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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Teil I. Sorgenvolle Jugend

Kapitel 7. Krieg

22. Juni 1941! In wie vielen Romanen und Geschichten, Erzählungen und Gedichten sind dieser Tag und die mit ihm verbundenen Erlebnisse der Menschen beschrieben! Und welche Erinnerungen habe ich daran? Wer hat mir zuerst diese schreckliche Nachricht überbracht? Der schwarze Teller des Lautsprechers oder einer von den Nachbarsjungen? Was habe ich in dem Augenblick gemacht, als das schreckliche Wort «Krieg» in mein Bewusstsein drang? Wie habe ich diese Nachricht aufgenommen? Welche Gefühle erfassten mich in dem Moment?

In meiner Erinnerung befinden sich zahlreiche Ereignisse, teilweise unbedeutende, die aus unbekanntem Grund in meinem Unterbewusstsein hinterlegt sind. Und dieser Tag!? Man sollte meinen, dass ich mich daran bis in die kleinsten Einzelheiten erinnern würde. Schließlich erinnere ich mich auch noch an einige Episoden aus meiner frühen Kindheit. Und hier geschieht nun etwas, was das ganze Land erschüttert, und ich bin nicht fünf oder sieben, sondern neunzehn Jahre alt. Aber so viel ich in den Ecken der alten Erinnerung auch stöbere, ich find nichts darin. Und wenn manchmal ein vages Bild erscheint, dann begreife ich, darüber nachdenkend, dass es nichts Persönliches mit mir zu tun hat, dass ich darüber irgendwo gelesen oder gehört habe. In der Vielfalt der Bilder und Ideen, die aus der Fiktion und der historischen Literatur geschöpft wurden, sind meine persönlichen Empfindungen, Gefühle und Gedanken, die mit den ersten Tagen des Krieges zusammenhängen, hoffnungslos verlorengegangen.

Und die Ereignisse entwickelten sich rasant und keineswegs so, wie wir alle erhofft hatten. Die Truppen zogen sich derart schnell zurück, dass es wie Flucht aussah. Alle erwarteten einen Auftritt Stalins, doch er schwieg. Erst am 3. Juli hörten wir seine Ansprache: «Brüder und Schwestern...». Zum ersten Mal sprach er, wie es mir schien, in einer menschlichen Art und Weise, indem er sich an die Bürger seines Landes wie an seinesgleichen wandte. Und in diesem Moment, als ich ihn hörte, war ich bereit vieles zu verstehen und zu verzeihen.

Schon bald erhielt ich meinen Einberufungsbescheid und begab mich zur Einberufungsstelle. Sie lag in der ehemaligen Kirche hinter dem Hauptpostamt, in dem einst Lalja gearbeitet hatte. Vor der Kirche der Kirchplatz. In vorrevolutionären Zeiten war er an den Tagen, an denen Gottesdienste abgehalten wurden, wie sich die alten Leute erinnerten, voller frommer Stadtbewohner gewesen. In Sowjetzeiten, nach der Schließung der Kirche, verödete der Platz. Höchstens ein seltener Passant durchschritt ihn auf dem Weg zur Post oder zur Malariastation. Nun war der Platz wieder voll. Menschen drängten sich darauf: Männer, Frauen, irgendwelche Kinder. Doch vor allem waren es Jugendliche. Einige bereits geschoren und mit Kleiderbündeln. Man sieht Autos, Fuhrwerke.

In der Kirche selbst – noch mehr Menschen. Vor allem Soldaten und Einberufene. In der Mitte, wo sich einst der Altar befand, eine Karte mit roten Fähnchen. In den Ecken, unter den Ikonen der Heiligen, Tische. An den Tischen Militärs mit roten Armbinden. Unter den widerhallenden Gewölben der Kirche gleichförmiges Stimmengewirr. Von der Kanzel aus ruft ein schnurrbärtiger Feldwebel mit heiserer Stimme die Listen der zu formierenden Einheiten aus. Mit Mühe fand ich den Tisch, der für mich nötig war. Ich gab meinen Einberufungsbefehl ab. Das war‘s! Jetzt brauchte ich nur noch auf den Aufruf warten. Früher hatte ich stets auf Hilfe in Form von Paketsendungen von Verwandten und Nahestehenden zählen können, zumindest aber auf moralische Unterstützung. Jetzt stand ich mit meinem unerbittlichen Schicksal vollkommen allein da. Alles um mich herum voller Menschen, aber kein einziges bekanntes Gesicht. Jeder konzentriert sich auf seine eigenen Probleme. Niemand schert sich um mich, meine Gefühle und das, was ich gerade durchlebe. Ein heftiges Gefühl der Einsamkeit, der Einsamkeit in der Öffentlichkeit, überfiel mich zum ersten Mal. Auch später überkam es mich nicht nur einmal. Das Leben riss gnadenlos die Nabelschnur durch, die mich mit der Vergangenheit, mit meiner Familie, verband.

Die medizinische Kommission. Die lange Reihe entblößter Männer und Jungen bewegte sich nur langsam von Tisch zu Tisch. Hinter den Tischen Soldaten in Uniformen, Ärzte, hauptsächlich Frauen, noch junge Krankenschwestern in weißen Kitteln. Ihre skrupellosen, abschätzenden Blicke, die uns von Kopf bis Fuß musterten, lassen einen erschauern. Und die kurzen, abgehackten Kommandos: «Mund auf», «Zahnfleisch zeigen, «Arme runter», «vorbeugen», «Gesäß auseinander» - zwingen einen dazu, an Sklaven-Handel zu denken. Jemand aus der Reihe versucht Witze zu reißen, doch die überwiegende Mehrheit schweigt und ist bemüht, einen möglichst großen Teil des Körpers mit den Armen zu bedecken. Wie viele Male habe ich später im Gefängnis und im Lager diese Prozedur durchlaufen, oft in einer Art und Weise, die noch viel demütigender und erbarmungsloser war. Aber das war dort, hinter Stacheldraht. Hier, in Freiheit, war es der erste Schlag gegen meine menschliche Würde.

Und dann endlich, kahlgeschoren, mit Kleidersäcken, und ziviler Kleidung und Schuhwerk gehen wir in einer langen grauen Kolonne die Tambower Hauptstraße entlang. Wir gehen, ohne auf den Schritt zu achten. Auf dem Bürgersteig, parallel zu uns, bewegt sich die Menge der Begleitenden. Es ertönen Rufe, letzte Ermahnungen und Wünsche. Manch einer weint, ein anderer versucht auf der Harmonika zu spielen, doch er wird angezischt – er stört die Kommunikation. Im Bereich des Kinotheaters «Avantgarde» bemerke ich Mama, Ernotschka und Lalja. Sie winken. Sie zeigen mir mit den Händen, dass ich schreiben soll. Schließlich biegen wir ab und gehen in Richtung Stadtbrücke. Dann gehen wir über das wohlbekannte Feld, über das wir so viele Male in Richtung Wald gegangen oder gefahren sind. Es herrscht herrliches Wetter. Während wir gehen lernen wir uns kennen. Es macht mehr Freude zu gehen. Bald darauf erfahren wir, dass man uns nach Raskasowo bringt. Das ist ein etwa 30 km langer Fußweg, hauptsächlich durch den Wald. Nachdem wir ungefähr die Hälfte geschafft haben, machen wir in einem kleinen Dörfchen halt für die Nacht. Nachdem wir die Trockenrationen mit mitgebrachten Lebensmitteln von Zuhause ergänzt haben, verzehren wir sie – manche allein, andere in Gesellschaft. Wir schlafen in den uns zugewiesenen Hütten auf Matten. Die Besitzer sind nicht sehr gastfreundlich. Sie schreien ihre Töchter an, die hinter der Trennwand hervorlugen. Am nächsten Tag treffen wir in Raskasowo ein. Hier wird ein Regiment oder eine Division formiert. Das Städtchen ist klein. Großes Gedränge, Verwirrung. Es ist ein Problem seine Ration zu erhalten. Am zweiten Tag beschlossen ein paar «Waffenbrüder» zusammen mit Mitreisenden – «nach Hause zu entfliehen», um «Proviant aufzutanken» und noch einmal die Angehörigen zu sehen. Am Abend bewegten wir uns zu Fuß nach Tambow. Wir gingen durch den Wald, ohne uns auf die Straße zu begeben, und erahnten nur dunkel die uns drohende Gefahr. Spät in der Nacht trafen wir Zuhause ein. Im Haus herrschte Aufregung. Und sowohl Freude über die unerwartete Begegnung als auch Angst vor der Entdeckung. Petja, der mich als Idiot bezeichnete, verließ das Haus und warnte vorab, dass er es erst wieder betreten werde, wenn ich wieder in Raskasowo sei. Am Morgen buk Mama irgendetwas, und ich machte mich mit den neu gewonnenen Kameraden auf den Rückweg. Das Glück begleitete uns. Nachdem wir wohlbehalten die Kontrollpunkte passiert hatten, trafen wir nach dem Mittagessen, völlig erschöpft, in Raskasowo ein. Die Hausherren, die nichts von unserer Abwesenheit aus der Stadt wussten, teilten wir mit, dass die Kommandantur uns seit dem Morgen suche. Mit zitternden Beinen betrat ich die mir angewiesene Amtsstube. Ein Angehöriger eines hohen militärischen Rangs – mit den Bezeichnungen kannte ich mich damals nicht besonders aus – begegnete mir mit der Frage: «Wie sind Sie hierher geraten?» und verlangte, dass meine Füße innerhalb von 24 Stunden in Raskasowo nicht mehr vorzufinden sein sollten. Gut erinnere ich mich an den Inhalt des mir ausgehändigten und für das Tambowsker Kriegskommissariat bestimmten Dokuments: «Der Kriegsdienstverpflichtete Maier, Robert Adolfowitsch, kehrt zu ihrer weiteren Verfügung zurück, angesichts der Unmöglichkeit, ihn in den von mir formierten Truppenteilen zum Einsatz zu bringen». Und weiter unten – eine umfassende Unterschrift und ein offizielles Siegel. Nicht ohne Grund nahm ich an, dass dies mit meiner Nationalität zusammenhing, und nachdem ich an die Jungs alles, was ich von Zuhause mitgebracht hatte, verteilt hatte, machte ich mich noch an dem Abend, nun schon völlig legal und ohne irgendwelche Durchsuchungen zu fürchten, auf den Weg nach Tambow.

Später gingen Petja und ich noch lange jeden Tag zur Einberufungsstelle. Wir erwarteten unsere Einberufung in die Arbeitsarmee, wohin zu der Zeit bereits Wehrdienstleistende deutscher Nationalität aus der aktiven Armee geschickt worden waren, ebenso wie arbeitsfähige Männer und Frauen aus der Deutschen Wolgarepublik, die älter als 16 Jahre waren. Endlich schickten sie Petja fort, aber mich nicht. Sie sagten, ich solle ich ans Institut gehen und lernen sollte, und dass sie mich einberufen würden, wenn dies notwendig sei.

Es begannen die Alltagsabläufe zu Kriegszeiten: der Erhalt von Lebensmittelkarten, das Stehen in der Schlange, für den Winter die Beschaffung von - nicht Brennholz (für die Mehrheit der Bewohner von Tambow war es nicht zugänglich), sondern Reisig und Tannenzapfen. Die steigenden Preise auf dem Markt zwangen einen dazu, nach einem Zuverdienst zu suchen. Und an der Front lief es grottenschlecht. Die roten Flaggen, die den Standort der Truppen markierten, bewegten sich stetig gen Osten.

In den ersten Tagen des Septembers hörten wir Gerüchte über die Aussiedlung der im Wolgagebiet lebenden Deutschen. Die Gerüchte waren widersprüchlich und kaum zu glauben. Es hieß, dass die faschistischen Truppen in den Gebieten, in denen Russland-Deutsche lebten, Landetruppen abgesetzt hätten, die von der Ortsbevölkerung unterstützt würde, dass die Sowjetische Armee den Verrätern eine Niederlage bereitet hätte und nun alle Sowjet-Deutschen als Spione und Verräter entweder erschossen oder zur Zwangsarbeit nach Sibirien geschickt würden.

Man schenkte den Gerüchten Glauben. Die Landung von Streitkräften war eine Maßnahme, die von der deutschen Armee häufig angewendet wurde. Mit Hilfe derartiger Landetruppen wurde 1940 Norwegen eingenommen. Zweifel ließ in uns lediglich die Behauptung aufkommen, dass die Sowjet-Deutschen die angelandeten Truppen aktiv unterstützten. Denn alle Männer und Frauen älter als 16 Jahre waren in die Trudarmee mobilisiert worden. In den deutschen Ortschaften, ebenso wie in den russischen, waren nur noch alte Menschen und Kinder anzutreffen. Man konnte nicht glauben, dass die fleißigen und häuslichen Kolonisten militärische Objekte sprengten und in Brand steckten, die auf dem Territorium ihrer Republik gelegen waren.

Später erzählten aus Saratow eingetroffene Bekannte hinter vorgehaltener Hand, dass im Wolgagebiet Gerüchte im Umlauf wären, nach denen die Landetruppe eine Lüge war und sie aus verkleideten Rotarmisten bestanden hätte, die den Zweck gehabt hätte, die Loyalität der Kolonisten zu überprüfen und festzustellen, dass die Deutschen sie nicht verrieten. Andere hingegen bestätigten, deutsche Bauern, die Angehörigen der Landetruppe aufgegriffen und sie beinahe mit Mistgabeln erstochen hätten, und dass sie sie die „Landetrupps“ dann den rechtzeitig herbeieilenden NKWD-Trupps übergeben hätten.

Die Gerüchte vermehrten und spalteten sich und nahmen die unglaubwürdigsten Formen an. Wie später bekannt wurde, beruhten sie auf einem Dekret, welches das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR am 28. August 1941 verabschiedet hatte und in dem es um die Umsiedlung der in den Wolga-Rayons lebenden Deutschen ging. Der Beschluss wurde damit begründet, dass es «nach glaubhaften, von den Militärbehörden erhaltenen Angaben, innerhalb der in den Wolgagebieten lebenden deutschen Bevölkerung tausende und abertausende Diversanten und Spione gibt, die, auf ein entsprechendes Signal aus Deutschland hin, in den von Wolgadeutschen besiedelten Regionen Sprengstoffanschläge verüben sollen”. Weiter hieß es in dem Ukas: «Über das Vorhandensein einer derart großen Menge von Diversanten und Spionen unter den Deutschen, die in den Gebieten entlang der Wolga leben, war der Sowjetmacht bislang nichts bekannt. Infolgedessen muss man davon ausgehen, dass die deutsche Bevölkerung an der Wolga in ihrer Mitte Feinde des sowjetischen Volkes und der Sowjetmacht versteckt hält. Für den Fall, dass es zu Diversionsakten kommt, die aufgrund einer entsprechenden Weisung aus Deutschland von deutschen Umstürzlern und Spionen in der Republik der Wolgadeutschen oder den angrenzenden Regionen durchgeführt werden, wird es ein Blutvergießen geben und die sowjetische Führung nach den für Kriegszeiten geltenden Gesetzen gezwungen sein, Strafmaßnahmen gegen die gesamte (von mir hervorgehoben – R.M.) deutsche Bevölkerung in den Wolgagebieten einzuleiten.»

Ferner hieß es in dem Dekret: «Zur Vermeidung solcher unerwünschten Entscheidungen und zur Verhinderung großen Blutvergießens hält das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR es für unerlässlich, die gesamte deutsche Bevölkerung aus den Regionen an der Wolga in andere Gebiete umzusiedeln, mit der Maßgabe, dass den Umsiedlern dort Land zugeteilt und ihnen staatliche Hilfe beim Einrichten ihres neuen Lebensraumes gewährt wird.

Für die Neuansiedlung sind die Regionen Nowosibirsk und Omsk, das Altai-Gebiet, Kasachstan und andere benachbarte Örtlichkeiten vorgesehen, wo reiches Ackerland im Überfluss vorhanden ist. »
«In diesem Zusammenhang, - hieß es in dem Ukas, - ist dem Staatlichen Komitee für Verteidigung der Befehl erteilt worden, die Umsiedlung aller Wolga-Deutschen unverzüglich durchzuführen, den wolgadeutschen Umsiedlern ein Stück Land sowie nutzbaren Ackerboden in den neuen Gebieten zuzuweisen». Das Dekret wurde unterzeichnet vom Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets M. Kalinin und dem Sekretär des Präsidiums A. Gorkin.

Mit diesem Text des Dekrets machte ich mich erst in den Jahren des «Tauwetters» bekannt. Zur Zeit seiner Verabschiedung war es im Wesentlichen geheim, hauptsächlich bestimmt für seine Vollstrecker; in der öffentlichen Presse wurde es nicht publiziert. Deswegen wussten wir damals nur von der Existenz dieses Dekrets und von den Folgen seiner Verwirklichung. Und hier war vieles sehr frappierend. Sie siedelten aus rein nationalen Beweggründen aus, sie siedelten ausnahmslos alle aus – vom eben erst geborenen Säugling bis hin zu bereits an Altersschwäche sterbenden Menschen. Ausnahmen wurden nur im Hinblick auf Familien zugelassen, deren Oberhäupter Russen waren. Zum Packen gaben sie uns 24 Stunden Zeit. Verschickt wurden wir in Güterwaggons (Kälber-Wagen) unter verschärfter Bewachung. Mitnehmen durften wir nicht mehr als 50 kg persönlichen Besitzes pro Person. Überflüssige Dinge nahmen die Wachsoldaten sofort an den Waggons weg. Wohin sie uns brachten, warum und für wie lange teilten sie uns nicht mit. Und vor uns lag der Winter, und auf den Armen trugen die völlig verängstigten Mütter ihre Säuglinge. Unterwegs wurden die Umsiedler verpflegt und bewacht wie Gefangene. Bei der Ankunft an den Bestimmungsorten war man bemüht die Leute in kleinen Gruppen auf die Dörfer zu verteilen. Ortsansässige Kolchosbauern fuhren die gequälten, erschöpften Menschen in ihre Dörfer. Was für Deutsche man ihnen geschickt hatte – das wusste niemand, aber die Jungs schrien: «Faschisten haben sie hergebracht, Faschisten!».

Wie jetzt bekannt wurde, wurden insgesamt aus der Deutschen Wolgarepublik und dem Gebiet Saratow 423000 Menschen (93000 Familien) ausgesiedelt. Von ihnen gelangten in die Region Krasnojarsk - etwa 75000, in s Altai-Gebiet – ungefähr 95000, ins Gebiet Omsk – 85000, ins Gebiet Nowosibirsk – 100000, nach Kasachstan - 125000. Für die Durchführung der Operation wurden 1450 NKWD-Mitarbeiter, 3000 Mitarbeiter der Miliz und 9650 Rotarmisten eingesetzt.

Die wohlgeordneten und gepflegten deutschen Dörfer und Ortschaften des Wolgagebiets verödeten. In den Ställen brüllten die nicht gemolkenen Kühe, blökten die nicht gefütterten Schafe, und in den Nächten heulten die Hunde aus Sehnsucht nach ihren Herren. Ein paar Tage später strömten Massen von Flüchtlingen aus dem Westen in diese Ortschaften. Wir sie war hier alles fremd. Sie brauchten etwas zu essen, etwas, womit sie die Öfen heizen konnten. Und so holzten sie die Gärten ab, schlachteten das Vieh, entwendeten den Hausrat, und die Felder wurden von Unkraut überwuchert. Die Republik der Wolgadeutschen hatte aufgehört zu existieren.

Um den Zweck meiner Geschichte zu erfüllen, ist es notwendig, das Schicksal der Deutschen zu verfolgen, die nach dem Willen des Schicksals in die Region Krasnojarsk gerieten. Viele von ihnen wurden 1942, zwischen Juni und September, unter Wachbegleitung in den Jenisseisker Norden fortgebracht. Man transportierte sie in den Frachträumen und an Deck von Leichtern und Lastkähnen, in schrecklicher Enge und unter unhygienischen Bedingungen. Sie transportierten Frauen, Kinder und alte Leute ab. Die Männer befanden sich in der Arbeitsarmee. An den öden, oft menschenleeren Ufern des Jenisseis, auf Inseln, setzte man sie ab. Hier mussten die Ausgesiedelten buchstäblich wieder von Null anfangen, mit bloßen Händen, an einem Ort, an dem es nichts gab. Sie hausten in Erd-Hütten und Verschlägen, Schuppen und Zelten, auf Dachböden und Speichern, ohne warme Kleidung und Schuhwerk, zum Verhungern verurteilt, ohne Licht, Wärme, medizinische Betreuung, in vollständiger Isolation von ihren Angehörigen, von der Welt, ohne Radios, Zeitungen oder Bücher. Alle, Groß und Klein, befanden sich unter der Aufsicht der NKWD-Kommandantur. Viele konnten kein Russisch, und es war ihnen verboten, in ihrer Muttersprache zu kommunizieren. Die Deutschen, die überwiegend an landwirtschaftliche Arbeiten gewöhnt waren, waren nun, um zu überleben, gezwungen, Erd-Hütten zu bauen, Brennholz zu beschaffen, Fische zu fangen und zu verarbeiten. Der Strudel der Ereignisse jener Tage alle Brüder und Schwesternmeines Vaters mit sich fort, die bis dahin überlebt hatten. Sie alle wurden in die entlegensten Orte des Nowosibirsker Gebiets geschickt und kamen dort ums Leben.

Der Aussiedlungsprozess der Deutschen aus dem Wolgagebiet wurde in den Masseninformationsmitteln nicht erwähnt. Im Netzwerk der politischen Bildung wurde es auf keiner Ebene diskutiert. Schließlich waren Menschen, die dieser Prozess nicht betraf, unter den Bedingungen des schrecklichen Kriegs dazu auch einfach nicht in der Lage. Die wahren Motive für die getroffene Entscheidung lassen sich nur erraten. Sie lagen wohl kaum in der Furcht vor einer Wiederholung der Ereignisse begründet, die in Österreich und dem Sudetenland vorgefallen waren, deren Bevölkerung sich bei der Durchführung des Plebiszits für einen Zusammenschluss mit Deutschland ausgesprochen hatte. Ebenso fällt es schwer zu mutmaßen, dass die Urheber des Dekrets tatsächlich daran glaubten, dass die Republik der Wolgadeutschen von tausenden Spionen und Saboteuren überflutet sei. Unter den Bedingungen einer totalen Bespitzelung und der Massenrepressionen war das im Prinzip überhaupt nicht möglich, und schon gar nicht nach der Mobilisierung der gesamten arbeitsfähigen deutschen Bevölkerung in die Arbeitsarmee, Männer, ebenso wie Frauen, die älter als 16 Jahre alt waren. Dass die pauschalen Anschuldigungen, die mit dem Ukas vom 28.8.1941 gegen die an der Wolga lebenden Personen deutscher Nationalität erhoben wurden, unbegründet waren, wurde durch ein Sonderdekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28.08.1964 «Über Änderungen des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28.08.1941 «Über die Aussiedlung der in den Wolga-Rayons lebenden Deutschen»« zugegeben.

Es stimmt, dass nicht nur Deutsche ausgesiedelt und in die Trudarmee geschickt wurden, aber sie hatten es schwerer als Personen anderer Nationalitäten, man verhielt sich ihnen gegenüber anders, vor allem seitens der Menschen, die an der Front Verwandte und Nahestehende verloren hatten. Viele hielten die Sowjetdeutschen für Helfershelfer der Faschisten. Die Feindseligkeit wurde noch verstärkt durch die Massenagitation und durch Artikel I. Ehrenburgs, von denen einer, veröffentlicht in der «Prawda», unmittelbar dazu aufrief: «Töte den Deutschen!». Nicht den Faschisten, sondern den Deutschen!

Am 19. Mai 1942 erging ein zusätzliches Dekret über die Umbenennung der Bezirke und Ortschaften der Deutschen Republik. Die Vergangenheit wurde weggekratzt, ausgelöscht. Über die Ortsbezeichnungen wurde nicht groß nachgedacht: das ehemalige Priwalnaja wurde zu Priwolnoje, Potschinnaja zu Podtschinnaja. Aus Balzer wurde Krasnoarmejsk, Gnadenflur verwandelte sich in Pjerwomajsk, Eckheim in Komsomolskoje usw. In den Bibliotheken wurde alles vernichte, was in deutscher Sprache erschienen war: Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Karten, Alben u.a. Im Feuer wurden einzigartige Ausgaben des XVIII. – XIX.
Jahrhunderts vernichtet. Es gab keine Gnade.

Verständlicher Weise erwartete unsere Familie unter diesen Bedingungen täglich die Aussiedlung. Und obwohl schon bald bekannt wurde, dass aus Tambow und dem Tambowsker Gebiet, wo es fast keine Deutschen gab, keine Aussiedlung erfolgen würde, war die Stimmung äußerst schlecht.

Am ersten September, mit Beginn der ersten Unterrichtsstunde, schickte man uns, die Studenten der Physik und Mathematik, in eine der nahegelegenen Kolchosen, um bei der Ernte mitzuhelfen. Im Dorf blieben nur die alten Leute und die Kinder zurück. Die Mithilfe der Studenten unter solchen Bedingungen war tatsächlich unerlässlich. Doch auch unter uns befanden sich vorwiegend Mädchen, aber sehr wenige Burschen. Sie arbeiteten bei der Getreideernte – vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Einmal in zwei Wochen entließen sie uns planmäßig nach Hause, damit wir uns waschen und umziehen konnten. Eine dieser Reisen habe ich noch in Erinnerung. Wir, Iswjekow mit Inessa, Boschew mit seiner Freundin ich und noch ein weiteres Mädchen von unserer Fakultät, aber nicht aus unserer Gruppe, aus der Stadt auf die Kolchose zurück. An ihren Vor- und Nachnamen kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Wir fuhren am späten Abend und hofften, gegen Morgen an Ort und Stelle zu sein. Wir gingen über ein Feld. Es wurde schnell dunkel. Das Gehen fiel schwer. Wir beschlossen auf den Mondaufgang zu warten. Wir ließen uns an einem großen Heuhaufen nieder und suchten dahinter Schutz vor dem Wind. Wir nahmen einen Imbiss ein. Boschew hatte, wie immer, eine Flasche Wein dabei. Alle, außer mir, tranken. Nachdem Boschew und Iswjekow mich kritisiert hatten, weil ich das Unternehmen nicht unterstützen wollte, verschwanden sie mit ihren Freundinnen irgendwohin – glücklicherweise gab es viele Heuhaufen in der Nähe. Meine Gefährtin und ich blieben zurück. Es war kalt, und ich trug lediglich ein Hemd und fing nun an zu zittern. Sie nahm meine Hände und rief: «Kalt wie Eis, komm her, ich werde sie aufwärmen», und legte sie an ihren Busen. Es entstand eine unangenehme Pause. «Sag ein Gedicht auf; es gefällt mir immer so gut, wie du sie rezitierst», - bat sie, und unterbrach damit das langgezogene Schweigen. Und ich sitze da, in den Heuhaufen gepresst, und sie sitzt fast auf meinem Schoß. Meine Hände sind an ihre warmen, festen Brüste gedrückt. Ich sage Verse auf. Ich spreche hastig, Worte und Speichel hinunterschluckend. Ich sage sie auf und denke dabei an Rita Konjuchowa und an meinen Verrat ihr gegenüber, aber meine Hände herausziehen und die Glückseligkeit unterbrechen kann ich nicht. Es verging nicht weniger als eine halbe Stunde, ehe der Mond aufging und Iswjekow und Boschew auftauchten. Die Teufelei ging zu Ende, wir haben uns nicht einmal geküsst. Später versuchte ich, in meiner Seele stolz auf meine Beherrschung zu sein, aber ich begriff, dass es wohl eher Feigheit war und dass ich das Mädchen möglicherweise mit meinem Verhalten gekränkt hatte.

An der Front standen die Dinge, wie zuvor, ungeachtet vereinzelter erfolgreich durchgeführter Gegenangriffe und dem Massenheroismus der Soldaten, im Großen und Ganzen schlecht.

Mitte September drangen die deutsch-faschistischen Truppen, nachdem sie die Verteidigungslinie am Fluss Luga durchbrochen hatten, nach Leningrad vor und verhängten dort die Blockade. Am 21. September gaben unsere Truppen, nachdem sie umzingelt worden waren, Kiew auf und versuchten sich in Kämpfen nach Charkow durchzuschlagen. Und Ende September, als wir bereits aus der Kolchose zurückgekehrt waren und uns wieder ans Lernen gemacht hatten, begann der Einmarsch der deutsch-faschistischen Heeres-Gruppe «Mitte» auf Moskau. Sie drangen aus den Bezirken südlich von Brjansk und nördlich von Smolensk vor. Als die deutschen Truppen Jelez einnahmen, und damit blieben bis nach Tambow weniger als 200 Kilometer, fingen wir an Lauf- und Schützengräben auszuheben. Jedem Studenten wurde für die Teilnahme am Bau von Befestigungsanlagen für die Verteidigung eine zusätzliche, kostenlose Portion Salamata zugesprochen – ein Brei aus Roggenmehl. In der Stadt selbst, in den Innenhöfen von Institutionen und Privathaushalten, grub man «Spalten» - zum Schutz vor möglichen Bombenangriffen. Auf die Fensterscheiben wurden Papierstreifen geklebt. Die Forderung nach Verdunklung wurde verschärft. Man formierte Trupps, die mit dem Löschen von Brandbomben beauftragt wurden. Die Stadt lebte in sorgenvoller Erwartung.

Anfang Oktober gelangte auf einem mir unbekannten Weg eine für die damalige Zeit einzigartige kalorimetrische Anlage ins Institut. Es gingen Gerüchte, dass sie irrtümlich bei der Evakuierung eines wissenschaftlichen Forschungsinstituts aus Leningrad gekommen war, aber um welches es sich handelte, wusste niemand. Sich den Zufall zunutze machend, richtete Artjomenko an der Fakultät ein Labor für Wärmetechnik ein, um den Heizwert verschiedener lokaler Holz- und Torfarten zu erforschen. Er zog dafür mehrere Studenten mit heran, unter anderem auch mich. Nachdem er alle anderen Dinge verworfen hatte, widmete er sich der neuen Sache mit großer Begeisterung: er zerkleinerte die gelieferten Holzproben, drückte sie mit Hilfe einer Presse zu speziellen Briketts mit darin eingebetteten Nickeldrähten zusammen. Nachdem er alle Komponenten mit einer Apothekenwaage abgewogen hatte, befestigte er die Enden der Drähte an stromleitenden Stäben, die am Deckel eines dickwandigen Stahl-Kalorimeter-Glases (Kalorimeter-Bombe) festgemacht waren, welches von innen, wie es in der Anleitung hieß, mit einer Platinschicht bedeckt war (lag nicht darin die Einzigartigkeit der Installation?). Anschließend, nachdem er eine kleine, genau abgemessene, Menge Wasser eingefüllt hatte, schraubte er die Abdeckung mit einem speziellen Hebel vollständig fest. Dann füllte er die «Bombe» unter Druck mit Sauerstoff, schloss die Zündkabel an und senkte sie vorsichtig, als wäre es ein Kind, in das mit Wasser gefüllte Zylindersystem.

Und dann kam der feierliche Augenblick. Ich sitze in einem hohen Drehstuhl, schaltete das Aufzeichnungsgerät ein, lege die Hand auf den Zündschlüssel. Drehung! Und die Pfeile erzittern, die Federn des Aufzeichnungsgeräts zucken, nachdem sie die Wärmewelle registriert haben, die sich in der Anlage ausbreitet und nun ein Gefäß nach dem anderen erfasst. Und ich im weißen Kittel, neben mir Rita Konjuchowa, die Artjomenko zur Bearbeitung der Materialien hinzugezogen hat. Und in dem Augenblick existierten für mich weder der Krieg noch die Schlangen der Hungernden, weder die nächtlichen Lagerfeuer noch die Erwartung von Bombenangriffen.

Mitte Oktober tauchte am Institut Professor Benjamin Fjodorowitsch Kagan auf, ein bekannter russischer Landvermesser, Spezialist auf dem Gebiet der Geometrie und besonders im Bereich der Geometrie Lobatschewskijs. Er traf als Evakuierter aus Leningrad ein. Hochbetagt, etwas 66-70 Jahre alt. Nicht sehr groß, untersetzt, mit Bart und Schnurrbart, genau wie Tschechow. Die Haare stark ergraut. Die Weste immer sorgfältig zugeknöpft, eine gestreifte Krawatte. Nach Tambow war er entweder zu seiner Tochter oder zu seiner Schwester gekommen. Im Institut hielt er für die Kursälteren Vorlesungen über Differenzialgeometrie und die Grundlagen der Geometrie, und für Lehrer und Aspiranten – einen Kursus über Tensor-Analyse. Er hielt den Kurs über die Grundlagen der Geometrie ohne Eile ab, gemessen, wobei er tiefgehende historische Exkursionen unternahm und sich mit jeder Einzelheit befasste. Ich erinnere mich, wie besorgt ich war, als er, nachdem er die Tafel abgewischt hatte und versuchte, den Lappen auf die nicht vorhandene Kante der Tafel zu legen, diesen auf den Boden fallen ließ. Keiner der Studenten, die in den ersten Reihen saßen, kam ihm zu Hilfe, und er beugte sich mit offenkundiger Mühe hinunter, um ihn aufzuheben. Und das wiederholte sich nicht nur einmal, bis endlich eine Kante angenagelt wurde. Den Kurs in Tensor-Analyse für Lehrer hielt er in ganz anderer Art und Weise ab, indem er die Berechnungen wegließ und sich auf die Anwendungen konzentrierte.

Seit den ersten Tagen meines Eintritts ins Institut hatte ich mich bemüht, keine einzige seiner Vorlesungen zu versäumen, besonders die über Grundlagen-Geometrie. Dafür musste ich einige meiner Unterrichtsstunden, die ich im zweiten Kurs absolvieren sollte, ausfallen lassen. Die Zulassungen zu den mathematischen Kursen sagten mir Adieu. Schlimmer war es um die sozialen und pädagogischen Disziplinen bestellt. Besonders empört waren die Lehrer der sozialen Disziplinen. Öl ins Feuer goss W.F. Kagan. In der zweiten oder dritten Lektion, nachdem er Fragen ans Auditorium gerichtet (das war im vierten Kurs) und von mir korrekte Antworten erhalten hatte, begann er erfolglos im Journal meinen Nachnamen zu suchen, um eine angemessene Note darin zu vermerken. Nachdem er festgestellt hatte, dass ich Student des zweiten Kurses war, unterhielt er sich nach dem Unterricht mit mir und schlug mir vor, an der Arbeit seines Seminars über Tensor-Analyse teilzunehmen. Ich bemühte mich mit ganzer Kraft. Ich gab alle anderen Dinge auf: das Labor für Wärmetechnik, die Astronomie-Plattform, den Radioklub.

Die Abende verbrachte ich bei Benjamin Fjodorowitsch zuhause, wo ich ihm dabei half, Abschriften und irgendwelche Zeichnungen anzufertigen. Mir schein es so, als ob er zufrieden wäre. Jedenfalls gab Benjamin Fjodorowitsch, wie mir Artjomenko erzählte, auf einer der Sitzungen des wissenschaftlichen Rats, als die Sozialwissenschaftler anfingen, sich über meine nachlässige Haltung gegenüber der Geschichte der Partei zu empören, eine Antwort, deren Sinn darin bestand, dass es für mich im zweiten Kurs nichts mehr zu tun gäbe und man mich unverzüglich zu einem individuellen Arbeitsplan versetzen müsse. Das brachte das Fass der Geduld der Sozialwissenschaftler zum Überlaufen, und sie erwirkten in der Entscheidung des Rats einen besonderen Eintrag, der den Dekan dazu zwang, Ordnung herzustellen und durchzusetzen, dass ich keine Vorlesungen ausließ. Als Antwort auf diesen Beschluss las ich künftig während der Vorlesungen zur Geschichte der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) demonstrativ Zeitungen, wobei ich diese in vollem Umfang aufschlug. Auf den Seminaren bemängelte ich jede Ungenauigkeit oder vereinfachte Behandlung einer Frage.
Das zu tun war ziemlich einfach, denn in den Urtexten wurden nur die Werke W.I. Lenins und J. W. Stalins studiert, sowie einige Arbeiten von K. Marx und F. Engels.

Im Oktober wurden die Kriegshandlungen an der Front besonders gewalttätig. Gleichzeitig mit dem Angriff auf Moskau begannen die Deutschen mit dem Einmarsch ins Donez-Becken und auf die Krim, und am 16. Oktober starteten sie eine Offensive in Richtung Tichwin, mit dem Ziel, Leningrad einzuschließen. Doch die Siege wurden für sie immer schwieriger. Nachdem sich unsere Truppen von den ersten Schlägen erholt hatten, leisteten sie immer heftigeren Widerstand. Außerdem wirkte sich die Wirkung eines geheimen Befehls aus, nach dem Strafbataillone und Sperrtrupps eingeführt wurden.

Der Strom der Verwundeten nahm zu. Sämtliche Krankenhäuser in Tambow waren überfüllt. Schon sehr bald wurde auch das Institutsgebäude zum Hospital umfunktioniert, während das Institut selbst in den Räumlichkeiten irgendeines Technikums untergebracht wurde. Ein dreistöckiges Gebäude in der Hauptstraße der Stadt. Enge Korridore, Durchgänge. Das Amtszimmer des Rektors im ersten Stock, die Aula – im dritten. Daneben ein kleiner Raum. Während der Schulzeit wurde dort Fremdsprachenunterricht abgehalten. An Samstagabenden und Feiertagen verwandelte er sich in einen Radioraum, in dem ich die Schallplatten abspielen ließ. In diesen Fällen zogen sich «bei mir» die engsten Kameraden aus und kleideten sich um: Iswjekow und Inessa, Saschin, Boschew, Petschonkina und Rita Konjuchowa. Ich tat immer noch so, als wäre sie mir gleichgültig, und sie ahnte es natürlich. Ihr wurde häufig Schach gespielt. Ich war damals in der zweiten Leistungsklasse. Mein wichtigster Rivale war Jakowlew, Student im dritten Kurs; er gehörte zur ersten Kategorie und war Schachmeister des Instituts. Schon bald begriff ich, dass er nicht nur beim Schach mein Rivale, sondern dass Rita das Objekt seiner besonderen Aufmerksamkeit war. Meine Begegnungen mit ihm am Schachbrett wurden für mich unerträglich. Alles ärgerte und reizte mich. Die Nachlässigkeit, mit der er sich bewegte, die langen, dünnen Finger, die in besonders künstlerischer Weise die Figuren Griffen und seine arroganten, lehrmeisterhaften Bemerkungen.

Ab Mitte Oktober tauchten über Tambow faschistische Flugzeuge auf. Von irgendwoher aus Richtung Süd-Westen kommend überflogen sie die Stadt, als ob sie sie nicht bemerkt hätten, mit einem widerlichen, bedrückenden Brummen und verschwanden dann gen Nord-Osten. Dann kehrten sie zurück, nachdem sie ihre tödliche Fracht irgendwo abgeworfen hatten. Ende Oktober warf eines dieser Flugzeuge, das offensichtlich von seinem Auftrag zurückkehrte, ohne seine vollständige Ladung verbraucht zu haben, drei Bomben auf Tambow. Eine davon explodierte auf der Lermontowskaja, etwa fünfhundert Meter von unserem Haus entfernt. Es war schrecklich mit ansehen zu müssen, wie die Eltern zu ihren Kindern rannten und statt ihres Hauses nur einen tiefen Krater vorfanden.

Nach Petjas Fortgang zur Trudarmee fingen wir alle wieder an gemeinsam zu essen. Ernotschka war die Einzige, die arbeitete. Mama bekamt eine miserable Rente, ich – mein Stipendium. Außer uns dreien waren noch Lisa und die Kinder da: Holdi und Adja. Alle, mit Ausnahme von Ernotschka und mir, erhielten Lebensmittelkarten, die aber nur das absolute Existenzminimum sicherstellten. Viel Zeit und Energie brauchte der Prozess sie in Lebensmittel umzusetzen. Die Warteschlangen waren endlos lang, die Menschen stellten sich abends an, warteten die ganze Nacht und wärmten sich währenddessen an Lagerfeuern. Laut Gesetz durfte man Brot auf drei Tage im Voraus kaufen, was viele anfangs auch taten. Aber später gingen sie täglich zum Geschäft, weil sie die auf einmal erhaltene Menge zu schnell aufgegessen hatten. Manche zogen es vor, für die Brotkarten Mehl zu erwerben. Mama buk ebenfalls gelegentlich Fladen, wobei sie das fehlende Öl, wie damals in den Hungerjahren, durch in der Pfanne erhitztes grobes Salz ersetzte.

Die Brotmarken besaßen unterschiedliche Farben. Wenn ich mich nicht irre, hatten die Arbeiter rote, Beamte blaue, Pflegekinder gelber. Da die anstehenden alten Leute meist für mehrere Personen gleichzeitig Marken vorlegten, bewegten sich die Schlangen nur sehr langsam voran. Nachdem die Verkäuferin vom nächsten Käufer ein Bündel Marken erhalten und sich von der Echtheit derselben überzeugt hatte, sortierte sie sie nach Farben und schnitt dann, mit einer Schere bewaffnet, in jede ein kleines Quadrat mit dem entsprechenden Datum. Die ausgeschnittenen Quadrate «entwertete» sie anschließend durch ein Kreuzchen. Anschließend wog sie unter den aufmerksamen und kritischen Blicken des Käufers die vorgesehenen Portionen (Rationen) ab. Nur wenige Menschen waren mit dem Gesamtgewicht einverstanden. Die Portionen waren klein, zwischen 300 und 600 Gramm. Es gelang nur selten, das erforderliche Gewicht exakt abzumessen. Es gab Zugaben. Um sie nicht durcheinander zu bringen, legten sie jede Ration in ein separates Täschchen oder wickelten sie in ein Tuch. Dann begann die Berechnung des Geldbetrags. Dabei bevorzugten sie, jede einzelne Portion gesondert zu berücksichtigen. Infolgedessen riskierten diejenigen, die sich nicht schon seit dem Abend angestellt hatten, es nicht bis zur Ladentheke zu schaffen.

Der Bezug von Zucker, Graupen und Sonnenblumenöl mittels Marken gestaltete sich noch schwieriger. Diese Produkte wurden meistens einmal im Monat in unterschiedlichen Läden verkauft: Zucker in dem einen, Graupen in einem anderen, Fett im dritten. Die Warteschlangen zählten mehr als hundert Personen, und wanden sich auf den Bürgersteigen an den Häusern entlang, reichten um die Eckgebäude herum und zweigten in die angrenzenden Straßen ab. Für den Rest meines Lebens erinnere ich mich an eine dieser Schlangen. Es ging um Zuckermarken, wohl für den Monat November. Ein riesiger Hof, eingegrenzt von mehreren Häuschen, Schuppen und Zäunen. In einem der Schuppen befindet sich ein kleines Fenster. Durch dieses Fenster findet auch die Transaktion statt. Entlang der Scheune zieht sich ein vereister Schneewall. Um bis zum Fensterchen zu gelangen, sind diejenigen, die nicht so groß sind, gezwungen, auf die Schneewehe zu klettern, aber diese bröckelt und fällt in sich zusammen. In der Mitte des Hofes steht ein bereits nicht mehr in Betrieb befindlicher Wasserturm. Die Schlange erstreckt sich um den Hof herum, beginnt dann sich am letzten Haus zu lösen, sich um den Turm zu winden, bis sie den ganzen Hof eingenommen hat. Schaut man von der Seite – eine Unmenge Menschen. Um darin nicht verlorenzugehen, klammert jeder sich fest an den vor ihm Stehenden. Eine betagte Frau hält mich hinten am Gürtel fest. Vor mir ein Mädchen, dessen Gesicht ich nicht sehe, aber ihre Figur gefällt mir. Ich möchte sie, dem Beispiel anderer folgend, umarmen. Doch ich beschließe es nicht zu tun, mir fehlt der Mut. Die Schlange schiebt sich sehr langsam voran, indem sie ihren eigenen Kurven folgt. Mehr zum Schein versuche ich ein Buch zu lesen. Und plötzlich bewegt sich die Schlange schneller vorwärts. Alle wundern sich, versuchen herauszufinden, was los ist, schimpfen, aber stehenbleiben können sie nicht. Und in diesem Moment taucht von irgendwoher aus dem allgemeinen Gedränge ein abgeteiltes Stück der Warteschlange auf, die zwar einen Anfang hat, aber das Ende ist nicht zu sehen. An der Spitze des Stumpfes – eine große, einem Mann ähnelnde Frau. Sie umfasst die Taille des vor mir laufenden Mädchens, und schon gerate ich an die Spitze eines neu entstehenden Schlangenteils. Eine Zeitlang laufe ich parallel neben der anderen her. Die Frau hinter mir schlägt mir heftig auf den Rücken und fordert Gerechtigkeit. Alle Kräfte zusammennehmend komme ich aus der Schlange heraus. Und so gelang es an diesem Tag nicht Zucker zu erstehen.

Im Winter gab es an der Front endlich einen Wendepunkt. Der General-Offensive der Nazis auf Moskau, die am 16. November begonnen hatte, ging Anfang Dezember, je näher sie der Hauptstadt kam, der Atem aus. Am Morgen des 5. Dezember 1941 begann mit einem Schlag des linken Flügels der Kalininsker Front der Gegenangriff der sowjetischen Truppen bei Moskau. Am 6. Dezember gingen die Truppen des West- und des rechten Flügels der Süd-West-Fronten in die Offensive. Diesen Truppen wurden auf den Hauptachsen strategische Reserven hinzugefügt. Ende Februar 1942 wurden die deutsch-faschistischen Truppen unter für sie großen Verlusten auf 350-400 Kilometer gen Westen von Moskau zurückgeworden. Das Volk atmete erleichtert auf. Es wurde klar, dass die Faschisten «großräumig» niedergeschlagen werden konnten, dass ihr Plan eines «Blitzkriegs» gescheitert war.
Die Winterprüfung legte ich ohne Dreien ab, sogar in der Geschichte der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken). Aber besonders stolz war ich auf die Eins, die mir auf Grundlage der Geometrie auf Seiten 15 des Studienbuchs (für das 7. Semester) W.F. Kagan verpasst hatte. Artjemenko nominierte mich als Kandidaten für das Stalin-Stipendium.

Die Winterferien verbrachte ich mit häuslichen Sorgen und Ruhelosigkeiten. Ernotschka drohte die Entlassung. Es wurde häufig gesagt, dass man sie nach Sibirien schicken könnte. Und von dort trafen bereits Briefe von Verwandten mit einer Beschreibung aller Schrecken, die eine Umsiedlung mit sich brachte, ein. Auch von Petja kam ein Brief. Er riet Ernotschka beharrlich, mit den Kindern zu seinem Vater zu fahren, der nach der Aussiedlung in die Ortschaft Sarbalyk im Gebiet Nowosibirsk geraten war. Man begann die Sachen zusammenzupacken. Auch Lisa beschloss sich Ernotschka anzuschließen. Viele Male wurde über diese Entscheidung diskutiert. Ernotschka sprach plötzlich in Petjas Sprache: «Wir sollten mit unserem leidenden Volk zusammen sein». Mama und ich waren zu einer derartigen «Selbstverbrennung» nicht bereit. Es kam uns so vor, als ob sich mit Ernotschkas und Lisas Abreise der Zerstörungsprozess unserer Familie vollzog. Lalja und Alik, der zu diesem Zeitpunkt gerade ein Jahr alt war, lebten bei der Schwiegermutter in Danilowka, die


Das einzige erhaltene Foto aus
Studentenjahren.
Sie mit meinem Studentenausweis.



Rita Konjuchowa

Dort in den Klassen 5-7 Deutschunterricht erteilte. Und obwohl sie kein leichtes Leben hatte, vor allem, wenn man den unverträglichen Charakter Sophia Wladimirownas berücksichtigte, die unsere Familie und Lalinas intelligenten Angewohnheiten nicht leiden konnte, gab es keinerlei Hoffnung, dass sie nach Tambow umziehen würde. Alles ging so weit, dass Mama und ich allein blieben. Dabei war sie schon 67 Jahre alt. Ich begriff, dass irgendeine Quelle für den Lebensunterhalt notwendig war und wurde als Mathematiklehrer an einer der Vorort-Schulen eingestellt. Doch Mama lehnte diesen Schritt kategorisch ab. Sie war nur von dem einen Wunsch geleitet, dass ich den Abschluss am Institut machen würde.

Zu diesen Sorgen kamen noch meine Gedanken an Rita. Sie suchten mich immer häufiger auf. Unsere äußerlichen Beziehungen gingen über eine Kameradschaft nicht hinaus. Doch wir fingen an uns öfter zu treffen, unsere Gespräche wurden offener. Ich versuchte mit aller Kraft mich vor ihr zu öffnen. Ich demonstrierte meine Begeisterung für Poesie, Philosophie und Mathematik. Ich berichtete ihr über den Inhalt der gelesenen Bücher. Einige davon gab ich ihr zum Lesen. Das letzte davon war die Arbeit des deutschen Philosophen und Idealisten G. Fichte mit dem floriden und anspruchsvollen Titel: «Eine Botschaft, klar wie die Sonne, an die breite Öffentlichkeit über das wahre Wesen der modernen Philosophie». Sie versuchte die Bücher zu lesen und führte mit mir sogar Streitgespräche über bestimmte Stellen. Jakowlew verschwand vollkommen unmerklich aus meinem Gesichtsfeld. Unsere Beziehungen hörten auf, für meine Freunde ein Geheimnis zu sein. Zu Hause wussten sie nichts. Und erst irgendwann im Februar 1942, als Mama die Fotografie entdeckte, die Rita mir geschenkt hatte, forderte Mama eine Erklärung.

Ob ich Rita liebte? Freilich liebte ich sie, doch mit einer jugendlichen, meinem Alter nicht entsprechenden, Liebe. Das löste beständige Spöttereien seitens meiner Freunde aus.

Der 8. März. Tag der Frauen. Der Abend ist dieser Veranstaltung gewidmet. Ein Vortrag, Laienspiel; entsprechend der Kriegslage ein wenig Tanzerei. Zahlreiche eingeladene Soldaten. Ich lege im Radiozentrum die Platten auf. Es geht gegen elf Uhr. Der Abend muss beendet werden, es herrschen Kriegszeiten. Iswjekow mit Inessa und Saschin kommen herein. Sie ziehen sich an und gehen. Zurück bleiben Rita und ich. Ich muss sie begleiten. Ich schalte die Geräte aus und schließe die Tür des Raumes ab. Wir gehen hinunter. Am Wachthäuschen gebe ich den Schlüssel ab. Ich knöpfe den pelzgefütterten Studentenmantel zu. Wir treten auf die Straße hinaus. Es ist unerwartet kalt. Wir gehen nebeneinander, tauschen ab und an unsere Eindrücke über den vergangenen Abend aus. Ich unternehme einen schüchternen Versuch ihre Hand zu nehmen und bekommen selbst Angst. Der Frost sticht in den Ohren, die gestrickte Baskenmütze wärmt nicht. Rita trägt eine breite Pelzboa, für sie ist es nicht so schlimm. Zitternd stelle ich den schmalen Kragen mit dem Samtbesatz auf. Ich halte ihn abwechselnd gegen das eine und gegen das andere Ohr. Wir haben einen weiten Weg, unser Gespräch ergibt keinen Sinn. Das ist keine Liebe, das ist Qual. Und dann die letzte Biegung, die Reihe mit den kleinen Privathäuschen, die Gartenpforte. Ich suche meine Gedanken zusammen, um noch etwas geistvolles zum Abschied zu sagen. Und in dem Augenblick gibt Rita, die die Ecken meines Kragens zusammennimmt und meinen Kopf zu sich heranbeugt, mir einen Kuss auf die Lippen. Sie küsst mich, öffnet das Türchen und rennt, ohne mir Zeit zur Besinnung zu geben, nach Hause. Das war mein erster Kuss.

Bis zur Verhaftung blieben weniger als acht Stunden...

 

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