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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Teil II
Hinter Stacheldraht

Kapitel 8. Verhaftung

Der 9. März 1942. Früh am Morgen. Ich erwachte in dem Gefühl, dass etwas sehr Schönes geschehen war. Wie sollte es? In Ernotschkas Zimmer brennt Licht. Sie macht sich für die Arbeit fertig. Mama kommt leise herein, um mich nicht aufzuwecken, nimmt etwas aus der Schublade, legt es daneben auf den Stuhl – vermutlich Socken. Sie schließt die Tür und geht. Wie spät ist es? Denn heute muss ich früher los. Im Radioraum ist nichts aufgeräumt. Und da begreife ich, worin der Grund für meine gute Laune liegt: der gestrige Abend, Rita. Ich ziehe mich an und denke dabei an das, was geschehen ist. Wie konnte es passieren, dass sie zu mir fand, warum hat sie mich geküsst – ausgerechnet auf die Lippen? Es konnte nicht sein, es hätte nicht passieren dürfen. Vielleicht ein Witz, ein Streich, eine Laune? Die gute Laune ist dahin.

Ich frühstücke in aller Eile, stopfe die Hefte, die ich benötige, unter meinen Gürtel und verlasse das Haus. Es ist deutlich wärmer geworden, ab und zu fallen in paar Schneeflocken aus dem düsteren Himmel. Aber es ist mir egal. Ich muss rechtzeitig vor Beginn des Unterrichts den Raum vorbereiten. Ich rutsche auf dem schneebedeckten Eis, stoße auf Leute, die zur Arbeit eilen und renne durch die noch dunklen Straßen der erwachenden Stadt. Im Kopf habe ich nur den einen lastigen Gedanken: «Wie soll ich mich jetzt, nach dem, was geschehen ist, ihr gegenüber verhalten? Nur gut, wenn unsere Begegnung in Anwesenheit von anderen Leuten stattfindet, aber was ist, wenn wir allein sind?».

Endlich taucht das Gebäude des Instituts vor mir auf. Die schäbige, unansehnliche Tür öffnet sich mit einem dumpfen Stöhnen. Ich hole beim Wärter den Schlüssel ab, begebe mich in den dritten Stock und schließe die Tür auf. Rita ist nirgends zu sehen. Dabei kommt sie normalerweise sehr früh, lange vor dem Klingelzeichen. Eine Musterstudenten, sie hat Angst zu spät zu kommen. Schließlich hat sie einen weiten Weg. Aber heute ist sie aus irgendeinem Grund nicht da. Warum? Vielleicht hat sie, genau wie ich, Angst vor der Begegnung?

Ich räume die Geräte auf, wickle die Leitungen ab, stelle die Tische und Stühle auf. Schritte ... Jemand geht auf dem Korridor. Ich lausche, halte den Atem an. Aber es ist nicht sie, nicht sie. Schlurfende Schritte, heiseres Atmen. Der Wärter. Der Direktor lässt mich holen. Wozu denn das? Ich begebe mich in den ersten Stock, klopfe an die mit schwarzem Kunstleder bezogene Tür. Ich trete ein. Im Kabinett elektrische Beleuchtung. Die Fenster sind mit schweren Vorhängen verhängt (Verdunklung!). Der Parteiorganisator schließt die Tür hastig mit einem Schlüssel ab. Merkwürdig?! Der Direktor, der mich sonst immer so gut behandelt hat, verhält sich diesmal streng und kurz angebunden: «Setzten sie sich dorthin, von den Organen erhielten wir...». Ohne ihn zu Ende reden zu lassen erhoben sich vom Tisch, der mit dem des Direktors eine T-Form bildete, zwei Personen. Beide zivil gekleidet. Beide mit wässrigen, ausdruckslosen Augen und hölzernen Gesichtern. Einer von ihnen, der ältere, legt den Haftbefehl vor. Der andere betastet mit schnellen, geübten Händen meinen wie vor Kälte zitternden Körper. Nur ein kurzer Augenblick – und schon stehe ich mit umgedrehten Taschen, aufgeknöpftem Kragen, geöffnetem Hosengürtel und aufgeschnürten Stiefeln da. IUn meinem Kopf Verwirrung und Bestürzung. Eine Flut von Gefühlen und die gewöhnliche Frage in solchen Situationen: «Wofür?». Ob ich das hörbar ausgesprochen habe, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch, dass der erste brennende Gedanke der Gedanke an Mama war. Die unglückliche, alte Frau, was werde ich ihr jetzt sagen, wie wird sie ohne mich leben, wird sie auf meine Freilassung warten? Und Rita, was wird sie denken?

Als sie mich aus dem Gebäude führten, hatte der Schneefall bereits aufgehört und eine kalte Sonne schien zwischen den zerrissenen Wolkenfetzen hindurch. Verspätete Studenten kamen uns entgegen. Ob sie begriffen, wer mich fortbrachte und wohin? Dann fand die erste Fahrt mit einem PKW in meinem Leben statt. Als wir uns unserem Haus näherten, war mir klar, dass es eine Durchsuchung geben würde. Aus Gewohnheit wollte ich ans Fenster klopfen, um meine Ankunft anzukündigen. Doch die Tschekisten, die mich begleiteten, fingen meine Hand mit einer derartigen Schnelligkeit und Kraft ab, als ob sich eine Granate darin befände.

Bei unserem Erscheinen begriff Mama sofort, was los war, und, während die Haussuchung lief, traf sie Vorbereitungen für meine Reise. Sie buk Fladen auf dem Kerosinkocher, nahm frische Unterwäsche aus der Kommode, Seife, eine Zahnbürste und packte alles in ihre alte Einkaufstasche. Einen Moment stand sie unschlüssig da, dann holte sie Petjas Wollsocken, steckte sie ebenfalls in die Tasche und ließ sich, erschöpft von dem, was sie erlebte, auf einen Stuhl nieder. Alt, runzlig, mit Tränen in den Augen. Und keine einzige Frage, kein Wort des Vorwurfs. Nur stille Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Und keine Möglichkeit Worte des Trostes auszusprechen. Jeder Versuch etwas zu sagen, wurde unverzüglich von den Tschekisten unterbrochen, die eifrig in Büchern, Heften und Wäsche wühlten. Ich versuche ihr wenigstens durch einen Blick Mut zu machen, sie zu beruhigen, aber sie antwortet nur mit einem erbärmlichen Lächeln, schüttelt mit dem Kopf, und über ihre schlaffen Wangen rollen in einem fort die Tränen.

Und dann ist die Durchsuchung beendet. Eifrig packen die Tschekisten in eine große Segeltuchtasche konfiszierte Bücher, vorwiegend deutsche, in gotischer Schrift geschriebene. Die Zeugen gehen, nachdem sie einige Protokolle unterschrieben haben. Ich blicke mit Schrecken auf meine stumme, alte Mama, die wie benommen auf ihrem Stuhl sitzt. Nun wird sie zwischen den auf den Boden geworfenen und auf den Stühlen herumliegenden Büchern und Wäschestücken ganz allein zurückbleiben. Auge in Auge mit ihrem unermesslichen Kummer.

Das war‘s! Die letzten Schritte zur Tür. Und in dem Augenblick stürzt sie sich auf mich, umarmt mich und flüstert: «Robotschka, mein Liebling, das war’s, in diesem irdischen Leben werden wir uns nicht mehr wiedersehen, möge Gott dich beschützen». Grob wird sie fortgezerrt, die Eingangstür schlägt zu, und sie schleppen mich zum Auto. Der Motor brummt. Und schon trägt das Fahrzeug, über den unebenen Boden ruckelnd, mich fort in den ersten Kreis der Hölle. Das war‘s! Auf Wiedersehen, meine geliebte, gute Mamotschka. Niemals wird irgendjemand so lieben können wie du: mit so viel Geduld und Selbstlosigkeit. Niemals wird irgendjemand dich ersetzen können.

Und dann kam das innere Gefängnis des NKWD. Ein riesiges graues Gebäude auf dem Tambower Marktplatz. Scheinbar endloses Sitzen in irgendeinem dunklen, aus Brettern zusammengehauenen Schrank oder Kabuff. Sorgfältige Durchsuchung, splitternacktes Ausziehen; Kahlscheren; Waschen, nachdem sie mir Wäsche, Oberbekleidung und Schuhe ohne Knöpfe und Schnürbänder zurückgaben. Schließlich das Abnehmen der Fingerabdrücke und Fotografieren im Profil von links, rechts und vorn. Mit der linken Hand meine rutschende Hose festhaltend, unterschreibe ich irgendwelche Auflistungen, Protokolle, Schriftstücke. Doch die übliche Frage in solchen Fällen «wofür?» stelle ich nicht. Für sie bin ich ein Verbrecher und Feind. Ich hatte Angst vor Schlägen und Misshandlungen, aber das geschah nicht. Die am meisten demütigende Prozedur war wohl das «Scheren», als eine junge und recht sympathische Frau in der Uniform einer Mitarbeiterin des NKWD ohne viel Federlesens, wie es auch bei Vieh gemacht wird, alle behaarten Teile meines nackten Körpers rasierte.

Und dann schließlich die Einzelzelle, lang und schmal, wie die Federtasche eines Schülers. Ein Eisenbett, ein Tisch und ein Hocker. Am fernen Ende, an der Decke, ein mit einem Eisengitter versehenes Fenster oder Fensterausschnitt. An der gegenüberliegenden Seite eine schwere, eisenbeschlagene Tür, in deren Mitte sich ein kleines Ausgabetürchen befindet, und darüber ein Guckloch, durch das ab und zu der Wärter hereinschaut. Über der Tür, in einer Aussparung, eine grelle, mit einem Gitter umgebene, Glühbirne, vor dessen durchdringendem Licht man sich weder am Tag noch in der Nacht verbergen kann. Auf dem Boden neben der Tür der ständige Begleiter des Gefängnislebens – der Eimer für die Notdurft. Hier sind links an der Wand Anweisungen aufgeklebt: «Rechte und Pflichten des Häftlings».

Als die Tür mit einem metallischen Klirren zugeschlagen worden war du sich der Schlüssel bedrohlich im Schloss gedreht hatte, starrte ich, niedergeschlagen von all den Geschehnissen, als erstes auf diese Instruktionen. Und nicht deswegen, weil ich wissen wollte, was mir in diesem Kerker erlaubt war, sondern weil mich der eigentliche Vorgang des Lesens beruhigte. Wieder und wieder las ich den primitiven Text, bewegte dabei sogar die Lippen, konnte aber nichts davon begreifen. In meinem Kopf krochen völlig andere Gedanken herum, völlig andere Bilder.

Nach dem ich mich ein wenig beruhigt hatte, trat ich zum Fenster. Selbst für mich war es schwierig dort heranzureichen. Ich wollte das nicht genauer nachprüfen, dafür konnten sie mich in den Karzer stecken. Vor dem Fenster sah man lediglich einen kleinen Wolkenfetzen, so weit entfernt, so unerreichbar. Der Tisch, der Hocker und das Eisenbett, fest im Zementboden verankert. In der Luft hing der schwere Geruch des Kübels für die Notdurft und der in der Trocken-Kammer gedämpften, groben Decke. Ich war todmüde, wollte mich gern hinlegen, aber bis zum Appell war das kategorisch verboten. Mittagessen. Der Aufseher steckte mir durch die geöffnete Klappe ein 200-Gramm-Stück Brot, eine heiße Schüssel aus Metall mit Wasserbrühe und ein paar Löffeln Haferbrei. Aber mir war nicht nach Essen zumute. Außerdem befanden sich in der Tasche, eingewickelt in Papier, Mamas Fladen. Am Abend das Abendessen: ein dünnes Stückchen Brot und gesüßter Tee. Für Kriegszeiten erträglich.

Die Nacht war aufreibend. Das grelle Licht der Glühbirne blendete. Jeder Versuch sich umzudrehen oder die Augen mit der Decke zu bedecken wurde unverzüglich vom Aufseher unterbunden. Als ich endlich eingeschlafen war, kamen die Alpträume. Immer wieder wurde ich wach, und jedes Mal kam mir das Geschehene wieder ins Bewusstsein, und ich machte alles noch einmal durch.

Und die Tage des Gefängnislebens zogen sich in einer langen, eintönigen Folge hin. Aufstehen, Gang zur Latrine, Frühstück, Mittagessen, Abendessen, Signal zur Nachtruhe – das waren die zeitlichen Orientierungslinien. Zweimal die Woche «Spazierengehen» am Boden eines steinernen Brunnens, welcher als Wanderhof bezeichnet wurde. Und völlige Ungewissheit. Weswegen haben sie mich festgenommen? Wegen meiner Nationalität? Wegen Onkel Robert? Wegen meiner Begeisterung für Radiotechnologie? Für meine Gespräche mit Simatsch? Für meine Streitigkeiten mit Filin? «Meine Nationalität kann kaum ein Grund dafür sein», - dachte ich. Auf jeden Fall werden sie nicht darauf herumdrücken. Man kann sich auf Marx, Engels und Thälmann beziehen. Onkel Robert? Aber über den wusste ich nichts Genaueres. Ich wusste nicht einmal, ob er noch am Leben war. Schließlich musste er schon weit über siebzig sein. Das Radio? Aber ich hatte doch schon in den ersten Kriegstagen, sobald die Verfügung der Behörden gekommen war, den Rundfunkempfänger mitsamt allen Einzelheiten, bis hin zum letzten Draht, abgegeben. Sogar den Lötkolben hatte ich weggebracht. Auch während der Haussuchung wurde absolut nichts gefunden, und es scheint, dass sie auch nach nichts gesucht haben. Die Gespräche mit Simatsch? Das ist schon eine schwerwiegendere Angelegenheit. Dafür konnte man tatsächlich eingesperrt werden. Aber die waren schon lange her und wurden auch nur zu zweit geführt. Und was hatten sie eigentlich beinhaltet? Es hatte doch keine Pläne, keine Verschwörungen gegeben. Lediglich allgemeine Ansichten über die Geschehnisse im Lande. Außerdem hatte hauptsächlich Simatsch geredet, während ich vorwiegend zugehört hatte. Nein, hier muss man alles zurückweisen, beschloss ich. Zurückweisen, um nicht einem Freund Unheil zu bereiten. Bleibt nur noch Filin! Möglicherweise haben Sozialkundler sich beschwert. Aber all diese Streitgespräche betrafen doch hauptsächlich philosophische Probleme der Mathematik und Physik. Worüber hatten wir denn das letzte Mal gestritten? Ja, natürlich, über die Natur der mathematischen Kenntnisse: entdeckt ein Mathematiker seine Theoreme als Naturwissenschaftler oder knobelt er sie als Ingenieur aus? Interessiert mich diese Frage wirklich, oder ist sie nur der Anlass, um ein Streitgespräch zu führen, um den Kameraden und vor allem Rita mein Wissen zu demonstrieren? Wem konnte das schaden und worin besteht hier der Tatbestand eines Verbrechens? Was noch? Freilich gab es verborgene Gedanken und Gefühle, aber über sie hatte ich niemals, außer mit Simatsch, gesprochen. Obgleich in den Gesprächen mit Rita meine Antipathie gegenüber dem Führer, der Partei, den Tschekisten hindurchgeschlüpft sein mochte. Ich wollte so gern originell, nicht standardisiert, sein. Im Großen und Ganzen erinnerte ich mich schlecht daran, worüber ich mit ihr sprach. Ich wusste nur, dass es nicht um Liebe ging. Wenn doch nur bald das Verhör käme, dachte ich.

Abends, nach dem Signal zur Nachtruhe, als ich mich auf der harten, knarrenden Bettstelle herumwälzte, wanderten meine Gedanken nach Hause. Ich versuchte mir vorzustellen, was Mama, Ernotschka, Lisa, die Kindchen machten. Aber immer wieder tauchte das Bild von der Haussuchung auf. Wie hatte sie das alles überstanden? War sie gesund? War sie am Leben? Und wenn sie sie nun ebenfalls verhaftet hatten? Denn für die war ihr fortgeschrittenes Alter kein Hindernis. Sie steckten auch Achtzigjährige ins Gefängnis. An Rita dachte ich merkwürdigerweise nur selten.

Erst einen Monat nach der Verhaftung ließ der Ermittlungsrichter mich zu sich rufen, als meine Seele bereits ganz den Vermutungen und Erlebnissen verfallen war. Sie holten mich mitten in der Nacht. Verschlafen, ungewaschen, die rutschende Hose festhaltend, gehe ich über lange, widerhallende Korridore. Vor und hinter mir jeweils ein Wachmann, an den Seiten eine endlose Reihe eisenbeschlagener Türen. Dann eine Wendeltreppe in einem engen Steinbrunnen, welche die oberen Etagen des Gebäudes durchschneidet – die Hochburg des Tambower NKWD. Über und unter mir das stampfende Geräusch von Stiefeln auf den Eisenstufen. Eine letzte Wende, eine Plattform – und wieder ein Korridor mit einer Reihe Türen. Nur ist der Korridor hier merklich höher, es sind weniger Türen, und sie sind auch nicht aus Eisen. Wir betreten einen abgedunkelten Raum. Ein großer Schreibtisch. Auf dem Tisch eine Scheinwerferlampe, die genau auf mein Gesicht gerichtet ist.
Es ist schwierig irgendetwas zu erkennen. Eher anhand der Stimme als am Habitus komme ich zu dem Schluss, dass der Untersuchungsrichter noch sehr jung ist. Die Stimme ist leise, ruhig, fast sogar einschmeichelnd.

Nach mehreren Protokollfragen begann das Verhör, welches, wie ich jetzt verstehe, anfangs einen ungewöhnlichen Charakter in sich trug, es war eher wie eine Unterhaltung zwischen zwei Bekannten. Der Ermittlungsrichter befragte mich sachkundig über das Institut, das Lernen, die Lehrer, die Kameraden. Er hatte hinreichende Kenntnisse über sie, wusste häufig mehr als ich. Die Lehrer nannte er mit Vor- und Vatersnamen. Besonders beharrlich fragte er mich über Saschin aus. Und das wunderte mich. Ihn kannte ich nicht so gut wie die anderen. Kein Wort fiel über Simatsch, Onkel Robert und meine Begeisterung für die Radiotechnik. Und das beruhigte mich. Nach und nach ging die Unterhaltung auf philosophische Themen über. Ich geriet problemlos in den mir präsentierten Kommunikationsstil und stürzte mich, jegliche Vorsicht verlierend, in eine Diskussion über abstrakte philosophische Themen. Der Ermittler war sehr geduldig, ermutigte mein Gerede auf alle nur erdenkliche Weise. Nur bisweilen stellte er Zwischenfragen, welche die Bedingungen konkretisierten, in denen ich zuvor einen entsprechenden Gedanken geäußert hatte, wann und wo, wer dabei anwesend gewesen war. Immer wieder kehrte er zu einer von mir auf einem der Seminare ausgesprochenen Überzeugungen zurück, dass man die Gesetze der Dialektik in Bezug auf die Mathematik nicht vereinfacht interpretieren darf, dass es zwischen Addition und Subtraktionen, Differenzierung und Integration keinen «Kampf der Gegensätze» gibt, wie einer der Studenten behauptet hatte.

Das zweite Verhör, das ebenfalls nachts stattfand, verlief härter und beschäftigte sich mit für mich sehr merkwürdigen Fragen. Beispielsweise interessierte sich der Ermittler dafür, ob ich beim Schachspiel im Foyer des Kinotheaters «Modern» gesagt hätte, dass, dort eine rote Laterne fehle. Ich erinnerte mich an den Fall. Tatsächlich hatte ich bei einem der Besuche dieser geliebten Einrichtung, nachdem ich entdeckt hatte, dass sämtliche blauen und grünen Samtvorhänge durch roten Chintz ersetzt worden waren, gesagt, dass in diesem Fall auch die blauen Deckenleuchten gegen rote ausgetauscht werden müssten. Ich konnte allerdings nicht begreifen, was dem Untersuchungsrichter daran nicht gefiel. Und das brachte ihn in Wut: «Wie kann es sein, dass du so gebildet bist und Kuprins «Grube» nicht gelesen hast, - sagte er, wobei er mich zum ersten Mal mit «du» anredete. Ich hatte es tatsächlich nicht gelesen. Doch er glaubte mir nicht und beschuldigte mich, ich hätte die Farbe des Blutes und der Revolution des Volkes verspottet. Anschließend war die Rede von irgendeiner, offenbar sehr patriotischen, Kinozeitschrift, die dem Film «Der große Walter» vorangegangen war, aus dessen Anlass ich sehr unklug von «blauem Bodensatz» gesprochen hatte. Obwohl ich mich kaum an den Inhalt der besagten Zeitschrift erinnern konnte, war doch «blauer Bodensatz» in jenen Jahren meine Lieblingsbewertung, und es konnte gut sein, dass ich sie so ausgesprochen hatte, was ich dem Ermittler auch sagte.

Schließlich kam der Satz «Wird es auch in unserer Straße einen Festtag geben», den angeblich einer von uns beiden – entweder ich oder Saschin – ausgesprochen hatte. Ich hatte so etwas nicht gesagt. Er fand sich schlicht und ergreifend nicht in meinem Wortschatz, und mit gutem Gewissen beharrte ich darauf. Der Untersuchungsrichter, der meine Aussage ignorierte, verlangte eine Erklärung, welchen Sinn wir in diesen Satz gelegt hätten.

Später, zurückgekehrt in die Zelle, zerbrach ich mir den Kopf darüber, wer der Informant gewesen war. Den größten Verdacht in mir hegte Saschin, doch die folgenden Ereignisse zeigten mir, dass ich mich irrte. Wie sich herausstellte, war Saschin ebenfalls verhaftet worden, und unsere Strafsache überkreuzte sich mit diesem unglückseligen Satz über den Festtag in unserer Straße. Man veranstaltete sogar eine Gegenüberstellung zwischen uns, in der Saschin steif und fest alles leugnete. Ich war verblüfft darüber, wie er mit dem Ermittler redete, scharf und kategorisch. Freilich war er drei Jahre älter als ich, hatte in der Armee gedient, war erfahrener und selbständiger. Und trotzdem war das Wichtigste der Unterschied in unseren Charakteren. Ich hätte nicht einmal meine Zunge gedreht, um alles so abzustreiten.

Nach einem der nächsten Verhöre führten die Wachmänner mich in eine andere Zelle, und ich geriet sogar in Missstimmung, denn ich hatte mich an meine alte bereits gewöhnt. Die neue Zelle war bereits belegt: ein großer Mann mit blassem Gesicht und einem zotteligen roten Bart saß auf der Pritsche, den Kopf in die Hände gestützt und leise stöhnend. Er rührte sich nicht einmal bei meinem Erscheinen. Die zweite Bettstelle war frei und gehörte offensichtlich mir. Als der Wärter ging, machte er eine kurze Pause, sah mich aufmerksam an und meinte mit dumpfer Stimme «Was bist du, die nächste Lockente? Bist du dafür nicht zu jung?» Aus irgendeinem Grund erinnere ich mich an seine blauen, tief eingesunkenen Augen. Ich versuchte mich zu rechtfertigen, meine Geschichte zu erzählen. Aber je mehr ich sprach, um so misstrauischer hörte er mir, wie mir schien, zu. Ich fühlte mich gekränkt und verstummte. Bis zum Wecken waren es noch zwei Stunden. Unmerklich schlief ich ein. Wir sprachen fast den ganzen Tag nicht miteinander. Aber am folgenden Tag redeten wir trotzdem. Am Ende erzählte er auch etwas von sich. Er sagte, dass er mit Nachnamen Stakun hieße, dass er vor dem Krieg zweiter Sekretär des Weißrussischen Zentralkomitees gewesen sei, dass er entweder in Kriegsgefangenschaft oder in Umzingelung gewesen sei (ich weiß es jetzt nicht mehr), und dass sie jetzt durch Schläge ein Geständnis wegen Anwerbung aus ihm herausprügeln wollten. Ich hörte ihm ungläubig zu und verdächtigte ihn, wie er mich am Vortag, der Spitzelei. Vieles schien mir verdächtig: nicht nur, dass sich ein solcher Dienstgrad nicht im Moskauer Gefängnis befand, dass man mich, einen Alltagsverbrecher, ein Plappermaul zu ihm in die Zelle gesteckt hatte, dass er einen Bart trug (ich dachte, dass alle rasiert und geschoren würden), sondern auch, dass mitten in der Nacht, als man mich zum Verhör geführt hatte, er nicht auf seinem Bett gelegen hatte, womit er gegen die strengen Regeln verstieß, und dann noch der merkwürdige Nachname. Aber es war interessant ihm zuzuhören. Er berichtete von vielen in der Politik wohlbekannten Leuten, häufig über Dinge, die uns erst jetzt bekannt wurden. Er brachte mir bei, wie man sich bei Verhören verhält (wäre das doch nur früher geschehen!). Und ich, verstört von all dem, was ich vernahm, hörte ihm schweigend zu, ohne ihn zu unterbrechen, ohne zwischendurch eine Frage zu stellen, ohne irgendein Interesse zu bekunden.

Als der Ermittlungsrichter beim nächsten Verhör erfuhr, dass ich einige Tage zusammen mit Stakun in einer Zelle verbracht hatte, tat er entweder nur so oder wurde tatsächlich wütend und rief sogar (in meiner Anwesenheit!) jemanden herbei und forderte ihn auf, mich in meine vorherige Einzelzelle zurückzubringen.

Ich war überzeugt, dass die Begegnung mit Stakun eine extra gespielte Provokation darstellen sollte, allerdings konnte ich nicht verstehen, mit welchem Ziel sie durchgeführt worden war. Für mich hatten die Geschehnisse keine Folgen. Und der Untersuchungsrichter ging in den Gesprächen mit mir auch nicht mehr darauf ein. Aber das, was Stakun erzählt hatte, sank tief in meine Seele ein.

Nach fünf, maximal sechs Verhören begründete der Ermittler, indem er die schlimmsten «kriminellen» Passagen ins Protokoll schrieb, die Inhaftierung damit, dass Saschin und ich antisowjetische Agitation unter den Studenten betrieben hätten. Ich protestierte und verkündete, dass ich niemals irgendwo Agitation betrieben hätte, und selbst wenn ich ab und zu auf Seminaren Streitgespräche geführt hätte, dann nur deswegen, weil ich mir unverständliche Dinge verstehen wollte. Irgendein NKWD-Dienstgrad, der bei diesem letzten Verhör anwesend war, offensichtlich der Chef meines Untersuchungsrichters, verkündete mit einer Stimme, die keine Widerrede zuließ: «Es geht nicht darum, was du tun wolltest, sondern um das, was geschehen ist. Du hast Gedanken ausgesprochen, die schädlich für unseren Aufbau, unser Land sind, und hast damit dem Staat Schaden zugefügt, der nun bestraft, hart bestraft werden muss».

Später, nachdem ich in die Zelle zurückgekehrt war, dachte ich lange darüber nach, was passiert war. Niemand hat mich zu irgendetwas gezwungen, an meiner Zunge gezogen. Ich selbst habe dem Ermittler wie im Geiste fast alles dargelegt, was mich quälte. Ich habe praktisch nichts zurückgewiesen. Meistens wimmelte ich mit den Worten ab: «Ob ich das gesagt habe oder nicht, erinnere ich nicht mehr, aber möglich ist es». Aber was wäre gewesen, wenn ich, wie Saschin, alles abgestritten hätte?

Anscheinend war für ein derart vorbildliches Verhalten die Haltung mir gegenüber recht erträglich: niemand schlug, niemand folterte mich. Man erlaubte mir die Gefängnis-Bibliothek zu benutzen, wobei sie mir überraschenderweise hauptsächlich politische und philosophische Literatur zu lesen gaben. Allerdings durfte ich keine Briefe schreiben, keine Briefe und Pakete empfangen und auch niemanden wiedersehen. Der Prozess fand am 3. Juni 1942 statt. Saschin und ich wurden beide nach den traurig-berühmten Paragrafen 58-10,11, Abs. 2, verurteilt. Punkt 10 bedeutete antisowjetische Agitation, Punkt 11 – Gruppen- Aktivitäten, und Abs. 2 – dass die Tätigkeit in Kriegszeiten begangen worden waren. Der Prozess war nichtöffentlich. Nichts Vergleichbares mit dem, was in solchen Fällen heutzutage im Fernsehen gezeigt wird. Keine Stühle mit übermäßig hohen Lehnen, keine Roben, keine speziellen, abgegrenzten Gehege für die Angeklagten, keine Verwandten, keine Bekannten oder einfach Zuschauer, die einen Prozess beleben, kein feierliches «Aufstehen, der Richter kommt!».

Alles vollkommen alltäglich. Ein recht großer, langgezogener Raum. Am entfernten Ende drei große und schmale Fenster, wie in einer Kirche. Das mittlere ist mit Steinen zugemauert. Die anderen beiden sind mit dunklen Vorhängen verhängt. Im Raum ist es schummrig. Hinter einem großen Schreibtisch sitzen drei oder vier Leute in Zivilkleidung. Offenbar Richter und Ankläger. Lotrecht zum Haupttisch ein weiterer, schmal und lang. An seinem entfernten Ende, näher bei den Richtern, ein alter Mann, grau und unscheinbar, der Pflichtverteidiger. Ihm gegenüber - die Zeugen. Links der Tür zwei Stühle. Für Saschin und mich. In den Türen, an die Pfosten gelehnt, zwei Wachleute. Ich betrachte die Anwesenden. Die Gesichter der Zeugen sind nicht zu sehen, ihre Rücken zeigen zu uns, aber zwei erkenne ich, sie sind aus unserer Gruppe. Neben ihnen ein Mädchen, ganz in Schwarz, sogar der Kopf ist mit einem schwarzen Tuch bedeckt. Wie auf einer Beerdigung, dachte ich. Ich schaue genauer hin. Irgendetwas kommt mir bekannt vor, was ich nicht genau verstehen kann. Und plötzlich... mein Herz gefriert. Ist das nicht Rita?! Aber warum in so einer merkwürdigen Kleidung und dann noch mit einem Kopftuch? Nie zuvor habe ich sie in so einer Kleidung und schon gar nicht mit einem Kopftuch gesehen. Ich versuche genauer hinzusehen, aber die Stuhllehne und das Halbdunkel hindern mich daran. Nie zuvor hätte ich gedacht, dass ich einen Menschen, zudem noch einen geliebten, auf fünf Schritte Entfernung nicht erkennen kann. Ich versuche von der Seite hinzuschauen, aber der Ruf des Wachmanns hält mich auf.

Der Prozess begann. Ein paar allgemeine Fragen zur Bestätigung unserer Identität. Danach die Rede des Anklägers, der die Höchststrafe forderte. Einige Fragen an die Zeugen. Sie erhoben sich der Reihe nach und bestätigten die Anklagepunkte: «Ja, das hat er gesagt, das habe ich gehört». Und dann endlich erhob sich auch das Mädchen in Schwarz. Welche Frage man ihr stellte, konnte ich nicht hören. Aber die Hauptsache – es war nicht Rita. Meine Seele jublte «nicht Rita, nicht Rita». Und plötzlich, als ob mir Watte aus den Ohren gefallen wäre, vernahm ich ihre Stimme:

– Ich erinnere mich nicht, ich habe es nicht gehört, in meiner Anwesenheit hat er das nicht gesagt.

Wer ist sie, was hat sie nicht gehört, wie kann sie es wagen zu leugnen? Möglich, dass diese Worte sich auf Saschin bezogen oder zu unserem Nachteil gesagt wurden. Ich kannte die Frage nicht, also konnte ich darüber nicht urteilen. Doch der Tatbestand des Leugnens an sich war für sie ungewöhnlich und gefährlich.

Der Verteidiger, erschrocken von seinen eigenen Worten, stammelte etwas Unverständliches, und schon wird uns das letzte Wort erteilt. Zuerst spricht Saschin. Zu meiner Verwunderung leugnet er nichts, mehr noch, er bereut die begangenen Verbrechen und bittet darum, ihn an die Front zu schicken, damit er seine Schuld in Blut waschen kann. Was ich sagte, weiß ich nicht mehr, ich war wie im Fieberwahn, ich weiß nur eines, alles, was gesagt wurde, war nicht so sehr für die Richter bestimmt, als vielmehr für Rita in Gestalt der geheimnisvollen Unbekannten in Schwarz. Es war mir so wichtig in ihre Augen zu schauen, mutig und beherzt. Nach allem zu urteilen, gefiel den Richtern mein Auftritt nicht. Jedenfalls hob der Richter mein seltsames Verhalten während der Verhandlung vor der Verkündung des Urteils hervor.

Und dann das eigentliche Urteil. Saschins Bitte wird erfüllt, man schickt ihn an die Front in ein Strafbataillon. In meinem Fall hielt es das Gericht für unerlässlich, entsprechend Artikel 58-10- 11, Absatz 2, die Höchststrafe zu verhängen. Hier machte der Richter eine kleine Pause, und das Mädchen in Schwarz senkte seinen Kopf.

– Allerdings, – fuhr der Richter fort, – wäre es angesichts des Alters des Angeklagten und seines Verhaltens während der Ermittlungen möglich, die Höchststrafe durch zehn Jahre Besserungs-/Arbeitslager mit allgemeinem Haftregime zu ersetzen.

Ich nahm das Urteil ruhig, sogar gleichgültig auf. Immerhin hatte der Ermittlungsrichter mich viele Male vorgewarnt, dass mir zehn Jahre garantiert wären. Erheblich mehr beunruhigte mich die Frage, wer dieses Mädchen war. Ich hoffte, dass jetzt alle aufstehen würden und ich ihr Gesicht sehen könnte. Aber Saschin und ich wurden als erste hinausgeführt, und so blieb ich im Dunkeln.

Sofort nach der Verhandlung transportierten sie mich in einem «schwarzen Raben» ab. Aber nicht ins Ermittlungsgefängnis, in dem ich 90 Tage verbracht hatte, und an das ich mich bereits gewöhnt hatte, sondern ins städtische Gefängnis, das sich am gegenüberliegenden Ende der Stadt befand. Ein altes Gefängnis, erbaut lange vor der Revolution. Vor seinen Fenstern hängen «Maulkörbe» - eiserne Abschirm-Vorrichtungen, welche die Häftlinge daran hindern, Signale in die Freiheit zu geben. Wegen dieser «Maulkörbe» scheint das Gefängnis blind zu sein. Die Zelle, in die mich der Wachmann stieß, wird beinahe vollständig von hölzernen zweistöckigen Pritschen eingenommen. Auf den Pritschen etwas zwölf Mann. Alle mit nacktem Oberkörper. S herrscht eine ungeheure Hitze und Schwüle. Zwischen Pritschen und Wänden nur wenig freier Raum. Dort steht ein riesiger Kübel für die Notdurft. Kein Tisch, kein Stuhl. Ich stehe mit Mamas Tasche in den Händen da und erinnere mich mit Sehnsucht an meine Einzelzelle. Scheinbar schenkt mir niemand Beachtung. Alle sind mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Einer flickt, mit einer Nadel in der Hand, nach Männerart ungeschickt seine Kleidung, einer sucht in den Nähten seines Hemdes, das er ausgezogen hat, nach Ungeziefer, einer liest, ein anderer liegt einfach nur so auf seiner Pritsche da. Man sieht sofort, dass die Haftbedingungen hier milder gehandhabt werden als im Untersuchungs-Isolationsgefängnis. Die Pause zieht sich hin. Ich bleibe weiter stehen, wechsle von einem Bein auf das andere. Ich weiß nicht, was ich als nächstes tun soll. Auf den Pritschen ist kein einziger freier Platz zu sehen. Nach und nach drehen die Zellenbewohner ihre Gesichter in meine Richtung. In ihrem Blick verbirgt sich eine Frage. Ich grüße, teile ihnen meine Gefängniskoordinaten mit: den Paragrafen und die Haftdauer. Alle schweigen. Vielleicht habe ich eine Dummheit begangen, und alle werden gleich lachen. Aber nein, alle schweigen. Scheinbar sind alle älter als ich. Aber vielleicht kommt mir das auch nur so vor, wegen der vielen Borsten, die sie im Gesicht tragen. Manche haben einen Bart. Endlich winkt einer mit akkuratem Professorenbart mich zu sich heran, schlägt seine Beine unter und gibt mir die Möglichkeit mich zu setzen. Er war tatsächlich Lehrer an einer Universität, wenn auch kein Professor. Verurteilt, ebenso wie ich, nach Artikel 58, mit der gleichen Haftstrafe – zehn Jahre. Er war ein interessanter Gesprächspartner und guter Mensch, aber der Altersunterschied bestimmte seine bevormundende Haltung mir gegenüber.

Unter den Zellengenossen befanden sich Leute unterschiedlicher Berufsgruppen: zivile und militärische. Die meisten von ihnen waren nach Paragraf 58 verurteilt worden, fast alle waren zu zehn Jahren verurteilt worden. Ihr Alter war unterschiedlich. Einige von ihnen waren bereits in Lagern gewesen, und hatten nun neue Strafen erhalten. Viele hatten die Grausamkeit der vorliegenden Ermittlungen in voller Härte erlebt. Sie wunderten sich über die Milde, mit der alles bei mir abgelaufen war. Außerdem wunderten sie sich, dass ein Gericht das Urteil über mich verhängt hatte und nicht eine Sondersitzung, wie in den meisten Fällen. Ihrer Meinung nach spielte dabei die entscheidende Rolle der Tatbestand, dass ich die gegen mich erhobenen Anschuldigungen nicht abgestritten hatte und deswegen für einen Gerichtsprozess geeignet war. Bei den Akten derer, die beharrlich ihre Schuld leugneten, zog das Ermittlungsverfahren es vor, diese an einen Sonderausschuss weiterzuleiten. Ihre Berichte öffneten mir die Augen für den Maßstab der Repressionen und die Grausamkeit der Ermittler. Einige der Verurteilten trugen immer noch Spuren von Schlägen. Diejenigen, die bereits im Lager gewesen waren, machten mich mit den Bräuchen und Gesetzen des Lagerlebens bekannt.

In dieser Zelle verbrachte ich weniger als einen Monat. Ende Juni wurde ich zur Etappe gerufen. Es fiel mir schwer mich von den gerade erst neu erworbenen Kameraden zu trennen und mich auf den Weg ins Unbekannte zu machen. Aber ich konnte nichts machen. So sind die Gesetze des Gefängnislebens, und es sollte in meinem Leben noch viele solcher Etappen geben. Allerdings ist diese Etappe ungewöhnlich – sie besteht lediglich aus mir und einem Wachmann. Sie bringen mich zum Bahnhof und setzen mich in einen Waggon. Nichts von dem, was die ehemaligen Lagerinsassen mir berichtet haben. Keine lange Reihe von Häftlingen, keine Vielzahl von Wachsoldaten, keine Hunde. Was bedeutet das? Wohin bringen sie mich, weshalb? Ich beschließe den Wachmann zu fragen. Er antwortete ruhig, dass er mich ins mitschurinsker Durchgangsgefängnis begleiten sollte, mehr wüsste er auch nicht. Bis nach Mitschurinsk warn es siebzig Kilometer. Das sind höchstens zwei Stunden Fahrt. Aber einstweilen steht der Zug noch. In den Waggon kommen Menschen mit Koffern, Taschen, nehmen ihre Plätze ein. Der Wachmann und ich sitzen nebeneinander, Schulter an Schulter. Erraten die Passagiere, dass ich ein Gefangener bin und der neben mir sitzende gutmütige, dicke Mann mit dem runden Gesicht in der paramilitärischen Uniform – mein Bewacher?

Wenn ich doch nur Mama eine Nachricht übermitteln könnte. Jetzt könnte sie bei mir sein. Wenigstens anstelle dieser Bäuerin mit dem schwarzen Kleid und den beiden großen Körben. Allein bei diesem Gedanken schnürt es mir vor Sehnsucht das Herz zusammen. Ich muss sie unbedingt noch einmal, wenigstens für ein paar Minuten, sehen, sie umarmen, an mich drücken und ihr vor allen Dingen sagen, wie sehr sie mir fehlt, wie sehr ich sie liebhabe. In meinem Kopf schwirrt ein völlig unsinniger Gedanke herum: fliehen. Mit einem nagenden Gefühl und voller Schmerz koste ich ihn aus. Bis zur Tür sind es gerade einmal drei Schritte. Der Wachmann scheint zu dösen. Ich erinnere mich daran, wie Saschin und ich, als wir uns vor dem Schaffner aus dem Staub machten, aus dem Waggon des fahrenden Zuges gesprungen waren. Damals war alles gut ausgegangen. Vielleicht habe ich auch jetzt Glück. Wenigstens nach Hause laufen und Mama sehen, und dort komme dann, was wolle, ich werde mich selbst ins Gefängnis begeben. Ich muss nur den richtigen Augenblick erwischen, wenn der Zug Fahrt aufnimmt und sich von der Bahnstation entfernt. Alles verkrampfte sich, ich beugte mich vor, stellte Mamas Tasche an die Seite, warte, dass der Zug sich in Bewegung setzt. Mein Herz klopft. In Gedanken gehe ich den Weg, den ich damals mit Sumatsch gegangen bin. Ob er schießen wird? Und wenn, wird er dann aus dem fahrenden Zug fallen? Nein, wahrscheinlich wird er ebenfalls abspringen. Aber hier wird es für mich leicht sein, vor ihm fortzulaufen. Er hat so kurze Beine. Wunsch und Angst kämpfen in mir. Die Brust wird von dem heftig klopfenden Herz erschüttert, die Muskeln sind angespannt, die Hände ruhen auf dem harten Sitz, der Körper ist vornübergebeugt. Ich kniff die Augen zusammen und sah aus dem Fenster, jetzt bewegt sich der Zug. Und in diesem Augenblick erscheinen auf der Plattform zwei Milizionäre, fangen an zu rauchen und sprechen irgendetwas miteinander. Der Zug fährt, das Rattern der Räder nimmt zu. Das war’s! Mit Erleichterung begreife ich, dass es meinem wilden Plan nicht vergönnt ist verwirklicht zu werden. Eine schreckliche Schwäche befällt mich, als ob ich mindestens ein Dutzend Kilometer weit gerannt wäre. Mit Schrecken denke ich daran, was für eine Dummheit ich hätte begehen können. Es wäre schlimmer gewesen als der Abschied von Raskasowo. Ich lehnte mich ans Fenster und döste ein.

Ich kam erst wieder zu mir als wir uns Mitschurinsk näherten. Am Bahnhof erwartete uns bereits ein „schwarzer Rabe“. An manche Tage, die ich im mitschurinsker Gefängnis verbrachte, kann ich mich nur schlecht erinnern. Hier wurde eine große Etappe in den Osten zusammengestellt, wohin genau – das wusste niemand. Man transportierte uns zwei Tage in Güterwaggons. Wir durchfahren Kirssanow, Rtischtschewo, Atkarsk. Das heißt – bald sind wir in Saratow. Das Herz zieht sich zusammen. Bald kommt Poliwanowka, unsere Datschen-Haltestelle. Ich versuche an die kleine Fensteröffnung, in Fahrtrichtung auf der rechten Seite des Waggons, zu kommen. Von dort kann man unseren Garten sehen. Doch es gelingt mir nicht daran zu kommen. Die Pritschen am Fenster sind von Kriminellen besetzt, und sie darum zu bitten ist nutzlos. Ich finde einen kleinen Spalt, ein herausgeschlagenes Holzstück. Aber das Sichtfeld ist zu klein. Alles fliegt vorbei. Ich konnte nichts sehen, aber umso stärker fühlte ich, dass wir an den heimatlichen Orten vorüberfuhren. Das war alles! Die Vororte von Saratow kamen. Mehr als zehn Jahre war ich nicht mehr dort gewesen. Wir wurden auf einem Abstellgleis abgestellt. In der Nacht bewegen wir uns weiter, wir fahren langsam, wobei wir immer wieder anhalten. Endlich sind wir anscheinend angekommen. Bis zum Morgengrauen standen wir auf einem freien Stück Land. Am Morgen das Abladen. «Sarlag», KOLP – die Kommandanten-Sonderlagerstelle in der Nähe Saratow. Hierher gehen die Etappen aus sämtlichen Lagern des Landes. Zwei Tage, und neu formierte Etappen werden für den Bau von Erdöl-Cracking-Anlagen und Bahnlinien entlang der Wolga nach Stalingrad in die Lager geschickt. Lediglich Häftlinge deutscher Nationalität werden zurückbehalten. Aus ihren Reihen wurde eine Etappe in den Ural zusammengestellt. Aber einstweilen stehen sie in Diensten. Zur Arbeit außerhalb der Lagerzone werden nur Freiwillige geschickt. Das verschafft ihnen dreihundert Gramm Brot zusätzlich. Das Durchgangsgefängnis ist riesig, ich habe bisher kein größeres gesehen. Der Staketenzaun mit Stacheldraht, der es umgibt, und die Wachtürme verlieren sich in der Ferne. Mehrere Reihen langgezogener Baracken oder in den Boden eingegrabener Erdhütten. Tagsüber «steckt» dort das Lagervolk. Mitunter nach Volkszugehörigkeit. An einer Stelle, hockend, eine Gruppe Usbeken in langen, zerrissenen Kitteln; sie trinken Tee. Es hieß, dass sie den Aufguss gegen Brot eintauschten und vor lauter Hunger Ödeme hatten. An einer anderen Stelle eine Gruppe Kaukasier, die, wütend gestikulierend, irgendwelche Probleme diskutieren. Und keinerlei Anzeichen nationaler Feindschaft. Inmitten der Lagerzone zwei hohe, in den Boden eingegrabene Pfähle. An ihnen ist eine riesige Leinwand angebracht. Wenn es dunkel wird, laufen hier Filme. Hauptsächlich Dokumentarfilme. Die Gefangenen setzen sich direkt auf den Boden zu beiden Seiten der Leinwand.

Die Baracke, in der man mich unterbrachte, erwies sich als riesig. Drei Reihen niedriger Pritschen, auf denen die Gefangenen, nachdem sie ihren Mantel, ihren Überrock oder ihre Steppjacke darauf ausgebreitet hatten, schliefen, in ihrer Mehrheit Deutsche, die zur Etappe ausgewählt worden waren. In der Baracke Halbdunkel. Es gibt nur wenige kleine Fenster, in deren Nähe die untere Strippe der Pritschen gerissen ist. An einer dieser Stellen wurde mit Hilfe alter Lagerdecken ein kleiner Raum abgeteilt – so eine Art kleines Zimmerchen. Darin stehen zwei Bettstellen, ausgelegt mit neuen Wolldecken, Kissen in sauberen weißen Bezügen. Zwischen den Liegen ein Nachttisch. Dort wohnten zwei Deutsche. Kaiser und Gorn (Horn). Kaiser – betagt, hager, mit ein paar grauen Haaren. Gorn – jung, um die dreißig, kräftig gebaut, mit einem starren schwarzen Haarschopf. In ihrer Nähe liefen ständig irgendwelche verdächtigen Gestalten herum, die irgendetwas brachten oder wegholten, über irgendetwas beratschlagten, manchmal schauten die Wärter vorbei. Während der Kontrollen, wenn sich alle, selbst die schwer Erkrankten, entlang der Pritschen aufstellen mussten, blieben Kaiser und Gorn weiter in ihrem Koben sitzen und, was besonders merkwürdig schien, die Wachen befahlen ihnen während des Durchzählens nicht, ebenfalls Aufstellung zu nehmen. Zum Mittagessen brachte man ihnen aus der Krankenhaus-Küche Essen, von dessen Geruch allein mir schon der Magen schmerzte. Und niemand fiel über sie her, niemand versuchte ihnen etwas davon wegzunehmen oder zu stehlen.

Abends mochte Kaiser gern Schach spielen, aber er spielte nicht besonders gut. Ich, der genau über ihm lag, machte mir das zunutze und, nachdem ich meinen Mut zusammengenommen hatte, erklärte ich Kaiser, welche Folgen der von ihm unbedacht ausgeführte letzte Zug haben könnte. So lernten wir uns kennen. Kaiser erwies sich als interessanter Gesprächspartner; er war belesen, hatte Vieles gesehen und erfahren. Aus seinen Erzählungen folgte, dass er in seinem Leben bereits in zahlreichen Lagern und Gefängnissen gewesen und einer Menge interessanter Menschen begegnet war. Er kannte eine große Anzahl Gaunerlieder und, was mich besonders verblüffte – Schillers Balladen. Horn war einfacher und offenkundig dem Willen Kaisers unterstellt. Sie protegierten mich. Halfen mir, mich auf die Etappe und den herannahenden Winter vorzubereiten. Sie beschafften mir, wenn auch keine neue, so doch ausreichend warme, wattierte Mütze und eine recht anständige Steppjacke. Sie statteten mich mit einem Kochgeschirr und einem Holzlöffel aus, ohne die ein Leben im Lager nicht möglich ist.

Mitte August wurde endlich eine Etappe in den Ural zusammengestellt. Auf dieser Etappe gab es ausschließlich Deutsche. Verladung – am späten Abend. Und ich litt unter Nachtblindheit. Nur mit Mühe erkenne ich den langen Zug aus Güterwaggons. An jedem Waggon zwei Begleitsoldaten und 50-60 Menschen, die sich auf das Einsteigen der Häftlinge vorbereiten. Außerdem um den Gesamten Zug ein allgemeiner Absperrdienst – Maschinengewehr-Schützen mit Hunden. Und so gut wie keine Beleuchtung. Nur die Lichtflecken von den Taschenlampen in den Händen der Bewachungsführer. Kaiser, Gorn und ich kommen entsprechend der Listen zusammen in einen Waggon. Bis heute kommt mir das merkwürdig vor.

Endlich das Einsteigen. Im Waggon, direkt an der Decke, ein kleines Lämpchen. Links und rechts der Türen Pritschen, welche ihn in zwei Etagen einteilen: eine obere und eine untere. Es ist bereits kühl, besonders nachts, und alle wollen einen Platz auf den Kojen einnehmen. Doch auch hier hat Kaiser das letzte Wort. Er und Gorn nehmen die besten Plätze ein: auf einer Koje auf der rechten Seite, in Fahrtrichtung, an einer kleinen vergitterten Fensteröffnung. Dort fanden sie auch für mich einen Platz.

Worin liegt ihre geheimnisvolle Kraft? Kein Schimpfen, kein Geschrei, keine Drohungen. Ihrem Willen ordnen sich die meisten der in den Waggon geratenen Gefangenen unter. Und was noch viel merkwürdiger ist, dass die Wachen respektvoll mit ihnen sprechen. Lager- «Paten» solcher Art bin ich, wenn sie es denn waren, nie wieder begegnet. Wie dem auch sei, ihre Schirmherrschaft erleichterte mir den Eintritt ins Lagerleben erheblich.

Endlich schlossen sich die schweren Türen. Die Wachen klopften mit langen hölzernen Hämmern die Bodenplatten und Wände der Waggons ab. Die letzten Kommandos ertönten. Die allgemeine Absperrung wurde entfernt. Im Waggon begeben sich die Häftlinge im Halbdunkel auf ihre Nachtlager, nachdem sie das in einer Ecke liegende Stroh auseinandergezogen haben. Aber es gab zu wenig davon. Es entstand ein Streit. Hinzu kam noch, dass niemand in der Nähe des Fäkalieneimers liegen wollte.

Ein Pfeifsignal ertönte, der Zug setzte sich in Bewegung, und unter dem gemessenen Rattern der Räder begann unsere Fahrt in den Ural. Der Zug fuhr langsam, er ließ Militär-, Passagier- und sogar Güterzüge passieren. Lange Zeit hielten wir an Halbstationen und auf Abstellgleisen, oft auch auf freiem Feld. An großen Bahnhöfen fuhren wir vorbei, ohne anzuhalten, und das häufig nachts oder auf Umwegen. Jeden Morgen und Abend, sobald der Zug auf einem Abstellgleis stand, fingen sie an zu kontrollieren. Die Wache jagte sämtliche Häftlinge in eine Hälfte des Waggons, und schickten sie dann einzeln in die andere. Dabei legte der Wachmann, der die Buchführung innehatte, es darauf an, jedem vorübergehenden mit seinem Holzhammer auf den Rücken zu schlagen. Das beschleunigte die Kontrolle merklich. Bereits am zweiten Tag unserer Fahrt hatten wir begriffen, dass die Begleitwache nicht aus dem SarLag stammte. Wir merkten es daran, dass auch Kaiser und Gorn der allgemeinen Vorgehensweise bei den Überprüfungen ausgesetzt waren. Doch das erschütterte ihre Autorität in unserem Arrest-Milieu nicht.

Im Waggon befinden sich ausschließlich Deutsche, fast alle stammen von der Unteren Wolga. Die überwiegende Mehrheit von ihnen hatte in der Vergangenheit als Bauern gearbeitet. Kräftige Leute, die an körperliche Tätigkeiten und Entbehrungen gewöhnt waren. Niedergeschlagene, unterdrückte, unglückliche Menschen. Verurteilt worden waren sie vorwiegend nach § 58 oder nach dem Ukas «vom 7. August» über den Diebstahl von Staatseigentum (Gesetz über die drei Ähren). Da sie nur schlecht Russisch können, ziehen die meisten es vor Deutsch zu sprechen. Sie unterhalten sich in erster Linie über Ereignisse, die im Zusammenhang mit der Aussiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet im Zusammenhang stehen. Jeder hat seine eigene Geschichte, sein eigenes Schicksal. Ein verwüstetes Heim, umgekommene Eltern, verloren gegangene Kinder, Misshandlungen durch die Wachen und manchmal auch seitens der Ortsbewohner. Und all das nur deswegen, weil sie Deutsche sind. Diese Menschen verhielten sich ruhig gegenüber den Unbilden ihres persönlichen Lebens. Das, was sie am meisten quälte, waren die Ungewissheit und die vollkommene Hilflosigkeit, die Unmöglichkeit den, wie sie glaubten, zum Untergang geweihten Angehörigen zu helfen. Mit schlechten Worten sprachen sie über Hitler, der ihr ganzes Unglück provoziert hatte, aber auch über ihre Vorfahren, die den Versprechungen Katharinas II Glauben geschenkt und beschlossen hatten, nach Russland zu kommen. Und kein Wort der Verurteilung, zumindest kein laut ausgesprochenes, gegen die Sowjetregierung. Man war beeindruckt von ihrer vollkommenen Demut vor ihrem Schicksal.

Aber im Waggon gab es auch Menschen eines anderen Schlags: entschlossene, knallharte. Die meisten von ihnen waren Bürger, die der russischen Sprache mächtig waren. Unter ihnen Berufssoldaten, die in den ersten Monaten des Krieges aus der Armee entlassen worden waren, sowie Kriminelle. Letztere verhielten sich im Waggon im Zusammenhang mit dem allgemeinen Unglück, welches die Deutschen ereilt hatte, relativ tolerant und unterwarfen sich auf geheimnisvolle Weise dem Willen Kaisers.

Die Verpflegung während der Fahrt war schlecht. Pro Tag 300 Gramm Brot und ein Stück gesalzenen Fischs, aber besonders litt man infolge der Unterbrechungen bei der Versorgung mit Wasser, und diejenigen, die rauchten – auch noch wegen des Tabakmangels. Allerdings verstanden es die Raucher mit der Zeit mit den Wachen zu verhandeln, woraufhin die wenigen Sachen, die ihnen gehörten in die Freiheit wanderten und dort gegen Machorka eingetauscht wurden. Schon bald wurden die Tauschoperationen zu einem beständigen System. Kleidung und Geld wurden nicht nur gegen Tabak eingetauscht, sondern auch gegen Lebensmittel. Ungefähr zur selben Zeit sickerte die Information durch, dass man uns ins UsolLag brächte, eines der zahlreichen Holzfäller-Lager, welches im Norden des Permer (damals Molotowsker) Gebiets lag. Sogar das Endziel der Bahnreise wurde bekannt – die Stadt Solikamsk. Geübt im «Stadt»-Spielen versuchte ich vorherzusagen, durch welche großen Bahnhöfe unser Zug fahren würde, und dabei irrte ich mich praktisch nicht. Die Reise führte über Syrsan. Uljanowsk, Kasan, Ischewsk, Perm (heute Molotow).

In unserem Waggon befand sich ein gewisser Adler, der diese Orte, nach seinen eigenen Worten, gut kannte. Er gab uns auch die ersten Informationen über das UsolLag, die Arbeits- und Haftbedingungen. Die Hauptsache war, dass es sich nicht um ein Regime-Lager handelte, infolgedessen man Briefe schreiben und erhalten durfte. Jemand erinnerte sich, dass es beim Lager Angehörige der Arbeitsarmee gab – mobilisierte Deutsche, die ebenfalls unter Wachbegleitung standen.

Adler selbst zeichnete sich durch seine militärische Haltung, einen hervorragenden Körperbau, einen unabhängigen und offensichtlich starken Charakter aus. Seine Beziehungen zu Kaiser gestalteten sich kühl. Aus seinen spärlichen Erwiderungen konnte man schließen, dass er im Ural aufgewachsen war und in der Armee im Rang eines Oberleutnants gedient hatte. An der Front hatte er eine Aufklärungskompanie kommandiert. Als der Befehl zur unverzüglichen Demobilisierung kam, weigerte er sich zu gehorchen und begab sich mit seiner Gruppe zum nächsten Aufklärungseinsatz, aber er wurde abgefangen und von einem Militär-Feldgericht verurteilt. Später kamen wir im UsolLag in dieselbe Lagerstelle, aber dazu später mehr.

In Solikamsk trafen wir erst am zehnten Tag ein, erschöpft von Durst, Hunger und der stickigen Luft. Schon bald tauchten Absperrungen auf, man hörte das Schreien von Kommandos, Hundegebell, die schweren Waggontüren wurden mit lautem Quietschen geöffnet, und wir, alle gleichzeitig hinausspringend, nahmen mit unseren Kleidersäcken Aufstellung. Es folgten mehrfache Kontrollen, das Vergleichen von Formularen, und dann führen sie uns auch schon in einer langen grauen Kolonne zu den Toren der Kommandanten-Lagerstelle. Sie befand sich ganz in der Nähe. Eine spezielle Bahnzweiglinie verhinderte, dass die Bewohner der Stadt die tägliche Bewegung der Häftlinge wahrna

 

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