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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Teil II. Hinter Stacheldraht

Kapitel 9. Am Rande des Lebens

Gefangenenlager tauchten in der Sowjetunion in den ersten Jahren nach der Revolution auf. Verteilt über das gesamte Territorium des unermesslich weiten Landes, verschmolzen sie im Laufe der Zeit zu einer Art Archipel, welches nicht auf unseren Landkarten markiert ist – dem von A. I. Solschenizyn so eingehend erforschten «Archipel Gulag». Der Archipel wuchs und entwickelte sich zusammen mit dem Land. In einem nicht endenden Strom trieb man die Häftlinge hinein: von Schachtanlagen, Feldern, aus Instituten und Akademien, aus der Armee. Während des Krieges nahm die Zahl der Gefangenen nicht nur nicht ab, sie stieg vielmehr an. Zu dem Strom der nach den traditionellen politischen und alltäglichen Paragrafen Verurteilten gesellte sich der Schwall derer, die «Gerüchte verbreitet» und «Panik gesät» hatten. Sie alle bekamen gemäß einem Sonder-Dekret, welches in den ersten Kriegstagen verabschiedet worden war, jeweils fünf Jahre aufgebrummt. Anschließend kam der Strom derer, die «Rundfunkempfänger und Radio-Bauteile nicht abgegeben hatten ». Für eine einzige gefundene (nach Denunzierung) gefundene Funkröhre gab es zehn Jahre. Ab dem Ende des Sommers 1941, und noch mehr im Herbst, ergoss sich der Strom derer, die eingekesselt worden waren. Sie, die sich in der Umzingelung befunden hatten und von dort vor allem vor den Kämpfen geflohen waren, wurden auf Beschluss einer Troika mit zehn Jahren bestraft. Der Sieg bei Moskau brachte den Schwall an Gefangenen hervor, die nach Meinung der Behörden, in Erwartung des Eintreffens der Deutschen, nicht aus der besetzten Hauptstadt evakuiert wurden. Der Strom der nach §58 verurteilten Menschen wollte nicht enden. Bestraft wurden nach ihm Evakuierte, wenn sie von den Schrecken des Rückzugs berichteten. Nach ihm wurden auch Frontsoldaten verurteilt, die es gewagt hatten zu sagen, dass die Deutschen über gute Technik verfügten. Im Hinterland bestraft man nach diesem Paragrafen jene, die sich über die schwierigen Lebensbedingungen beklagten und angeblich verleumderische Gerüchte verbreiteten, dass im unter Blockade stehenden Leningrad die Menschen verhungerten.

Die Behörden bezeichneten die Gefangenenlager als Besserungs-/Arbeitslager (ITL), als wollten sie darin jemanden verbessern. In Wirklichkeit waren sie hauptsächlich dafür bestimmt, dem Land auf billige Art und Weise Erz, Kohle und Holz zu beschaffen, Fabriken, Bahnlinien, ganze Städte zu bauen. Zu den Millionen Gefangenen des Archipel-Lagers kamen während der Kriegsjahre hunderttausende Angehörige der Arbeitsarmee hinzu, von denen ein bedeutender Teil Russland-Deutsche waren. Die Bedingungen, unter denen sie gehalten wurden, unterschieden sich nur wenig vom Leben der Häftlinge: Lagerzone, Stacheldraht, bewaffnete Wachen, Arbeit und Fortbewegung unter Aufsicht, Hunger-Rationen. In Abhängigkeit von dem Kontingent (Paragraf und Haftstrafe) wurde das ITL in Lager mit allgemeiner Haftordnung, Regimelager und Sonderlager unterteilt.

Das UsolLag, in dem unsere Etappe eintraf, war ein Holzbeschaffungslager mit allgemeinen Haftbedingungen, und es gehörte zum System der Lagerhauptverwaltung der Forstindustrie (GULLP). Kurz vor unserem Eintreffen war aus ihm das NyrobLag hervorgegangen. Diese beiden Lager nahmen den nördlichen Teil des damaligen Molotowsker, heute Permer Gebiets ein, und umfassten ein Territorium, das mit europäischen Ländern wie Belgien, die Niederlande und Dänemark vergleichbar war. Die Leiter dieser Lager waren souveräne Herren über das ihnen anvertraute Territorium. Das dort beschaffte Holz wurde teils in Flößen auf dem Fluss Kama weitertransportiert, teils in den im Gebiet Molotow gelegenen Papier-, Furnier- und Wohnungsbau-Kombinaten weiterverarbeitet.

Das UsolLag bestand aus einigen Dutzend separaten Nebenlagern, OLPs. Unter ihnen gab es ein Kommandanten-Lager (KOLP), das in der Stadt Solikamsk stationiert war. Gewöhnlich nannte man es Durchgangslager. Alle Gefangenen, die ins UsolLag kamen oder es verließen, mussten es durchlaufen. Zum UsolLag gehörten auch das Nischne Moschewsker Krankenhaus und das landwirtschaftliche Nebenlager «Soljanka». Es gab auch Bau-Nebenlager. Aber bei der überwiegenden Mehrheit der OPLs handelte es sich um Holzbeschaffungslager.

Jedes Holzfäller-OLP grenzte an einen Fluss, an den das Holz der gefällten Bäume transportiert und auf dem es dann geflößt wurde. Die Hauptwasserarterie für das UsolLag waren die Kama sowie ihr Nebenfluss, die Wischera, aber auch ihre kleineren Zuflüsse: Jaswa, Kolba. Pilwa, Kosa, Uralka und andere. Das OLP bestand aus mehreren Nebenlagerstellen – Lagerpunkten (LPs), welche als «Komandirowkas» bezeichnet wurden. Unter ihnen ein «Stabs-» OLP, in dem sich die Leitung des OLP befand. Die übrigen Nebenstellen waren Produktionsstellen. Jede Nebenstelle beinhaltete in der Regel eine Wohn- und eine Produktionszone, ein Städtchen der militarisierten Wachen (WOCHR), wo außer dem Begleit- und Aufsichtspersonal auch die Familien des leitenden und des diensthabenden Zivilpersonals wohnten. Hier befanden sich Lagerhallen, ein Kraftwerk und die Telefonzentrale.

Die Wohnzone nahm für gewöhnlich die Form eines Rechtecks mit einer Fläche von einem bis zu drei Hektar ein und war von einem zwei-drei Mann hohen Staketenzaun mit oben gespanntem Stacheldraht umgeben. An den Ecken Wachtürme. Innerhalb dieses Vierecks, an seiner Innenseite, eine zwei Meter breiter Sperrbereich – die «Sapretka» (Verbotszone; Anm. d. Übers.) – ein aufgegrabener und geharkter Erdstreifen, an der Innenseite umgeben von demselben Stacheldraht. Diejenigen, die den Fuß auf diese «Sapretka» setzten riskierten viel, sogar ihr Leben. Der Ausgang aus der Zone erfolgte am Wachthaus vorbei, neben der sich ein Tor und ein Pfosten mit einem daran gehängten Schienenstück befanden. Durch Schläge darauf wurden die Häftlinge über das Aufstehen, den Arbeitsausmarsch und die Nachtruhe benachrichtigt.

Innerhalb der Zone Baracken, von denen eine als Großküche fungierte (Küche, Essraum, Brotschneidestelle), eine andere als Badehaus, Wäscherei, Friseurladen. Separat in verschiedenen Baracken, manchmal auch in einer einzigen konzentriert, waren Krankenhaus, Ambulatorium und Sanitätsstelle untergebracht. Die übrigen waren Wohnbaracken. Näh- und Reparatur-Werkstätten, Kleiderkammer, Kultur- und Erziehungsstelle (KWTsch), Erfassungs- und Verteilungsstelle (URTsch), Büro und andere Dienststellen befanden sich gewöhnlich in abgetrennten Sektionen der Wohnbaracken. In jedem Lagerpunkt gab es mit Sicherheit auch einen Strafisolator oder eine Baracke mit verschärfter Haftordnung (BUR).

Das ist in gewisser Weise die allgemeine, abstrakte Architektur eines Lagerpunktes. In jedem konkreten Fall waren jedoch Abweichungen von diesem Schema keine Seltenheit.

Der Solokamsker Kommandanten-Lagerpunkt. Hier verbrachten wir nicht mehr als eine Woche, nur so lange, bis unser weiteres Schicksal festgelegt worden war. Während der gesamten Zeit hielt man uns in der Quarantäne-Zone, die von der Hauptzone durch einen schmalen, mir Drahtzaun versehenen, Korridor gegrenzt war. Auf diese Weise kam ein direkter Kontakt mit der ansässigen kriminellen Welt nicht zustande kam. Freilich hatte es auch auf unserer national artgleichen Etappe Kriminelle gegeben, aber es waren nur sehr wenige gewesen und sie hatten auch nicht den Ton angegeben. Eindeutig dominierten ländliche Bewohner, die zwar ein wenig verstört waren, aber dennoch ihr Gefühl für bäuerliche Würde wahrten. Ihre schwieligen Hände, die an körperliche Arbeit gewöhnt waren, erweckten Vertrauen, und die deutsche, wenn auch nicht sehr literarische, Sprache weckte Erinnerungen an die Kindheit.

Es gab deutlich weniger Städter. Sie wurden abgesondert gehalten, redeten viel, führten Streitgespräche, häufiger auf Russisch. Einen von ihnen, einen ehemaligen Studenten des pädagogischen Instituts in Engels, lernte ich kennen. Wenn ich mich nicht irre, lautete sein Nachname Fisch. An den Vornamen kann ich mich nicht mehr erinnern. Während der Aussiedlung der Deutschen floh er in eines der russischen Dörfer, um sich von seiner Braut zu verabschieden. Sie war Russin und konnte lange nicht begreifen, wollte nicht glauben, dass ihre Trennung unausweichlich war. Hier Abschied zog sich in die Länge. Als er zurückkehrte, schickten sie ihn in die Arbeitsarmee, und alles hätte ein verhältnismäßig gutes Ende gefunden, wenn die Braut nicht gewesen wäre. Als sie Zuhause ankam, bekam sie vor ihrem Vater einen hysterischen Anfall und beschuldigte ihn, die Partei und die Landesführung, dass sie an all dem Unheil schuld wären. Während dessen war ein Fremder anwesend. Fisch wurde ausfindig gemacht, nach Engels gebracht und zusammen mit seiner Braut nach § 58-10 verurteilt; beide bekamen 10 Jahre Besserungs-/Arbeitslager aufgebrummt.

Fisch konnte besser Deutsch als ich und bekam leichter Kontakt zu den ehemaligen Kolonisten, von denen viele sehr schlecht Russisch sprachen. Ihr Schicksal war ebenso absurd und tragisch wie das Schicksal Fischs selbst. Ich erinnere mich an das Schicksal eines alten Mannes. Wie im Falle Fischs hing auch seine Verhaftung mit der Aussiedlung der Deutschen zusammen. Der Zug fuhr lange Zeit nicht ab. Am späten Abend begab er sich, nachdem er die Aufmerksamkeit der Wachen getäuscht hatte, zurück in sein Dorf, welches zum Glück nicht weit entfernt lag, um die angebundene Kuh freizulassen. Als er dort ankam, berichtete er den anderen Dorfbewohnern mit lauten Worten, wie schrecklich die Nacht im Dorf gewesen wäre, wie die Hunde geheult und die Kühe gemuht hätten. Selbstverständlich fand sich sofort jemand, der ihn denunzierte. Er bekam zehn Jahre und wurde in ein Holzfäller-Lager geschickt.

Es gab in unserer Etappe auch alte Lagerinsassen, die nach mehreren Jahren Kolonnenarbeit wie durch ein Wunder am Leben geblieben waren. Sie bereiteten sich mit Sachkenntnis auf den Winter vor: sie besserten ihr Schuhwerk aus, flickten die mit Fell verbrämten Westen, Überzieher, Handschuhe. Freilich gab es auch Streitereien und Geschimpfe. Die jungen Leute fluchten auf Russisch, die älteren zumeist auf Deutsch. Und ich glaubte in meiner Naivität, dass es derartige Wörter in der deutschen Sprache überhaupt nicht gab. Und doch fühlte ich mich gut, so gut es eben unter Lagerbedingungen ging. Freilich, wir wurden äußerst knapp verpflegt, aber dafür jagten sie uns auch nicht zur Arbeit. Wir lungerten in dem begrenzten Raum der Quarantäne-Zone herum, genossen die unerwartete Erholung und die frische Luft und rätselten, was uns wohl als Nächstes erwarten würde. Kaiser und Gorn führten schwierige Verhandlungen mit den Barackenführern, offenkundig war ihnen an mir nichts gelegen, und ich war in gewisser Weise auch froh darüber. Es war eine Sünde sich über das Schicksal zu beklagen. Nur das Brackwasser bereitete mir Sorgen – und der beleidigende Spitzname «Faschisten», die uns die Gefangenen der Haupt-Lagerzone über den Stacheldraht herüber verliehen hatten.

Leider endete das alles schnell. Es wurde eine Etappe zusammengestellt, die ins Beresowsker OPL verschickt werden sollte. Eine lange Kolonne, begleitet von einer verstärkten Wachbegleitung und Hunden, bewegte sich auf dem Solikamsker Trakt Richtung Norden. Leichter Herbstregen nieselte herab und durchnässte Kleidung und Schuhwerk. Auch die unter dem Hemd verborgene Brotzuteilung weichte auf, die als Trockenration für unterwegs ausgegeben worden war. Und das beunruhigte am meisten. Um alles Unheil noch zu vervollständigen, riss der Riemen, mit dem die abgefallene Schuhsohle festgebunden war. Anhalten war unmöglich, und so musste ich mein Bein ruckartig nach vorne werfen, damit die unselige Sohle, die nun umgeknickt war, sich nicht vollständig löste. Wir nächtigten in Baracken irgendeines verlassenen Lagerpunktes. Ihre kleinen Fenster waren mit dicken Brettern zugenagelt, die Türen abgesperrt. Drinnen herrschte wahre Dunkelheit. Einige schliefen auf den Pritschen, andere direkt auf dem Fußboden. Und es gab nichts in der Art eines Aborteimers. Ich habe mich lange Zeit an diese Nacht erinnert. Der Morgen war klar und sonnig, die Luft war vom Duft der Tannennadeln erfüllt. Aber die durchweichte Kleidung klebte widerlich am Körper, und das Fehlen der Essensration, die ich gezwungen war in der stockdunklen Baracke aufzuessen, machte das Leben leer und sinnlos.

Gegen Abend trafen wir am Stabslagerpunkt des Beresowsker OLP ein. Hier wurden wir auf «freie» Plätze in den Baracken gestopft. Viele, unter anderem auch ich, mussten sich auf dem blanken Fußboden einrichten. Jeder Protektion entzogen, herausgerissen aus dem Milieu mir bis zu einem gewissen Grad nahestehender Menschen, war ich in einem einzigen Augenblick allein unter mir feindselig gesinnte Elemente geraten. Dann, später, im Arbeitsnebenlager, als ich Mitglied einer Brigade wurde, war dieses Gefühl schon nicht mehr so stark, denn die Brigade – sie stellte trotzdem einen gewissen Schutz da. Hier fühlte ich mich vollkommen schutzlos. Nur gut, dass ich keine Sachen besaß, welche das Interesse der Kriminellen hätten wecken können. Schlimmer waren diejenigen dran, die etwas zum Wegnehmen besaßen. Am Morgen jagten sie uns zur Kommission. Wir betraten eine kleine Amtsstube, wo an einem Tisch mehrere Militärpersonen saßen, drehten uns mit den Rücken zu ihnen und ließen unsere Hosen fallen. Anhand der Rundheit unserer, verzeihen Sie, Gesäßbacken bestimmte die hohe Leitung die Kategorie für unsere Arbeit. Mir fiel die erste zu, und das war folglich der Holzeinschlag. Am selben Tag schickten sie alle, die für das Arbeiten im Wald für tauglich befunden worden waren, mit einer Etappe zum Arbeitseinsatzkommando «Kolynwa» (verwechseln sie es nicht mit Kolyma!).

Kolynwa – der gewöhnlichste Produktionslagerpunkt des Holzbeschaffungs-OLP. Holz schlagen, Baumstämme rücken, Abtransport des geschlagenen Holzes. Zur Durchführung der Holzbeschaffungsarbeiten wurde für gewöhnlich ein rechteckiges Revier mit einer Fläche von 20-30 Hektor zugeteilt. An seinen Außenseiten wurde eine Absperrzone eingerichtet. Die Bäume wurden nahe der Wurzel in einem breiten, zehn Meter langen Streifen abgeholzt, Büsche und hohes Gras abgeschnitten und niedergetreten. An den Ecken des Reviers, mitunter auch in größerer Anordnung, standen Wachtürme. Nachdem die Absperrzone eingerichtet und die Wachtürme von Wachleuten besetzt worden waren, wurden die Arbeitsbrigaden eingelassen. Zumeist befanden sich in solchen Brigaden Holzfäller, Asthauer, Feueranmacher, Ablänger. Aber mitunter wurden all diese Arbeitsvorgänge von einer Gruppe erledigt. Holzfällerei galt immer schon als eine sehr schwere Arbeit. Aber in jenen Jahren, als man die Bäume mit einer gewöhnlichen Zweihand-Säge fällte, war diese Tätigkeit mit Zwangsarbeit gleichzusetzen, besonders im Winter. Es war kein Zufall, dass die Lagerinsassen während des Krieges (bei Kriegsverpflegung) drei Wochen Bäumefällen als trockene Erschießung bezeichneten.

Dabei hatte ich noch Glück. Die Bekanntschaft mit der Holzfällerei begann für mich im Herbst, als noch kein Schnee lag und es keinen klirrenden Frost gab. Und mein Arbeitskollege erwies sich als gut. Ein alter, weiser Lagerinsasse, der in der Vergangenheit ein lettischer Schütze gewesen war. Er hieß Jan, an seinen Nachnamen kann ich mich nicht mehr erinnern. Er war 20-30 Jahre älter als ich und hatte zu der Zeit, als wir uns begegneten, bereits ungefähr fünf Jahre abgesessen. In seiner Person gewann ich einen neuen Gönner und war darüber sehr froh. Jan war riesengroß, körperlich kräftig und nicht gerade mager. Sein blassgraues Gesicht bildete einen scharfen Kontrast zu seinem leuchtend roten Zottelbart. Und obwohl er weder belesen noch gebildet war, steckte er randvoll mit Lebens- und vor allem Lager-Weisheit. Als der Brigadeführer ihm befahl, mich innerhalb einer Woche mit den grundlegenden Arbeitsmethoden mit Säge und Axt vertraut zu machen, meinte er, wobei er mich skeptisch ansah, mit dumpfer Stimme und starkem lettischen Akzent «ich wird’s versuchen». Er war ein guter Lehrer und ein sehr guter Mensch, aber mit einer Gerissenheit, ohne die man im Lager, und erst recht bei Kolonnenarbeiten, nicht auskam. Bereits in den ersten Tagen der Arbeit im Wald hatte er begriffen, dass es lange dauern würde mir etwas beizubringen. Ich sägte ruckartig, zog und stieß die Säge hastig hin und her, traf oft daneben, woraufhin sie ein stöhnendes Klagen von sich gab und sich verkantete. Ausatmend kniete ich mich nieder, und da ließ der Schwung nach, die Armbewegungen wurden kurz und abgehackt. In solchen Fällen ließ Jan den Griff der Säge los, richtete sich auf, holte schweigend seinen aus farbigen Lumpen zusammengenähten Beutel heraus, drehte sorgfältig eine Zigarette und, fing, abgewandt vom Wind, an zu rauchen. Während er rauchte beruhigte ich mich, stand auf, nahm die erforderliche Haltung ein, und dann ging alles wieder von vorne los. Gegen Ende der ersten Einweisungswoche für die Neulinge, als man von ihnen noch keine Norm verlangte, war ich, Dank Jans Geduld, in der Lage, mit Säge und Axt umzugehen. Ab der zweiten Woche wurde die Situation schwieriger. Nun forderte man von uns die Erfüllung der festgelegten Norm. Mit äußerster Mühe schafften wir (natürlich meinetwegen) gerade die Hälfte. Doch Jan beruhigte mich: «Hetze nicht, überanstrenge dich nicht, sollen sie ruhig die Strafration austeilen, wenn sie einen nur nicht in den Isolator stecken. Diejenigen, die sich vorzeitig verausgaben, um auf Biegen und Brechen die Norm zu schaffen, werden unweigerlich umkommen, die Verpflegung ist einfach zu schlecht». In Vollendung beherrschte er die Kunst, dem Vorarbeiter zwei-, dreimal denselben Baumstamm abzuliefern, wobei er eine dünne Scheibe mit dem schon aufgedrückten Stempel absägte. Wichtig war nur es nicht zu weit zu treiben, nicht die zulässige Abweichung in der Baumlänge zu unterschreiten; außerdem musste die abgesägte Scheibe verbrannt oder vergraben werden. Er brachte mir bei, die richtige Richtung zu wählen, in die der fallende Baum zu liegen kommen sollte. Wir mussten fast nie Haken oder Spieße zu Hilfe nehmen. Er versuchte mir beizubringen, wie man die Säge richtig schrägte, blieb damit aber erfolglos.

Der Herbst war warm, aber regnerisch. Wir wurden schnell nass, vor allem wenn wir Fichten fällen mussten. Die Füße, die in paipaki (langen wattierten Strümpfen) steckten und mit Fußlappen umwickelt waren, nässten bis zum Knie durch. Uns quälte der Hunger. Alle Gedanken drehten sich nur um die Essensration. Während sie zum Arbeitsplatz gingen, war sie, in einen Lappen eingewickelt, sicher an der Brust verwahrt. Doch zu Beginn der Arbeit musste die Ration ins Kochgeschirr umgelagert werden, denn sonst wäre sie zerdrückt und zerkrümelt worden. Aber das Gefäß war am Gürtel festgebunden und baumelte hin und her, so dass man das Essen hätte verlieren können, mehr noch – jemand hätte es wegnehmen können. Am sichersten war es sie gleich zu essen, doch Jan erlaubte das nicht:

– Die Ration kommt nirgendwohin. Iss sie zusammen mit der Wassersuppe, das wird dich mehr besser sättigen, – behauptete er.

Aber ich war davon nicht überzeugt, und so tastete ich in jeder freien Minute mit der Hand danach, um zu prüfen, ob sie noch an Ort und Stelle wäre. Hinzu kam, dass die Zeit endlos langsam verging und ich nichts anderes wollte als essen. Als sie uns endlich die wässrige Brühe brachten, rannten alle zu den Behältern. Ich saß auf einem frisch gefällten Baumstamm und begann die mir zugeteilte Portion zu erforschen. Ich war zufrieden, wenn es mir gelang, am Boden einen Satz aus Graupen, Fischgräten und wenigstens ein paar kleine ungeschälte Kartoffeln zu entdecken. Doch meistens befand sich nichts in der Brühe, und man konnte sie einfach wie Tee trinken. Und trotzdem wurde sie mit Schöpfkellen eingefüllt. Jan behauptete, dass es auf diese Weise reichlicher wäre. Schade nur, dass die Wasserbrühe kaum warm war. Heißes Essen, so schien es uns, konnte den Hunger besser stillen. Nach dem Mittagessen lief das Arbeiten schlechter. Natürlich war der Grund dafür nicht der gefüllte Bauch. Es fehlte einfach an Kraft. Die Zeit wurde damit verbracht, die restlichen Zweige zu verbrennen und das Buschwerk zu zerhacken. Dabei musste man sich zum Schluss auch noch zur Wohnzone zurückschleppen.

Endlich brechen wir auf. Wir eilen zur Kontrollstelle, stellen uns nach Brigaden auf. In den Händen Sägen, Äxte. Wer die Hälfte der Norm nicht bewältigen konnte, muss einen «Passierschein» tragen – einen dicken Zweimeter-Baumstamm, nur gut, wenn er trocken ist. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Strafe. Schließlich wird für die Küche Brennholz benötigt. Pferde werden für hauswirtschaftliche Arbeiten nicht zugeteilt. Dafür setzt man Häftlinge ein. Manche tun es freiwillig, aber häufiger bringen sie auf Befehl des Brigadeführers Brennholz-Bündel für die Baracke. Der Weg bis zur Wohnzone beträgt nicht weniger als drei Kilometer durch Waldschneisen mit hervorstehenden Baumstümpfen, Knorren und Erdsenken. Dabei bekommt man die Füße schon nicht mehr hoch. Wenn dann endlich die Wohnzone sichtbar wird, kommt wieder Leben in die bedrückt einherschreitende Kolonne. Nun müssen die Werkzeuge in der Werkzeugkammer abgegeben werden. Die Bestraften werfen die «Passierscheine» ab und nehmen eilig ihre Plätze ein, um der Brigade keine Verzögerung zu bereiten. Das «Filzen» beginnt, sorgfältiger als am Morgen: die Aufseher achten darauf, dass keine metallischen Gegenstände in die Lagerzone gebracht werden.

Endlich sind wir in der Zone. Als erstes geht es in die Wohnbaracke, um die Abendration entgegenzunehmen. Der Gehilfe des Brigadeführers zaubert bereits an der flachen Holzkiste mit den darauf ausgelegten Brotstückchen herum. Da sie klein sind (die Abend-Norm besteht aus 100-150 Gramm), gibt es so gut wie keine Hoffnung, den ersehnten Knust zu bekommen. Ich erhalte in plattes Stückchen, nass wie Lehm, mit einer daran befestigten Zugabe. Sorgsam wickle ich es in dasselbe Tuch und verberge es an meiner Brust. Jetzt geht es in die Kantine. Ein langer, gedrungener Bau, ähnlich einer Scheune, kleine rußgeschwärzte Fenster, Halbdunkel. In der Mitte lange, aus schlecht gehobelten Brettern zusammengehämmerte Tische, Bänke. Am fernen Ende das Ausgabefenster. Dort steht eine Schlange. Ganz vorn die Bestarbeiter. Ihnen steht, neben der Kelle Wasserbrühe, das «Prämiengericht» – eine Kelle Haferbrei oder ein paar Stöckchen gekochter Rübe zu, ab und zu ein kleines Küchlein mit Kartoffeln, selbstverständlich ungeschält. Man ist der Meinung, dass die Vitamine in der Schale stecken. Durch das Ausgabefenster dringt der berauschende Duft gekochter Kartoffeln – dort wird das Abendessen für den privilegierten Teil der Häftlingsbevölkerung zubereitet: den Kommandanten, den Arbeitsanweiser, den Meister. Während ich meine Kelle Wassersuppe erhalte wird es dunkel. In der Kantine beginnt der Diensthabende damit, die tagsüber vorbereiteten langen Holzspäne anzuzünden. Den verbrannten Teil schüttet er in eine Schüssel mit Wasser. Obwohl durch sie mehr Qualm als Licht entsteht, geht es ohne sie nicht. Sonst wäre es vollkommen dunkel.

Das war‘s! Der Tag ist zu Ende. Wir müssen in die Baracke gehen. Bald beginnt die «Inspektion» - die Übergabe der Häftlinge an die neue Wachschicht. Das Zählen verläuft pro Kopf. Auf dem Weg von einer Baracke zur anderen zählen Vertreter beider Schichten in Begleitung der Wärter die Gefangenen, die an den Pritschen aufgereiht stehen. Während dieser Zeit ist das Herumlaufen in der Lagerzone streng verboten. Und trotzdem stimmen die Ergebnisse der Zählung nicht immer mit den Listen überein, und dann beginnt die ganze Prozedur wieder von vorn. Manchmal ist so eine Diskrepanz eine Folge des Kartenspiels: der Verlierer soll sich verstecken und die Kontrolle unterbrechen. Gibt es mehrere Verliere, kann sich so eine Durchzähl-Aktion bis in die tiefe Nacht hinziehen. Derartige Späße der Kriminellen kamen uns teuer zu stehen. Die wütenden Wachen ließen ihre Boshaftigkeit am Morgen beim Ausmarsch zu Arbeit an uns aus.

Aber nun ist die Kontrolle beendet, und wir können uns zur Nachtruhe begeben. Die Wohnbaracke ist in vier Sektionen unterteilt. In jeder Sektion – eine Brigade (zwischen 30 und 50 Mann). Innerhalb der Sektion, entlang den Wänden, zwei Etagen durchgehender, nackter Pritschen. Anstelle von Kissen ein Brett, welches mit der Oberfläche der Pritschen einen 45°-Winkel bildet. Und selbstverständlich keine Matratzen, keine Decken. Wir schlafen, eingewickelt in unsere wattierten Jacken oder Überzieher. Unter dem Kopf die Mütze mit dem daran befestigten Essgeschirr, damit sie uns nicht gestohlen wird. Schwache alte Männer urinieren nachts dort hinein, um nicht von der Pritsche klettern zu müssen, und nehmen sie, wenn sie sie am Morgen ausgespült haben, wieder mit in die Kantine. Das ist nichts Schlimmes. Manche trinken den Urin auch, weil er gesund sein soll. Schlimmer ist es, wenn es tagsüber bei der Arbeit regnet. Dann muss man die Oberbekleidung zum Trocknen abgeben und nachts auf den nackten Brettern schlafen. Dabei sind die meisten Häftlinge nur Haut und Knochen. Die nächtlichen Qualen wurden noch durch ganze Horden von Wanzen verschärft, die wie Brennnesseln auf der Haut brennen und von deren Bissen sich am gesamten Körper Blasen bilden.

Tiefer Herbst. Im Dunst des Morgennebels sieht man die dunklen Stämme der Kiefern, die dunklen, feuchten Nadeln der Tannen. Zwischen ihnen, hier und da, das gelbe, verblasste Laub der von der Kälte verbrannten Birken, in den Mulden die purpurroten Kronen der Espen. Eine Landschaft wie bei Lewitan. Aber all diese Schönheit ist nicht für uns gemacht. Der Wald wurde seltener, es gab zahlreiche Espen. Hier erfüllst du die vorgegebene Norm nicht. Die Zeit der Pilze und Beeren ist zu Ende. Zudem regnet es beinahe jeden Tag: leichter Nieselregen, manchmal mit Schnee vermischt. Wenn um sechs Uhr morgens dumpf der Schlag auf das Schienenstück ertönt, wache ich völlig zerschlagen auf. Es ist noch vollkommen dunkel. In der Wach-Zone strahlen grell die Glühbirnen, von den Wachtürmen entlang der Verbotszone leuchten die Scheinwerfer, wodurch der Himmel noch dunkler erscheint. Aber in den Baracken zünden sie Holzspäne an. Man möchte nicht nach draußen gehen und sich waschen. Man möchte sich solange es geht die Barackenwärme erhalten. Draußen ist es kälter geworden, in den Pfützen knirscht gefrorenes Wasser. Vom schwarzen Himmel fallen ein paar Schneeflocken. Eine für das Bäume Fällen schreckliche Zeit rückt näher. Und ich bin nach nur drei Wochen Arbeit schon völlig kraftlos. Jan und ein paar weitere ehemalige lettische Schützen hat man auf Etappe in ein anderes Außenlager geschickt, und der Brigadeführer hat mich zum Stubben Roden eingesetzt. Jetzt, nachdem ich Jans Unterstützung verloren habe, ist mir meine Geistesgegenwart vollkommen abhandengekommen. Alle Gedanken kreisten um die Essensration, und die wurde nach meiner Versetzung zum Stubben Roden signifikant geschmälert.

Zu all dem kam noch die Einsamkeit hinzu! Die Einsamkeit unter Menschen. Von denen gab es genug. Sie gab es überall. Sowohl am Tag als auch in der Nacht. Ihr Schnarchen, ihr Stöhnen, ihr Fluchen, ihr gieriger Blick, der jede Bewegung des Nachbarn beobachtete, der an einem versteckten Stück Brot kaute, und die schwere verbrauchte, miefige Luft in der nächtlichen Baracke. Und keine Ecke, in die man sich wenigstens für eine Minute zurückziehen konnte. Es sei denn, man zieht sich seine Steppjacke über den Kopf, wie in der Kindheit, wenn man sich vor irgendetwas fürchtete. Und bei all dem gab es niemanden, der sich über sein Schicksal beschwerte oder auf Mitleid zählte. Jeder ist nur mit sich selbst beschäftigt, mit seinem Hunger, seinem Schmerz, seinen Problemen. Damals, im Solikamsker Durchgangslager hatte ich, als ich mit ehemaligen Kolonisten sprach, davon geträumt, meine Kenntnisse der deutschen Sprache wieder aufzufrischen. Wie naiv. Seit jener Etappe hatten sie uns alle sorgfältig in verschiedene Lagerstellen, Brigaden und Gruppen auseinandergerissen. Und die Deutschen, die in ein- und dieselbe Brigade geraten waren, und demzufolge auch in dieselbe Baracke, hatten nicht nur Angst Deutsch zu sprechen, sondern sich überhaupt zu unterhalten. Wenn beim Anwesenheitsappell ihre deutschen Nachnamen ausgerufen wurden, verkrampften sie sich, zogen die Köpfe zwischen die Schultern und bedauerten, dass sie sich nicht in einem Lager mit strenger Haftordnung befanden, wo die Häftlinge anstelle ihrer Familiennamen Nummern trugen. Sie nahmen es nicht übel. Das Leben der Gefangenen hatte sich seit Kriegsausbrauch erheblich verschlechtert. Die Verpflegungsnormen wurden um ein Dreifaches weniger, Verkaufsstände, Schlafkojen, Matratzen, Decken verschwanden, das Regime wurde härter. Natürlich war die Haltung gegenüber den Deutschen – ganz egal welchen, denen aus Deutschland oder den hiesigen – zu der damaligen Zeit nicht die beste. Auf jeden Fall dachten sie so.

Manchmal, meistens nach dem Zapfenstreich, setzten in den Baracken allgemeine Unterhaltungen ein. Man redete vor allem über das Essen, wie gut es einem in der Vergangenheit, in der Regel einer ausgedachten, gegangen war. Mitunter auch über Frauen, hauptsächlich Anstößigkeiten. Doch das letzte Thema berührte die ausgehungerten Menschen zu jenen Zeiten nicht besonders, und so kam man in den Gesprächen bald wieder auf das Essen zurück. Ab und zu wurde über den Krieg geredet. Hier war die Realität tief mit Fiktion vermischt. Schließlich gab es keinerlei offizielle Informationen. Es gab weder Zeitungen noch Radio. Über die Situation an der Front wurde anhand der Laune der Wachmänner geurteilt. Einige Nachrichten erhielt man von frisch eingetroffenen Etappen. Doch die Informationen waren veraltet. Die Lage an der Front hatte sich, nach einigen Erleichterungen während des Sommers, zum Herbst erneut verschlechtert. Nachdem sie bei Moskau eine Niederlage erlitten hatten, verlagerte das deutsch-faschistische Kommando nun all seine Kräfte in südliche Richtung. Zum Herbst 1941 gelang es dem Gegner vollständig die Ukraine, das Kuban-Gebiet, den Nord-Kaukasus einzunehmen, die Brückenköpfe von Kertsch und Sewastopol auf der Krim zu liquidieren und auf Woronesch und die Wolga im Bezirk Stalingrad vorzudringen. Die blutige Schlacht um Stalingrad begann.

In Tambow lief Mama sich die Hacken über die Schwellen der Gefängnisse und Kanzleien des MWD ab, um zu versuchen meine Spur nachzuverfolgen. Erst Ende Oktober teilte man ihr endlich meine Anschrift mit: AM-244/8. Mit rotgeweinten Augen packte sie das erste Paket für mich: warme Socken, ein Stück Speck, Trockenbrot und Machorka. In den ersten Novembertagen fuhr Ernotschka mit Lisa und den Kindern nach Sibirien, in die Ortschaft Sara-Balyk im Gebiet Nowosibirsk, wo sich Petjas Vater und Schwestern in Sonderansiedlung befanden. Petja selbst war in der Trudarmee, Lalja in Pady. Mama blieb allein zurück. Sie ist 68 Jahre alt, erhält nur eine kleine Rente. Das Brot, das sie für zu unterstützende Personen erhalten hatte, zerschnitt sie für Trockenbrot. Es war für mich gedacht. Für sich selbst nicht mehr als 100 Gramm pro Tag. Sie ernährte sich hauptsächlich von den Kartoffeln, die Lalja ihr aus dem Dorf schickte. Bei Tageslicht strickte sie Pullover. Sie strickte, indem sie die in alten Zeiten gestrickten Sachen aufribbelte, unter anderem auch ihr Jäckchen. In diesen sechs Monaten war sie sehr alt geworden und stark abgemagert. Das Gesicht voller Falten, die Hände zittern, die grauen Augen sind glanzlos geworden. Bekannte rieten ihr, das Haus zu verkaufen und zu Lalja zu ziehen. Doch sie weigerte sich. Hier erinnerte sie alles an mich. Hierher könnte ein Brief von mir kommen. Was bedeutete für sie schon der Krieg, die Schwierigkeiten des Lebens, die Entbehrungen, der Hunger. Alles, was sie brauchte, war eine Nachricht von mir.

Und ich zerhackte Äste. Und die ganze Welt hat sich für mich auf den sichtbaren Teil des Raums beschränkt. Nein, selbstverständlich dachte ich an Mama, an die Verwandten, aber das sind hauptsächlich wehmütige Erinnerungen. Den ersten Brief nach Hause gab ich erst im Oktober bei der Kultur- und Erziehungsstelle ab, einen kleinen dreieckigen Brief, wie ihn die Soldaten schrieben. Den folgenden erst nach einem Monat. Im Brief keine bedeutungsvollen Wörter. Sonst hätte die Zensur ihn nicht durchgelassen.

Anfang November lag endgültig Schnee. Unter seinem Gewicht bogen sich die Äste der jahrhundertealten Tannen zu Boden und drückte das welke Gras platt. Von den Birken und Espen fielen die allerletzten Blätter herab. Die Baumstümpfe mit Mützen aus Schnee bedeckt. Und die Kälte! Sie kriecht schnell durch die dünne Steppjacke, die löchrigen Handschuhe. Am längsten halten Strümpfe und Fußlappen die Wärme. Doch an jenem Morgen hatte ich Pech. Ich brach in ein mit Wassergefüllte Grube ein, die oben mit einer Eisschicht und Pulverschnee bedeckt war. Auf den durchweichten Fußlappen klebten Schneeklumpen. Es war unerträglich über die gefällten Kiefern zu klettern, um die richtige Position einzunehmen, die von den Sicherheitstechnik vorgeschrieben war. Ich hackte einen dicken Ast ab und stellte meine Füße dabei zu beiden Seiten des Baumstammes auf. Ein Schlag, noch einer. Die Axt, die von der erfrorenen Hand nicht gehalten werden konnte, rutschte über die Oberfläche des Stammes und traf mit einer Ecke der Klinge mein Bein. Sie durchschlug die Fußlappen, verletzte den Knöchel am Schienbein des rechten Beines. Ich fühlte keinen besonderen Schmerz, aber ich verlor eine Menge Blut. Am Abend legten sie mir in der Sanitätsabteilung einen Verband an und gaben mir ein Attest für drei Tage Freistellung von der Arbeit.

Es ist sehr einfach sich beim Holzeinschlag eine Verletzung zuzuziehen, besonders im Winter, wenn Schneewehen das Manövrieren erschweren. Ein Baum oder dicker Ast, der nicht richtig fällt, eine Kerbe, die nicht tief genug ist, so dass der Stamm oberhalb der Schnittfuge bricht und auf Holzfäller herabstürzt, die nicht rechtzeitig zur Seite springen konnten, und natürlich die Axt, besonders wenn sie von geschwächten Händen gehalten wird. All das stellte eine Gefahr dar. Und so kehrten die Gefangenen mit gebrochenen Armen und Beinen, eingeschlagenen Schädeln, Hackwunden an Armen und Beinen und manchmal auch ohne Finger oder sogar ohne Hände in die Lagerzone zurück. Aber ein Trauma im Lager, besonders in Kriegszeiten, bedeutet nicht nur Schmerz, Verlust der Arbeitsfähigkeit, Verkrüppelung. In ihm verbirgt sich noch etwas viel Gefährlicheres: der Verdacht auf vorsätzliche Selbstverletzung, Sabotage, für die man nach geltendem Kriegsrecht zum Tod durch Erschießen verurteilt werden kann. Wenn die Verletzung mit dem Tod des Leidtragenden endete, dann suchte man selbstverständlich die Schuldigen unter den Häftlingen. Zur Verantwortung gezogen wurden der Brigadeführer, der Vorarbeiter, der Meister. Blieb der Geschädigte am Leben, dann brachte man gegen ihn einen neuen Fall ins Rollen und versuchte zu beweisen, dass er es absichtlich getan hatte, um den allgemeinen Arbeiten zu entgehen. Besonderen Verdacht zeigte man denjenigen gegenüber, die in ihrer persönlichen Akte den Vermerk «ausschließlich für allgemeine Arbeiten einzusetzen» stehen hatten.

Wieder hatte ich Glück. Erstens legten sie keine neue Strafakte über mich an, zweitens verheilte das Bein recht schnell, und schließlich, nach einer Woche Erholung in der Lagerzone, hatte ich mich mit Johann, Arzt in der Sanitätsabteilung der Lagerstelle, angefreundet. Er war bereits 1937 nach § 58-10 verhaftet worden und eine fünfjährige Haftstrafe erhalten. Im Sommer zweiundvierzig war seine Haftstrafe zu Ende gegangen, aber sie holten ihn nicht zur Freilassung, und so war er nervös und erwartete nicht ganz ohne Grund, dass man ihm möglicherweise eine neue Strafe aufbrummen würde, eine Erscheinung, die in jenen Jahren durchaus nichts Ungewöhnliches darstellte. Unsere Annäherung war, ebenso wie seinerzeit die mit Kaiser und Gorn, Dank des Schachspiels zustande gekommen. Johann erwies sich als großer Fan dieses Spiels. Nun, da er spielen wollte, verschaffte er mir Befreiung, ein Glück, zu dem es allen Anlass gab. An solchen Tagen fiel für mich auch immer etwas zu essen ab. Ich lebte wieder auf. Doch dieses Glück währte nicht lange. Bereits Ende November, mit dem Eintreffen einer neuen Etappe, wurden alle, für die es bei Arbeiten im Holzeinschlag keine Perspektiven gab, unter dazu gehörte auch ich, auf Etappe zur Lageraußenstelle «Wolim» geschickt.

«Wolim» - ein Nebenlager, in dem sämtliche «Abfälle» des Produktionsbetriebs zusammenkamen: Traumatisierte, chronisch Kranke, Entkräftete, aber auch Kriminelle, vor allem Gewohnheitsverbrecher und Diebe im Gesetz, bei denen es der Leitung nicht gelungen war, sie zum Bäume Fällen zu schicken. Für einen Lagerneuling war dies ein gewisses Geheimnis, vor allem wenn man berücksichtigt, dass diese Kategorie von Gefangenen für ihrer kühnen Weigerung «wir haben ihn nicht gepflanzt und wir werden ihn auch nicht fällen» nicht die geringste Verantwortung trug. In Wolim gab es ein Krankenhaus, in das aus sämtlichen Nebenlagern des Beresowsker OLP die Schwerkranken eingeliefert wurden. Hier befanden sich Reparatur- und Nähwerkstätten, eine Strohflechterei, in denen das Arbeiten den ultimativen Traum aller geschwächten, aber noch nicht um den Verstand gekommenen Häftlinge darstellte. Und obwohl die Essensration hier nur sehr gering ausfiel, saßen sie hier im Warmen und mussten keine schwere körperliche Arbeit leisten. Auch hier gab es einige Holzfäller-Brigaden, und in eine von ihnen wurde auch ich geschickt. Und alles begann für mich wieder von vorn. Aber jetzt war Winter, es herrschte Frist, es lag Schnee. Bevor ein Baum gefällt werden konnte, musste man um ihn herum den bis zur Brust reichenden Schnee platttreten. Anschließend, wenn eine unter großen Qualen abgesägte Kiefer oder Fichte im schneeweißen, funkelnden Schnee versank, musste man bis an ihr Geäst vordringen, wobei die weit verzweigten Äste tief in den Schnee gedrückt wurden. Schließlich mussten die abgehauenen Zweige durch die Schneewehen gezogen, auf einen Haufen geschichtet und angezündet werden, aber sie verbrannten nicht, sondern qualmten nur. Und nirgends ein Ort, an dem man seine Hände hätte wärmen können. Aber auch das ist noch nicht alles. Mit den taub gewordenen Fingern musste das von Ästen und Zweigen befreite Holz nach bestimmten Maßstäben markiert und zersägt werden, und zwar so, dass dabei möglichst wenig Abfall anfiel. Die Holzfäller waren daran äußerst interessiert, denn die Norm für zwei betrug 10 Kubikmeter Holz. Aber das waren nicht zwei oder drei und nicht einmal zehn Stämme. Es geht nicht immer so glücklich aus, dass eine gefällte Eiche gleich einen ganzen Kubikmeter Holz ergibt, und alle Bäume mussten hintereinander gefällt werden: sowohl die profitablen als auch die unrentablen. Und schon halten meine Hände nur noch mit Mühe die Axt, meine Beine, wie mit Blei gefüllt, wollen sich nicht mehr bewegen, das Kreuz will sich nicht mehr beugen und sogar die Seele schein vollständig durchgefroren zu sein.

Ich gab schnell auf. Die Wunde, die zu heilen begonnen hatte, brach wieder auf. Es bildete sich ein rundes Geschwür, gut von der Größe eines Fünf-Kopeken-Stücks, in deren Mitte der blanke Knochen zu sehen war. Die Wunde klebte am Filzstiefel. Ich war gezwungen ein rundes Loch hineinzuschneiden. Es wurde vom Schnee verstopft. Als ich mich an die Sanitätsabteilung wandte, wollte eine ältere Sanitäterin – ich weiß noch genau, dass sie Olga Iwanowna Popenja hieß – nachdem sie meine Wunde lange betrachtet hatte, wissen, unter welchen Umständen ich zu dieser Verletzung gekommen war. Wahrscheinlich dachte sie, ich hätte sie mir absichtlich beigebracht. In diplomatischer Weise überbrachte ich ihr die Grüße von Johann, indem ich ihr zu verstehen gab, dass ich persönlich mit ihm bekannt sei. Schließlich erhielt ich für drei Tage eine Arbeitsbefreiung.

Tagsüber, während der Arbeitszeit, ähnelt die Lageraußenstelle Wolim, ihre Wohnzone, keineswegs dem, was ich von Kolynwa gewohnt war. Dort herrscht nach dem Arbeitsabmarsch Leere und Stille, es sind fast keine Menschen zu sehen. Hier wimmelt es von Leuten. Nach dem Abmarsch zur Arbeit laufen in den Werkstätten (sie befinden sich innerhalb der Zone) und im Kontor Handwerker, Normsachbearbeiter, Planer herum. Die Pfleger, die ihren Dienst beendet haben, kehren in die Baracken zurück. An der Wachstation gehen Wärter und Wachleute in ihren weißen, gegerbten Schaffell-Halbmänteln auf und ab. Sie warten auf den Arbeitsanweiser und den Kommandanten. Es wird eine morgendliche Überprüfung geben. Diejenigen, die nicht zur Arbeit gegangen und in der Zone geblieben sind, ohne auf der Liste der Arbeitsbefreiten zu stehen, werden hinausgeschleppt, manchmal an den Füßen durch den Schnee bis zum Isolator oder den Wirtschaftshof gezogen: um Brennholz für die Küche zu hacken. Einige Häftlinge, die sich zwischen den Baracken verborgen haben, rennen zur Sanitätsabteilung, um eine Arbeitsbefreiung zu erbitten. Doch ihre Hoffnungen sind vergebens, die den Ärzten vorgegebene zulässige Norm ist längst vergeben. Und die Kranken wissen das, aber sie gehen trotzdem hin, in der Hoffnung, dass man sie hier, in unmittelbarer Nähe des Krankenghauses zumindest nicht schlagen wird. Nach der Überprüfung schleppen sich die bereits Halbtoten zur Küche. Geisterhafte, hagere Gestalten, nur noch Schatten ihrer selbst. Den ganzen Tag werden sie nun bei den Köchen und Tellerwäschern betteln, in den Küchenabfällen stöbern, sich streiten, klagen und jammern. Aber verurteilen sie sie nicht, seien sie nicht so streng mit ihnen, denken sie niemals, dass sie nicht auch in so eine Situation hinabsinken könnten. Wenn ein Mensch systematisch Tag für Tag, über einen Zeitraum von vielen Monaten, immer nur die Hälfte der Kalorien bekommt, die für seine biologische Existenz unerlässlich sind, dann magert er nicht nur ab und verliert nicht nur seine Kräfte. Mit seiner Psyche geschieht eine vollkommene Veränderung. Ein solcher Mensch ist schon nicht mehr in der Lage, in den Hungerstreik zu treten und den Hungertod ganz bewusst auf sich zu nehmen. Für eine solche Aktion benötigt man einen gesunden Kopf und einen ungetrübten Verstand. Ein halbverhungerter Lagerinsasse – das bedeutet ein ganz bestimmtes Stadium, einen Grad, eine Phase im Leben des Häftlings, der durch den Willen des Schicksals zu allgemeinen Arbeiten verschickt wurde und keinerlei warme Zusatzkost bekommt. Schritt für Schritt geht er die Stufen in den Abgrund des Hungers, der Kälte, der Abstumpfung hinab. Zuerst der Holzeinschlag und die 700 Gramm-Ration, welche die Verluste an Energie nicht wieder zurückbringt. Nach einiger Zeit, zumeist nach drei bis fünf Wochen, versetzt man den geschwächten Holzfäller an einen Einsatzort mit leichterer Tätigkeit – dem Abschlagen der Äste und dem Ablängen, aber dafür wird die Ration auf fünfhundert Gramm reduziert, der Prozess der Kräfteaufzehrung setzt sich fort. Der nächste Schritt – die Versetzung als Feueranzünder und eine Ration von vierhundert Gramm. Der Prozess des Verfalls ist nun irreversibel. Nur etwas Außergewöhnliches kann ihn jetzt noch aufhalten, beispielsweise der Erhalt eines Pakets oder eine Arbeit im Kontor, wenigstens als Wärter, aber auch das nur unter der Bedingung, dass die Entkräftung eine bestimmte Grenze nicht überschreitet, nach der der Magen die Fähigkeit verliert, Nahrung zu verdauen.

Unter den bereits Dahinsiechenden – Vertreter unterschiedlicher Gesellschaftsschichten: Arbeiter, Bauern, Beamte, wissenschaftliche Mitarbeiter, Soldaten; Junge und Alte, Niedergeschlagene und Unverzagte. Der Unterschied liegt lediglich in der Schnelligkeit, mit der sie auf dieser Leiter hinuntergestiegen sind. Ihre Reihen wurden systematisch wieder aufgefüllt. Die Lagerzone wäre mit ihnen überfüllt gewesen, hätte es nicht die hohe Sterblichkeitsrate gegeben. Es verging kein Tag, an dem nicht zwei-drei an Erschöpfung Verstorbene aus der Zone gebracht wurden. Dort wurden sie splitternackt ausgezogen (die Kleidung wurde für die anderen benötigt, die arbeitsfähig waren), man band ihnen Hände und Füße zusammen, befestigte am großen Zeh ein Schild mit der Lagernummer und legte sie zur Überprüfung, ob sie auch tatsächlich tot waren, in einen extra dafür errichteten Schuppen – das Lager-Leichenhaus. Einmal pro Woche, wen genug zusammengekommen waren, legte man die entkleideten Leichen in eine auf einem Schlitten befestigte breite Kiste, bedeckte sie mit Sackleinen und transportierte sie in den Wald ab. Dort kippte man sie in eine große, noch während der warmen Jahreszeit ausgehobene Grube, auf deren Boden ebenfalls, gänzlich vom Schnee bestäubte, Leichen lagen. Die Grube wurde im Sommer mit Erde zugeschüttet, wenn der Boden aufgetaut war. Aber bis dahin wurde Schicht um Schicht vom Schnee zugeweht. Habt Mitleid mit ihnen. Ich werde auch diese Leiter hinabsteigen. Den zweiten Schritt habe ich bereits gemacht. Wird mich irgendetwas vor diesem scheinbar unvermeidlichen Ende retten?

Drei Tage vergingen. Ich befinde mich erneut in der Sanitätsabteilung. Olga Iwanowna, die mir den Verband anlag, schlug mir vor, ihr aushilfsweise, bis der Statistiker das Krankenhaus verließe, ihr bei der Berechnung des Kaloriengehalts des Verpflegungskessels zu helfen. Das war schwer zu glauben, aber es stellte sich heraus, dass, gemäß den Anweisungen der übergeordneten Behörden, in jedem Lager jeden Tag anhand spezieller Tabellen, der Kaloriengehalt der zubereiteten warmen Gerichte berechnet wurde. In den Instruktionen, mit denen Olga Iwanowna mich vertraut machte, stand es so geschrieben - «Gericht». Aus irgendeinem Grund verblüffte mich ganz besonders dieses Wort. Ich stellte mir eine halbdunkle, verräucherte Lager-Kantine vor und einen dienstbaren, lächelnden Kellner, der die dünne Lagerbrühe in silbernen Schalen servierte. Auch die Tabelle selbst versetzte mich in Erstaunen, in der, neben dem Kaloriengehalt von Brot, Graupen, Hafer, Fisch und Pflanzenöl, auch Angaben über Kalbfleisch, Rindfleisch, Schweinefleisch, Eier, Milch, Sahne, Butter und zahlreiche andere Produkte aufgeführt waren, deren Existenz die Mehrheit der Gefangenen seit langem völlig vergessen hatte. Der Kaloriengehalt wurden unter Zugrundelegung der Töpfe und Kessel berechnet, für die angegeben war, wie viel Gramm Fisch, Graupen, Kartoffeln, Kohl und Pflanzenöl pro Portion hinzugegeben werden würden. Wenn ich den Kaloriengehalt der «Mahlzeiten» summiere, die ein einzelner Gefangener pro Tag, das Brot nicht mit eingerechnet, erhielt, habe ich nie Werte erhalten, die 10000 Kalorien überstiegen, selbst unter Berücksichtigung der Prämienmahlzeiten nicht, die für Bestarbeiter vorgesehenen waren. Wenn ich die 700 Gramm Brot mit hinzurechne, die einem Holzfäller bei Erfüllung der Arbeitsnorm zustanden, ergibt das insgesamt etwa 2500 Kalorien, d.h. gerade einmal die Hälfte dessen, was ein Mensch bekommen sollte, der schwere körperliche Arbeit leistet. Häftlinge, die Arbeiten ausführten, welche nicht mit körperlicher Tätigkeit verbunden waren, und denen eine Ration von 400 Gramm Brot zustand, erhielten nicht mehr als 1600 Kalorien bei einer Norm von 3000 Kalorien pro Tag, und nicht arbeitende, vollkommen entkräftete Menschen nicht mehr als 1200-1400 Kalorien. Das Bild um den Kaloriengehalt der Nahrung gestaltet sich noch düsterer, wenn man die schreckliche Kälte im Winter 1942-43, die Qualität der Lebensmittel (Kartoffeln und Kohl waren in der Regel gefroren und halb verfault) berücksichtigt, und vor allem die Tatsache, dass zumindest ein Drittel der Fische, des Pflanzenöls und der Graupen beiseitegeschafft wurden. Mit diesen Produkten, die nicht in den Häftlingskochtopf wanderten, futterte sich das leitende Zivilpersonal heraus, Aufseher, Wachleute. Eine ständige Sorge der Köche war die Zubereitung besonderer Mahlzeiten für den Kommandanten, den Arbeitsanweiser, den technischen Leiter, den Ober-Buchhalter und die Verbrecher-Elite, welche für das Küchenpersonal schlimmer waren als heutige Gangster.

Die Kriminellen im Lager. Ein großes und schwieriges Thema. Hierum ranken sich zahlreiche Mythen, von denen sie selbst die meisten in Umlauf bringen, beispielsweise, den Mythos über die grausame Disziplin innerhalb ihres Milieus; den Mythos über Zusammenhalt und gegenseitiges Aushelfen; den Mythos über Verbrecher-Ethik und Romantik in ihrem Leben. Wenn man von Kaiser und Gorn absieht, bin ich mit ihnen nicht lange unmittelbar in Berührung gekommen, und mir persönlich haben sie auch nichts Schlechtes getan, aber ihren destruktiven Einfluss auf das Leben der Gefangenen hatte ich seit den ersten Tagen meines Aufenthalts im Lager beobachtet.

Zum ersten Mal stößt ein Häftling auf Kriminelle, wenn sie ihm die aus der Freiheit mitgebrachten Sachen wegnehmen, das Paket aufteilen, dass ihm geschickt hat oder ihn auf den Boden niederdrücken, um ihm eine Goldkrone aus dem Mund zu reißen. Dass derjenige, der ein «Dieb im Gesetz» ist, niemals einem Gefangen die Ration wegnimmt, ist ebenfalls ein Mythos. In der Zelle nehmen die Kriminellen die besten Plätze ein, zwingen einen Neuankömmling, sich mit einem Platz auf dem Boden neben dem Kotkübel zu begnügen. Im Lager waren der Brigadeleiter und der Vorarbeiter dazu gezwungen, einen Teil der von den Arbeitern erfüllten Normen eben jenen «Dieben im Gesetz» zuzuschreiben, die sich in der Baracke beim Kartenspiel rühmten, dass sie während ihrer Zeit der Inhaftierung noch kein einziges Mal eine Säge oder Axt in die Hand genommen hätten. Alltagsverbrecher und Großkriminelle besaßen im Lager, im Vergleich zu den politischen Gefangenen, zahlreiche Vorteile. Nur aus ihren Reihen wurden die Kommandanten, Arbeitsanweiser, Brigadeführer, Vorarbeiter, Begutachter, Erzieher ernannt. Nur aus ihnen setzte sich das Personal im Dienstleistungssektor zusammen: Köche, Friseure, Bademeister, Büropersonal. Nur sie konnten die Lagerzone (mit Erlaubnisscheinen) ohne Wachbegleitung verlassen. Wenn es an Zivilangestellten mangelte, und das kam zu Kriegszeiten nicht selten vor, formierten sich aus ihren Reihen die Wachen. Sie zogen nicht nur den eintreffenden Etappen Schuhe und Kleidung aus, sondern verkauften ihre Beute auch in der Lagerzone gegen Tabak und Wodka (oder Selbstgebrannten). Besondere Nachfrage bei den Zivilangestellten genossen Offiziersstiefel, Soldatenmäntel und andere militärische Bekleidung.

Wenn man die Arbeiter gebeten hätte, die Ursachen der zahlreichen Übel in eine Rangliste einzustufen, die im Lager über sie hereinbrachen, dann hätten sie an erster Stelle Zweifels ohne den Hunger, die systematische Mangelernährung, an zweiter – die schwere körperliche Arbeit, an dritter – die Unterbringung und die Kälte genannt. Die Kriminellen würden in dieser Reihe kaum den vierten Platz belegen. Tatsächlich schien es auf den ersten Blick so, dass sie lediglich den begütertsten Teil der Lagerbevölkerung traktierten. Doch das war ein tiefer Irrglaube. In Wirklichkeit existierte diese ganze Armee von Kriminellen, und von ihnen gab es in der Lager-Außenstelle Wolim besonders viele, auf Kosten der Arbeit derjenigen, die dabei waren ihre Kräfte zu und ihr Leben zu verlieren. Außerdem verschärften die Kriminellen innerhalb der Lagerzone die Atmosphäre der Gesetzlosigkeit und des Terrors.

Die Arbeit in der Sanitätsabteilung stellte für mich, wenn nicht die Rettung, so auf jeden Fall doch eine Erholungszeit dar. Ich bemühte mich, mit allen Kräften meine Lage zu festigen. Neben der Kalorien-Berechnung führte ich sämtliche Bürotätigkeiten aus, hielt die Kartei der Kranken, der Krankengeschichten in Ordnung. Olga Iwanowna war äußerst zufrieden und half mir im Rahmen ihrer Möglichkeiten: sie war mir dabei behilflich, meine zerrissene Steppjacke in eine wattierte Jacke einzutauschen, beschaffte mir eine wattierte Lagermütze mit Ohrenklappen, vermachte mir gelegentlich ihre abendliche Ration der dünnen Suppe. Allerdings verhielt es sich mit meinem restlichen Leben schlechter als in Kolynwa. Nachdem ich wegen Krankheit aus der Brigade ausgesondert worden war, wurde ich in eine herrenlose Baracke mit ständig wechselnden Häftlingen verlegt. Hier lebten völlig Entkräftete, Arbeitsverweigerer, chronisch Kranke, kleine Diebe und Gauner. In der Mitte der Baracke – ein Ofen, bei dem von oben die metallische Herdplatte entfernt worden war, genauer gesagt, die Metallstreifen, welche die Platte ersetzten. Nur die Wände standen da. In dem Ofen schwelten mehrere Holzscheite. Die ganze Baracke war voller Qualm. Doch niemand hat etwas dagegen, zumindest einige nicht, und – es ist warm. Um den Ofen hatten sich die Kriminellen geschart und rauchten. Jemand zieht aus einer Pritsche ein Brett heraus, zerbricht es und wirft es in den Ofen. Funken fliegen. Purpurrote Spiegelungen flackern an der Decke, an den Wänden. In der Baracke herrschen nicht mehr als 6-8 Celsius. Die kleinen Fenster sind mit einer dicken Schicht Eis und Schnee bedeckt. Die völlig verzogene Tür lässt sich nur mit Mühe öffnen. Jeder, der hereinkommt, bringt einen eisigen Luftstrom mit herein. Er wird von allen Seiten mit Flüchen übersät. Wanzen gibt es nicht, sie sind wohl allesamt erfroren. Dafür gibt es Läuse und Ratten. Viele Ratten. Und nicht nur in unserer Baracke. Tagsüber jagen die Entkräfteten, die einen Ring gebildet haben, sie durch den Schnee zur Lichtung hinter der Baracke. Wenn die Gejagte, schwer atmend und die Zähne fletschend, verstummt ist, wird sie erdrosselt und anschließend, auf Kohle gebraten, aufgegessen. Sie sagten, es würde gut schmecken. Ich weiß es nicht, ich musste nie welche essen. Aber trotzdem kreuzten sich einmal unsere Interessen. Es war Mitte Dezember. Nachdem ich meine Abendration Wassersuppe gegessen hatte, beschloss ich die Portion von Olga Iwanowna für den nächsten Morgen aufzuheben. Nachdem ich anstelle des Deckels meine Lagermütze auf das Kochgeschirr gelegt hatte, schob ich es unter die Pritsche, damit die Nachbarn es nicht sähen. Der Gedanke, dass mich am Morgen eine zusätzliche Ration Wasserbrühe erwartete, erwärmte mich. Nachdem ich mich in meine Jacke gewickelt und meine Handschuhe unter den Kopf gelegt hatte, schlief ich ein. In der Nacht wachte ich mehrmals auf und prüfte, es war zum Glück stockdunkel, mehrmals, unbemerkt von meinen Nachbarn, ob der Topf noch da war. Und am Morgen entdeckte ich verärgert, dass sich in der Mütze Löcher befanden, aus denen von allen Seiten Wattebüschel herausragten. Mein erster Gedanke betraf nicht die Mütze, die konnte man wieder reparieren, sondern die Wassersuppe. Wenn die Ratte darin ertrunken war, dann musste ich sie weggießen. Ich prüfte mit dem Löffel, da war keine Ratte. Ausgerechnet in der Brühe war viel Bodensatz. Man durfte sie nicht weggießen. Vielleicht konnte man sie ein bisschen erwärmen, aber wo? Und überhaupt war die Entfernung von der Mütze bis zur Suppe ziemlich groß. Bis auf den Bodensatz konnte eine Ratte wohl kaum gelangen. In Gedanken stellte ich sie mir als fette, schnurrbärtige Ratte, mit einem langen rosafarbenen Schwanz vor. Übelkeit steigt in meiner Kehle auf, aber der Hunger ist größer. Vorsichtig gieße ich die Flüssigkeit ab und esse das Dicke.

Jeden Abend nach der Aufnahme der Kranken trägt Olga Iwanowna meinen Nachnamen in die Liste derer ein, die morgen von der Arbeit freigestellt werden sollen. Ich verstehe, dass dies nicht lange so weitergehen kann. Der Arbeitsanweiser war bereits hier und hat mit ihr über irgendetwas verhandelt, wobei sie meinen Nachnamen erwähnte. Wahrscheinlich muss ich schon bald wieder in den Wald hinaus. Dabei bin ich völlig kraftlos. Nach den beiden vergangenen Wochen hat sich meine Ration von vierhundert auf dreihundert Gramm reduziert. Es ist fast kein Fleisch an mir, ich kann es deutlich fühlen. Mein Hinterteil ist flach wie ein Brett. Meine Haut ist uneben, sie ist mit Grind behaftet. Nachts drehe ich mich von einer Seite auf die andere, die Knochen und Muskeln schmerzen, ich werde nicht warm und fühle mich schwach. Morgens habe ich keine Kraft aufzustehen. Und außerdem, obwohl ich die ganze Zeit essen möchte, hat die Nahrung für mich jeglichen Geschmack verloren. Selbst Salz prickelt nur auf meiner Zunge. Zudem beginnen die Beine anzuschwellen, und das Geschwür ist größer geworden, seine Ränder haben sich gerötet und dazu die Nachtblindheit. Schließlich verlegten sie mich Ende Dezember ins Krankenhaus. Für die Mehrheit der Gefangenen bedeutet das die letzte Stufe vor dem Abgrund

 

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