmeldewesen einzuschreiben; ich beteiligte mich viel ernsthafter am Unterreicht, besonders in den Mathematik- und Physikstunden. Auf die Physikstunden bereitete ich mich sogar vor dem Zeitplan vor, befasste mich mit dem Stoff, der in der nächsten Stunde durchgenommen werden sollte. Auf der Suche nach kniffligen Fragestellungen versuchte ich, die Physiklehrerin Anna Petrowna in Streitgespräche über den Kern der einen oder anderen physikalischen Erscheinung zu verwickeln. Einmal, als ich mit ihr in einen Streit über die Art und Weise geriet, in der sie das Unendlichkeitssymbol und die Division durch Null verwendete, machte ich eine taktlose Bemerkung. Infolgedessen verließ Anna Petrowna weinend die Klasse, und ich bekam zum zweiten Mal eins auf den Deckel. Nach diesem Vorfall änderte ich meine Taktik: ich vertraute meine Fragen einem der leistungsschwächsten Schüler in der Klasse an, und erst nach Anna Petrownas Antwort nötigte ich sie durch irgendeine Zwischenbemerkung oder Anmerkung zum Streitgespräch. Mehrmals flog Anna Petrowna auf, aber schon sehr bald, nachdem sie begriffen hatte, worum es hier ging, hörte sie auf, ihre traditionellen Worte «wer hat noch Fragen?» an die Klasse zu richten.

Hier, in der zehnten Klasse, begann meine Begeisterung für Philosophie. Ich begann Bücher zu lesen, die noch vom Vater zurückgeblieben waren. Ich las «Prolegomenon» und «Die Kritik der reinen Vernunft» von Kant und irgendetwas von Hegel. Ich begriff wohl nicht allzu viel, unterstützte aber meine Antworten gerne mit Meinungen und Aussagen aus diesen Werken. Nach der jähen Wendung in den Beziehungen zu Deutschland dachte ich immer häufiger darüber nach, worin die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede, in unseren beiden Systemen lagen. Petja verhielt sich sehr ablehnend gegenüber dieser meiner Begeisterung und warnte mich, dass sie nicht nur mich, sondern die gesamte Familie ins Gefängnis bringen könnte.

Im November fand in Pady, dem Dorf, in dem Igorkas Mutter und Brüder lebten, seine Hochzeit mit Lalja statt. Mama und ich fuhren auch dorthin. Langen Reihen von Tischen und Bänken, ein Überfluss an alkoholischen Getränken und Häppchen. Gesetzte Männer und angespannte, Frauen, die sich und die Braut anschauen. Überreichen der Geschenke mit entsprechender namentlicher Auflistung, Dankesreden, der Geruch von Schweiß, Machorka und Teeröl von reichhaltig eingefetteten Stiefeln. Am Tisch angeordnet Igorkas Mutter, Sofia Wladimirowma, eine große, herrische Frau, vor der nicht nur Lalja erbebt, sondern auch meine alte und in solchen Bedingungen so wehrlose Mama. Die Hochzeit nimmt Fahrt auf. Die Reden werden immer lauter, die Zwischenbemerkungen rauer, Frauen und Männer werden frecher. Die Harmonika spielt, man tanzt, hört trunkenes Gerede, man küsst sich. Es wird dunkel. Kerosin-Lampen werden angezündet. Auf der Straße schaut eine neugierige Menge in die geöffneten Fenster. Es schmerzt und kränkt mich wegen Lalja. Ich hatte mir ihre Hochzeit, unter dem Einfluss der Gedichte Bloks und meiner blassen Kindheitserinnerungen, wohl anders vorgestellt: Champagner, Kristallgläser, gestärkte Tischtücher, silberne Serviettenringe, gedämpftes Licht und leise Musik. Ich gehe hinaus in die nächtliche Dunkelheit. Hinter der Schwelle klärt ein betrunkener Mann im Matsch des regnerischen Herbstes die Beziehung zu seiner eifersüchtigen Ehefrau. Mit dem heutigen Tag geht die Hochzeit zu Ende, damit sie am nächsten Morgen weitergefeiert werden kann. Auf dem Tisch umgestürzte Gläser und Pfützen von vergossenem Wein, Teller mit Essensresten und darin steckenden Zigarettenstummeln. Frauen schwirren umher, bemüht die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Im Nebenzimmer wird eine gemeinsame Schlafstelle für etwa zehn Personen ausgelegt. Hier werden Seite an Seite die Gäste schlafen, die aus den Nachbardörfern hergekommen sind. Die Männer und Frauen sind stark betrunken. Eine heiße Fantasie malt kranke Bilder. Zusammen mit Sergej, Igorkas jüngerem Bruder, begebe ich mich auf den Heuboden, wo ich lange Zeit keinen Schlaf finde. Die Hochzeitsfeier setzte sich noch zwei Tage lang fort. Bald darauf fuhren Igorka und Lalja in die Ortschaft Donskoje, so Igor die Leitung der Schule übernommen hatte und Lalja Deutschunterricht erteilte. Und ein paar Tage später, am 30. November 1939 brach der Krieg mit Finnland aus.

Informationen über diesen Krieg flossen nur sehr spärlich. Die Gründe dafür sind kaum bekannt. Man hatte das Gefühl, dass auf unserer Seite keine großen Erfolge zu verzeichnen waren. Die Finnen verteidigten sich verzweifelt. Der Krieg zog sich hin, der Winter setzte ein. Eine Wiederholung der deutsch-polnischen Kampagne, die insgesamt 36 Tage dauerte, funktionierte nicht. Die Krankenhäuser füllten sich mit Verwundeten und Erfrorenen. Die Zahl der Toten stieg dramatisch an. Die Presse erklärte dies mit den ungewöhnlich starken Frösten und damit, dass an den Kriegshandlungen lediglich Truppen einiger nördlicher Kreise teilnahmen. Jedenfalls war dieser Krieg wenig populär. Es starben zu viele Menschen, die Erfolge waren zu unbedeutend. Es war schwierig, die Misserfolge der finnischen Kampagne zu verbergen. Die Erwachsenen erörterten am Abend flüsternd die Situation und warteten darauf, dass sie von einem Tag zum anderen aus einem anderen Bezirk einberufen werden könnten. Freilich sorgte Lalja sich vor allen Dingen um Igorka, Erna um Petja, Mama um mich. Der Krieg gegen Finnland endete nach 105 Tagen ebenso unerwartet und unbemerkt, wie er begonnen hatte.

Im April 1940 okkupierten die deutsch-faschistischen Truppen Dänemark und Norwegen, im Mai – die Niederlande, Belgien und Luxemburg. Im Juni «befreite» die Sowjetunion Bessarabien und die Nord-Bukowina. Italien erklärte Frankreich und England den Krieg. Und plötzlich, am 22. August 1940, erschütterte uns die Nachricht, dass Frankreich kapituliert hatte.

Und zu dem Zeitpunkt beendete ich die 10. Klasse. Die Noten im Zeugnis hätten besser sein können, aber die Noten, die ich in der Acht-Klassen-Schule bekommen hatte, zeigten ihre Auswirkungen. Die letzte meiner schulischen Erinnerungen hängt mit dem Abschlussabend zusammen.

An den Beginn des Abends erinnere ich mich schlecht, aber wie er zu Ende ging weiß ich noch. Er wurde mir durch meine Klassenkameradin Lusja Sobolewa verdorben. Sie war die Tochter des Gebietsstaatsanwalts. Drei- oder viermal hatten bei ihr zu Hause kollektive Abendfeiern stattgefunden, zu denen fast die gesamte Klasse gekommen war. Auch ich war dort gewesen. In der Regel saß ich in dem halbdunklen Zimmer und legte die Schallplatten auf. Wi gewohnt schaute ich aus dem Halbdunkel in das hell erleuchtete Zimmer, in dem die anderen sich amüsierten und vergiftete meine Seele mit Selbstmitleid. Offensichtlich gefiel ich ihr, und das war ein wenig peinlich und belastend für mich, weil ich keine besonderen Empfindungen verspürte und mich deshalb vor ihr schuldig fühlte. Als wir nach dem Abschlussabend fast bis zum Morgengrauen mit der ganzen Klasse am Ufer der Zna spazieren gingen, wich Lusja mir nicht von der Seite und klagte darüber, dass ihr kalt wäre. Ich bot ihr meine Jacke an. Lusja war eine gute Kameradin, sie ließ einen nie fühlen, wer ihr Vater war. Sie kleidete sich bescheiden und nahm, wie alle anderen auch, an den allen Subbotniks teil. Nur einmal wurde sie mit dem Auto abgeholt. Ich schätzte diese Eigenschaften an ihr und bemühte mich, mit ihren Gefühlen sorgsam umzugehen. Und jetzt, als ich sie nach Hause begleitete, dachte ich ängstlich daran, dass ich einer Knutscherei nicht entgehen würde. Doch alles ging gut aus. Auf der Straße, direkt vor ihrem Haus, wartete Lusjas Vater auf uns.

Mit Beendigung der Schule verringerte sich der Kreis meiner Freunde und Kameraden. Andrej Orlow, der sich an der Militärschule für Übersetzter angemeldet hatte, verließ die Stadt. Robert Stoks trat in die stomatologische Abteilung der medizinischen Fachschule ein, und danach trafen wir uns nur noch selten. Lew Petersson ging zum Militär. Von den alten Freunden blieb nur Simatsch übrig. Unsere gemeinsame Begeisterung für Radiotechnik wurde erweitert und vertieft. Mit dem Aufkommen der Überlagerungsempfänger mussten wir uns energisch ans Theoretische machen. Im Radioklub der DOSAAF bauten wir einen Fernseher. Die Bildauflösung wurde mit einer «Spiegelschraube» verwirklicht, die wie ein Fächer aus Metallplatten zusammengesetzt war und deren Kanten, wie ein Spiegel, auf Hochglanz poliert waren. Das pulsierende Licht einer Neonlampe, das abwechselnd an den Rändern reflektiert wird, faltet sich zu einem unscharfen Bild, das mit horizontalen Linien gezeichnet und etwas größer als eine Streichholzschachtel ist. Das Bild wurde vom Moskauer Sender «RZS» übertagen, die Tonbegleitung von der Station «WZSPS». Die Übertragung fand, soweit ich mich erinnere, jeweils zwei Stunden pro Woche statt. Trotz der Unvollkommenheit eines derartigen «Fernsehers», kamen ganze Klassen in den Radio-Klub, um sich die Übertragung anzusehen.

In diesem letzten friedlichen Sommer stellten Simatsch und ich unsere traditionellen Fahrrad-touren in den Wald und nach Eldorado nicht ein. Ich weiß noch, wie auf einer dieser Fahrten, über einen Baumstamm fuhren, der über einen Bach geworfen worden war, welcher in die Zna floss, und ich üøñð auf dem schmalen, rindenlosen Streifen nicht halten konnte. Die Reifen rutschten weg, ein Pedal stieß auf den Baumstamm, das Fahrrad kippte um und ich fiel rücklings in den schlammigen, mit Schilfrohr bewachsenen Bach, und auf mich - mein weit gereistes Radl. Ich kroch voller Schlamm, mit einem blauen Fleck unter dem Auge und einer aufgeschlagenen Lippe heraus. Nur gut, dass Simatsch der einzige Zuschauer war. Nach diesem Vorfall demonstrierte ich mein Können auf dem Fahrrad weitaus vorsichtiger.

In demselben Sommer, vielleicht war es auch in dem Jahr davor, denn Ljowa Petersson war damals noch mit dabei, wurden wir auf dem Weg aus dem Wald von einem schweren Gewitter und heftigem Regen überrascht. Es war später Abend. Der Weg führte über offenes Feld. Um uns herum kein einziger Baum, kein Strauch. Die im Nu durchnässte Kleidung klebte unangenehm am Körper. Matschklumpen spritzten von den Reifen auf unsere Rücken. Es war kalt. Und bis nach Hause waren es auf der von strömenden Wassermassen überfluteten Straße noch mehrere Kilometer. Nach einem besonders grellen Blitz und einem Donnerschlag, der den Himmel förmlich spaltete, erinnerten sich einige von uns daran, dass die bei Bewegung entstehenden Luftströmungen nicht nur Kugelblitze mit sich reißen. Hier waren auch noch die Fahrräder aus Metall. Heute hat man, wenn man in der warmen, gemütlichen Wohnung eines mehrgeschossigen, von Blitzableitern geschützten Hauses sitzt, gut lachen über die durch ein Gewitter generierten Urängste. Aber damals, mitten in der Nacht, unter freiem Himmel, der ganze Ströme kalten Wassers über unseren Köpfen ausschüttete, mit Blitzen, die den schwarzen Himmel zerrissen und unseren vor Angst zusammengepressten Gemütern, war uns nicht danach, die wütenden Elemente zu bewundern. Als wir einen kleinen See entdeckten, ließen wir unsere Räder zu Boden fallen und rannten in gebeugter Haltung dorthin. Wir rissen uns die durchweichten und schmutzigen Kleidungsstücke vom Leib, versteckten sie aus irgendeinem Grund in den Büschen am Ufer und gingen ins Wasser. Und schon ragten nur noch drei Köpfe mit klappernden Zähnen über der Wasseroberfläche hervor.

Donner und Wolkenbruch endeten genau so plötzlich wie sie eingesetzt hatten. Es war bereits Mitternacht, als wir nass, dreckig und zitternd, die Brücke passierten und in die Stadt hineinfuhren. Am nächsten wohnte Ljowa, wohin wir auch den Lauf unserer Reifen lenkten. Hier probierte ich zum ersten Mal in meinem Leben Wodka, den seine Mutter uns vorsorglich zu trinken zwang. Zu Hause tauchte ich erst gegen 1 Uhr in der Nacht auf. Auf der Straße kam mir Petja entgegen, den meine Mutter nach etlichen Überredungsversuchen und unter Tränen losgeschickt hatte, um das vermisste Kind zu suchen. Nachdem er mich gesehen und irgendetwas wenig Schmeichelhaftes über unsere Familie geknurrt hatte, begab er sich, ohne ein einziges Wort zu mir zu sagen, in sein Zimmer, wobei er die Tür heftig hinter sich zuschlug. Ich selbst, durchgewärmt vom Alkohol, benahm mich recht beherzt, wenn nicht sogar frech. Nachdem Mama meine Fahne gerochen hatte, geriet sie in Verzweiflung: «Robotschka, du bist ja betrunken», konnte sie gerade noch hervorbringen, während ihre Augen sich mit Tränen füllten. Später musste ich mich erbrechen, und ich fühlte mich sehr schlecht. Das zweite Mal sollte ich erst elf Jahre später wieder einen Becher Wodka trinken, als ich das Lager verließ.

Nach dem Schulabschluss plante ich mich beim Institut für Kommunikation an der Fakultät für Radiotechnik einzuschreiben. Dich wir hatten kein Geld für die Fahrt nach Moskau und schon gar nicht, um dort zu leben. Ich musste an die Fakultät für Mathematik und Physik am Tambowsker pädagogischen Institut. Es lag am hochgelegenen Ufer der Zna, an einem recht malerischen Ort. Das aus Ziegelsteinen erbaute, zweigeschossige Gebäude eines ehemaligen Gymnasiums. Vor dem Institutsgebäude eine kleine Parkanlage, und dahinter die Zna. Ans Institut gelangte ich ohne große Schwierigkeiten und studierte in der mir vom Schicksal zugewiesenen Zeit nicht nur Mathematik und Physik recht gut.

Die Lehrstunden am Institut begannen erwartungsgemäß am 1. September. Die Vorlesung über mathematische Analyse hielt der Dozent Sergej Sergejewitsch Treskin, ein hagerer und sehr beweglicher Mann mit feinen Gesichtszügen und kreischender Stimme. Wenn er vom Pult das Verhalten der Funktionen darstellte, setzte er sich mal hin, mal stellte er sich auf die Zehenspitzen. Er manipulierte seine Stimme, ließ sie flüsternd und ging dann zu einem Schrei über, vor dem das gesamte Auditorium erschauderte und diejenigen, die eingedöst waren, von ihren Sitzen aufsprangen. Im Großen und Ganzen war er nach meinem heutigen Verständnis ein guter Mathematiker und Lehrer. Die Vorlesungen in höherer Algebra hielt der Dozent Medwedjew. Seinen Vor- und Vatersnamen erinnere ich nicht mehr, aber ich weiß noch, dass er die Lektionen klar und verständlich abhielt, wo bei er in sehr akkurater und rationaler Weise die Tafel benutzte. Es war sehr einfach, sich Notizen dazu zu machen, und dafür vergaben ihm die Studenten seine häufigen Auftritte in betrunkenem Zustand, zumal dies so gut wie keinen Einfluss auf die Vorlesungen hatte. Reduziert war nur der nutzbare Teil der Tafel, denn mit der linken Hand hielt er sich krampfhaft an ihrem linken Rand fest. Es kam vor, dass er zu Beginn der Lektion überhaupt nicht erschien, und dann begaben sich die Studenten, die Verwaltung umgehend, zu ihm nach Hause, da er zum Glück ganz in der Nähe wohnte.

Die Vorlesungen für analytische Geometrie hielt der Dozent Korenjew, und das tat er mit grauer, ausdrucksloser, matter Stimme. Einen solchen Eindruck hinterließ bei mir auch die analytische Geometrie selbst. Allgemeine Physik unterrichtete der Dekan der Fakultät, Dozent Artjomenko. Ein großer Mann mit grauem Haarschopf und erstaunlich dünnen Lippen. In welchem Bereich sich seine wissenschaftlichen Interessen bewegten, weiß ich nicht, aber ich erinnere mich, dass er auf einer der wissenschaftlichen Konferenzen einen Vortrag hielt, in dem er versuchte, den Erdmagnetismus mit dem Vorhandensein elektrischer Ströme in den oberen Schichten der Ionosphäre zu begründen.

Eine große Rolle in meiner mathematischen Entwicklung während des ersten Ausbildungsjahres am Institut spielte Assistent Markow, der bei uns den praktischen Unterricht in mathematischer Analyse führte. Ab dem zweiten Semester fing er an sich mit mir individuell zu befassen. Markow bereitete sich auf Prüfungen vor und wollte einerseits das Gespräch in deutscher Sprache trainieren, andererseits – ein Objekt finden, dem man den Inhalt der durchgenommenen Kapitel des Lehrbuchs erzählen könnte. Ich erinnere mich, wie ich stundenlang seine Beweisführungen für Fredholms Theoreme aus der Theorie der Integralgleichungen anhören musste. Oft zog sich der Unterricht bis spätabends in die Länge, so dass Mama, die mich in solchen Fällen am Eingang seines Hauses abholte, sich schon Sorgen machte. Mein Interesse für die Philosophie erlosch nicht. Ich ging bei Weitem über das eigentliche Programm hinaus und las Utopisten, Sozialisten, revolutionäre Demokraten und Altmeister des wissenschaftlichen Kommunismus. Von Lenins Werken las ich, ebenfalls voraneilend, den «Materialismus und Empiriokritizismus». Dieses Werk sollten wir entsprechend dem Programm im zweiten Kurs lesen. Ich muss gestehen – es gefiel mir nicht. Es gab darin zu viel unbegründete Kritik, die oft in Geschimpfe überging. Es war schwer zu begreifen, worin die zu kritisierenden Theorien eigentlich bestanden. Danach begann ich etwas aus den Werken von Bogdanow, Walentinow, Juschkewitsch und anderen Philosophen herauszusuchen, die von Lenin beschimpft worden waren. In den Bibliotheken danach zu suchen, war nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich, denn all diese Bücher waren längst verboten und aus allen Büchereien konfisziert worden. Ich wendete mich an einen bekannten, alten Antiquar. Doch der konnte mir nur den «Psychophysischen Monismus» ohne Umschlag und Titelblatt beschaffen, in dem der Nachname des Autors in allen Autorenlisten sorgfältig herausgeschnitten worden war. Später besorgte ich einige Arbeiten von Fichte, Schelling, Schopenhauer über ihn und las sie.

Mitgerissen von der Philosophie kam ich so auch nicht dazu Lenins andere Werke zu lesen. Für den Hauptschuldigen aller Übel und Ungerechtigkeiten hielt ich Stalin, den ich hasste. Die landesweite Liebe und grenzenlose Ergebenheit gegenüber dem Führer, Gedichte und Lieder, in denen seine unzähligen Tugenden und Weisheiten gepriesen wurden, entmutigten mich.

Meine Angelegenheiten am Institut verliefen äußerst erfolgreich. Neben den gewöhnlichen akademischen Unterrichtsstunden nahm ich an der Arbeit des Mathematik-Kreises, der von eben jenem Markow geleitet wurde, sowie im physikalischen Laboratorium bei Artjomenko und einem astronomischen Kurs teil. Initiator der Gründung des letztgenannten war der Student Schaposchnikow, der sich schon seit er die Schulbank gedrückt hatte ernsthaft mit der Frage der kleinen Planeten beschäftigt hatte und einen Vortrag über die allrussische Konferenz der Astronomie-Liebhaber gehalten hatte. Auf dem Dachboden des Hauptgebäudes hatte er mit Hilfe einiger weiterer Enthusiasten, zu denen auch ich gehörte, einen Beobachtungsplatz eingerichtet. Dort stellten wir ein altertümliches «Teleskop» auf, mit dem unser junger Kursleiter sehr zufrieden war. Heute schäme ich mich zu gestehen, dass wir das Teleskop (ich vermute, dass es ein ausreichend scharfes Fernrohr war), wenn Schaposchnikow abwesend war, oft zur Beobachtung von Pärchen, die sich am linken Ufer der Zna befanden, und weiter entfernte Objekte am Waldrand benutzten. Freilich war das von uns nicht sehr anständig.

Als gemeinnützige Arbeit, zu der damals jeder Student verpflichtet wurde, wurde mir die Bedienung des Instituts-Radiozentrums zugeschrieben. Wie schon in der Schule, drehte ich die Schallplatten auf den wöchentlich stattfindenden Abenden. Jeder dieser Abende sollten einen positiven Hauptteil beinhalten: irgendein Vortrag über ein politisches oder kulturelles Thema oder ein Amateur-Auftritt. Tanzen war nur im Anschluss daran erlaubt, zeitlich aber sehr begrenzt. Das Tanz-Repertoire wurde vom Komitee der Allrussischen Leninistisch Kommunistischen Jugend-Organisation abgestimmt und bestätigt. Wegen des Abspielens einer Schallplatte mit schädlicher bürgerlicher Musik konnte einem lediglich ein Verweis erteilt werden. Ein Komsomolzen-Sondertrupp achtete auf Anstand beim Tanzen. Studenten, die sich nach Meinung der Komitees-Angehörigen irgendeinen Affentanz erlaubten und solche, die unverhältnismäßig nahe beieinander tanzten, wurden einfach vom Abend ausgeschlossen. Davon, dass man das Licht dimmen könnte, um eine intimere Atmosphäre zu schaffen, konnte keine Rede sein. Allerdings muss man anmerken, dass sich die Studenten selbst gegenüber einer derartigen moralischen Zensur recht gelassen verhielten. Wenn jemand versuchte sich dagegen aufzulehnen, und es gab solche Leute, dann wurden sie auf den Sitzungen des Komsomol-Büros schnell wieder beruhigt.

Ich war nie Teilnehmer irgendwelcher politischen Jugend-Organisationen. Ich war weder Pionier noch Komsomolze. Auf den Versammlungen hielt ich mich nur bei absoluter Notwendigkeit auf und hielt selbstverständlich nie eine Rede. Eine andere Sache waren die Seminare zur Parteigeschichte. Sie wurden geleitet vom Lektor und Dozenten Filin. Hier war ich recht aktiv, besonders wenn es sich um Fragen philosophischen Charakters handelte. Filin stimulierte die Diskussionen auf jegliche Art und Weise, was für die damalige Zeit, wie ich es heute verstehe, äußerst ungewöhnlich und sogar riskant war. Auf dem Höhepunkt entstandener Streitgespräche überschritt ich, wie die weitere Entwicklung der Ereignisse zeigen sollte, gelegentlich die bei politischen Diskussionen zulässige Grenze. Ich bin weit von dem Gedanken entfernt, dass es sich dabei um eine speziell ausgearbeitete Provokation handelte. Dafür war ich eine viel zu kleine und unbedeutende Gestalt. Doch irgendjemand fixierte die Angelegenheit und machte dort Meldung, wo es geboten war. Davon war ich während der Ermittlung überzeugt. Und später, als ich bereits Dekan war, erfuhr ich, dass sogar zurzeit Breschnjews jede Studiengruppe des KGB ihre eigenen Informanten besaß. Und obwohl ich nach meiner Rehabilitation die Möglichkeit hatte, herauszufinden, wer mich «verpfiffen» hatte, beschäftigte ich mich nicht damit. Widerlich! Besonders wenn sich herausgestellt hätte, dass es einer meiner Kameraden gewesen war. Kameraden! Im Institut hatte ich nur wenige davon, und unter ihnen gab es keinen einzigen echten Freund. Von einigen weiß ich noch die Nachnamen. Selten die Vor- und Zunamen. Den riesigen Batzen, den ich im Lager erlebt habe, hat einen Großteil meiner Vergangenheit überschattet. Isvjekow – irgendein Komsomol-Aktivist in der Fakultät oder in der Gruppe. Seine Freundin Inessa. Saschin – groß, schwarzhaarig, mit schönen schneeweißen Zähnen, der Sohn eines Geistlichen, Nina Petschonkina – die ständig mit den Jungs kokettierte, Boschew – hochgewachsen, muskulös, kräftig, der von der Ost-Chinesischen Eisenbahn nach Tambow gekommen war. Er spielte in unserem Schulorchester auf einem großen Kupferrohr. Seine linke Hand war beschädigt und verkümmert. Aber er schlug sich verwegen. Sich links mit dem Rohr verdeckend, produzierte er mit der rechten Hand exakte und kräftige Schläge.

Was mich ihm nähergebracht hat, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall waren es weder die Mathematik noch die Astronomie oder der Rundfunk, nicht einmal die Politik war dafür der Grund. Und auch nicht die Liebe. Mir gefiel ein anderes Mädchen – die Studentin unserer Gruppe Rita Konjuchowa. Sie war hübsch und nicht dumm. Alle meine Freunde erkannten das, und nach ihrem Verhalten zu urteilen, war sie sich dessen ebenfalls bewusst. Zumindest besaß sie innerhalb des männlichen Teils unserer Studentenschaft mehr als genug Anhänger. Nicht zum ersten Mal begeisterte ich mir für ein Mädchen, das für mich eindeutig nicht zugänglich war. Daher liebte ich sie auf Entfernung. Ich vermied den direkten Kontakt und jegliches Flirten mit ihr, weil ich Angst hatte mich lächerlich zu machen. Sehr stark irritierte mich der rätselhafte Blick ihrer grauen, orientalisch geschnittenen, aufmerksamen und ruhigen Augen. Ihr widmete ich Gedichte, von denen ich die gelungensten unbemerkt in die Mitschriften der Vorlesungen legte. Ich wurde erst mutig, als unsere Meinungen in den Diskussionen aufeinanderstießen. In der Regel gewann ich dabei ohne große Mühe die Oberhand. Und dann verdunkelten sich ihre Augen und ihre Stimme wurde gedämpft. Und in diesem Augenblich brach, wie es mir schien, die Schranke zwischen uns zusammen.

Unsere Runde ging ins Kino. Für gewöhnlich war es das von den Studenten geliebte Miniatur-Kinotheater «Modern». Dort gab es ein kleines gemütliches Foyer, und es wurde Jazz gespielt. Sängerinnen und Sänger traten auf. Sie sangen gut, aber nach den damals existierenden Regeln äußerst akademisch, indem sie beinahe reglos und feierlich dastanden, in strengen Anzügen und Kleidern. Außer vielleicht ein kleines Dekolleté und unbedeckte Arme. Das Einzige, was eine Sängerin sich erlauben durfte, warn Bewegungen mit den Armen. Im Foyer, das mit grünem und blauem Samt besetzt war, standen Schach-Tischchen, und manchmal gingen wir dorthin, um ein wenig zu spielen und die Musik zu hören.

Mit der gesamten Truppe gingen wir auch in den städtischen Park. Er lag am Ufer der Zna und man gelangte in Abstufungen hinunter. Auf dem untersten Absatz befand sich eine Tanzfläche, die von einem Weidezaun eingegrenzt war. Der Zugang war kostenpflichtig. Am Eingang, neben dem Kontrolleur, eine Patrouille. Die Radiostation ein wenig höher, in einem kleinen Haus, in dem in diesen Jahren Simatsch schaltete und waltete. Wenn wir in den Park gingen, trennte ich mich für gewöhnlich von den anderen und gesellte mich zu Simatsch. Die anderen gingen tanzen. Aus irgendeinem Grund gab es im letzten Sommer vor dem Krieg eine Menge Soldaten in Tambow, Schüler irgendwelcher Offiziersschulen und -Lehreinrichtungen. Welche genau weiß ich nicht mehr, aber eine davon war eine Fliegerschule. Abends gingen Patrouillen durch die Parkalleen, aber trotzdem kam es häufig zu Prügeleien zwischen den Vertretern der unterschiedlichen Truppenarten. Die meisten von ihnen begannen auf der Tanzfläche. Begonnen wurden sie in der Regel von den Piloten. Die Nachricht darüber, dass «unsere sich prügeln», verbreitete sich im Park in Windeseile, und dutzende Füße strebten im Nu zum Tanzplatz. Am Eingang bildeten sich zwei Ströme. Auf der einen Seite versuchten die Mädchen und ihre zivilen Kavaliere aus der Falle zu entkommen, von der anderen kamen die Vertreter des Militärs der gegnerischen Parteien, um den „Ihren“ zur Hilfe zu eilen. Es war klar, dass der leichte Weidezaun, der die Tanzfläche umgab, und der für die zivilen «Hasen» gedacht war, die aufflammenden Leidenschaften nicht lange halten konnte. Zerstört und umgerissen wurde alles -–bis hin zu den Stützpfosten. Später löste sich die allgemeine Prügelei in kleinere lokale Gruppen auf und verteilte sich in den dunkleren Ecken des Parks. Zu der Zeit, als zusätzliche Trupps der Miliz auftauchten, schien bereits alles «in Ordnung» zu sein, bis auf ein paar verletzte Zivilisten und die zerstörte Tanzfläche.

In diesem Zeitraum lernte ich eine Studentin der literarischen Fakultät namens Faina kennen. Zwischen uns war nichts Besonderes. Mit Ausnahme des gemeinsamen Interesses zur Poesie. Denn ich liebte ja Rita Konjuchowa, während ich Faina als Gegengewicht brauchte. Mehrere Male gingen wir ins Kino und den Stadtpark. Und da sah ich sie plötzlich, als ich am Abend den Platz überquerte, der zum Institut führte, auf einer Bank sitzen, als sie gerade irgendeinen Piloten umarmte. Und dabei war er zehn Jahre älter als sie. Gerade dieser Altersunterschied verblüffte mich ganz besonders. Als wir uns am nächsten Tag trafen, überreichte ich ihr einen Zettel und ging. Auf dem Zettel stand ein vierzeiliges Gedicht:

So tief fallen, so tief sinken,
Ein Chaos von Gefühlen tropfenweise verteilen,
Brocken von Gedankenfetzen, - dieser Abend
Nein, der Verstand kann es nicht rechtfertigen.

Dieser Fall ist mir nicht deswegen in Erinnerung geblieben, weil ich mich durch Fainas Verhalten verletzt fühlte, sondern die Konsequenzen, die er für mich mit sich brachte. Eine der Teilnehmerinnen aus Fainas Kurs, die sich für die Verteidigung ihrer Freundin einsetzte, beschwerte sich beim Komsomol-Komitee darüber, dass ich angeblich mit meinem Vierzeiler Faina beleidigt hätte, denn der Pilot war, wie sie bestätigen konnte, ihr Bruder. Und obwohl ich nie Pionier oder Komsomolze gewesen war, bestellte man mich zur Sitzung des Komitees der allrussischen Leninistischen Kommunistischen Jugend-Organisation.

Ein kleiner Raum, dunkelrote Banner aus Samt, die Portraits der Führer und ungefähr ein Dutzend junge und schon so strenge Mädchenè mit widerlich zusammengepressten Lippen. Ich geriet zum ersten Mal vor ein derartiges Gericht und war verwundert darüber, mit welcher Leidenschaft und, wie mir schien, mit welchem Vergnügen, die weiblichen Komitee-Angehörigen mit ihren roten Schals, dem Komsomolzen-Abzeichen an den sich vor Empörung hebenden Brüsten, von Faina ermittelten, in welcher Beziehung sie zu dem Piloten stand.

Mich klagten sie an, dass ich angeblich mit meinem vierzeiligen Vers die Ehre eines sowjetischen Offiziers beleidigt hätte, weil ich ihm Gedanken zuschrieb, die für unser Militär nicht charakteristisch sind. Ich meinerseits versuchte herauszufinden, welche Gedankengänge sie zu einer derartigen Schlussfolgerung geführt hatten. Erst nachdem ich das Gedicht vollständig laut vorgelesen hatte, ließen mich die Mädchen, von denen die meisten Studentinnen der literarischen Fakultät waren, mich endlich gehen.

Bis zum Kriegsbeginn waren es nun nicht einmal mehr zwei Monate.

 

Inhaltsverzeichnis


Zum Seitenanfang