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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Teil II
Hinter Stacheldraht

Kapitel 10. Überleben

Das neue Jahr 1943 begrüßte ich im Krankenhaus des Wolimsker Lagerpunktes, wohin man mich Ende Dezember mit der Diagnose Pellagra gebracht hatte. Später erklärte mir der Oberarzt des Krankenhauses, Kasatschonok, dass ich in Wirklichkeit an Dystrophie litt, es allerdings praktisch nicht möglich gewesen wäre, mich mit einer derartigen Diagnose ins Krankenhaus zu verlegen. Dem widersprach kategorisch der Lagerleiter, indem er verkündete, dass die gesamte Zone voll von Dystrophikern sei, und wenn man die alle ins Krankenhaus brächte, würde niemand mehr das für das Land so unerlässliche Holz beschaffen. Zudem wurde meine Dystrophie nach Meinung Kasatschonoks tatsächlich durch Pellagra- Symptome erschwert, aufgrund derer auch das Geschwür am Bein so lange Zeit nicht verheilt war.

Das Krankenhaus befand sich in einer gewöhnlichen Baracke, die in zwei Sektionen unterteilt war – die Krankenzimmer. Zwischen ihnen – das Behandlungszimmer und die Krankenhaus-Küche. Die Zubereitung der Mahlzeiten und besonders der Einsatz der Lebensmittel wurde streng vom Oberarzt kontrolliert, der sehr gut wusste, dass die wichtigste Medizin für die meisten seiner Patienten eine verbesserte (nach Lager-Maß) Ernährung war. Trotz der Verbote seitens der Lagerleitung gelang es ihm, qualitative bessere Produkte zu bestellen, im Vergleich zu denen, die in den allgemeinen Lager-Kochtopf gelangten. In der Ration der Kranken-Nahrung fand sich stets Haferbrei, und in der Wasserbrühe – ein Stückchen Kartoffel.

Im Zentrum unserer Abteilung stand ein Eisenofen mit langem Knierohr. Er wurde fast rund um die Uhr beheizt, wodurch sich das Hauptrohr aufheizte, bis es rotglühend war. Neben dem Ofen drängten sich die Kranken, um sich die vor Schwäche kalten Hände zu wärmen und ein Stück Brot warm zu machen, und mitunter auch ein paar in der Küche ergatterte Kartoffelstückchen. Ranzige Kohlenmonoxid-Luft verbreitete sich im Krankenzimmer. Ärzte und Pfleger schimpften, konnten die Lage jedoch nicht verbessern. Im Krankenzimmer herrscht Halbdunkel, die Fenster sind klein, vereist, die Decke verrußt. Anstelle von Pritschen – Wagonki, Schlafkojen, vom Aufbau, von der Konstruktion her, aber, was ihre Ausführung betrifft, erinnern sie nicht an die, die in Waggons aufgestellt werden. Daher stammt auch die Bezeichnung. Wagonki sind locker, sie quietschen und sind über Kreuz mit ungehobelten  Brettern befestigt. Die Kranken, welche die oberen Plätze einnehmen, stoßen sich beim Hinuntersteigen den Kopf an der Decke. Diejenigen, welche unten, besonders nahe der Tür liegen, frieren. Aber im Großen und Ganzen waren die Bedingungen nach Lager-Maßstäben gut. Auf den Kojen liegen Matratzen, Kissen, Decken und sogar Laken. Es ist nicht schlimm, dass die Watte in den Matratzen und Kissen klumpig verfilzt ist, die Laken fleckig und streifig. Die Hauptsache ist, dass man nicht auf nackten Brettern liegt und dass es verhältnismäßig warm ist.

An die Kranken wurde auch Wäsche ausgegeben, wenn diese auch vergilbt war, aber gewaschen, mit mehrfarbigen Mustern und Stöckchen anstelle von Knöpfen, aber immerhin Wäsche.

Die meisten Kranken litten an – Pellagra, so jedenfalls stand es in ihren Krankengeschichten geschrieben. Nach meinen damaligen Vorstellungen war Pellagra irgendeine Mischung aus Dystrophie und Skorbut. Es hieß, dass im dritten Krankheitsstadium der Magen der Pellagra- Kranken seine Fähigkeit verliert, das Essen zu verdauen, und dass sie nur noch auf Kosten der verbliebenen Muskeln weiterlebten. Heute weiß ich, dass das eine sehr naive Vorstellung von dieser Erkrankung ist. Es war wohl eher so, dass Kasatschonok ein falsches Spiel trieb, indem er hinter dieser exotischen, einfachen Sterblichen wenig bekannten Diagnose einfache Dystrophie verbarg. Es war schrecklich diese Kranken anzuschauen – Skelette, bedeckt mit einer rauen, gelben Lederhaut. Bei einigen von ihnen war die Psyche zerstört. Sie waren fast alle Todeskandidaten. Nur einzelne überlebten. Aber in unserem Krankenzimmer befanden sich auch gewöhnliche Kranke, die an Kolitis, Geschwüren, nervlich bedingten Störungen, Blindarmentzündungen litten. Hauptsächlich kamen sie vom Dienst- und verwaltungstechnischen Personal. Die Arbeiter klagten normalerweise nicht über solche «intellektuellen» Krankheiten. Ins Krankenhaus gerieten sie meistens mit Erkältungen, Erfrierungen und Verletzungen.

Mich retteten Mamas Paket und die guten Beziehungen zum Oberarzt. Das Paket traf Mitte Januar ein. Darin befanden sich Zucker, ein Stück Speck und Tabak. Den Tabak hatte sie dazugelegt, weil sie nach Petjas Worten wusste, dass er im Lager gegen Brot eingetauscht werden konnte. Auf Anraten Kasatschonoks gab ich den Zucker und den Speck zur Aufbewahrung in der Krankenhausküche ab und den Tabak über den Krankenpfleger – in der Brotschneidestelle, von wo aus ich danach, für einen Zeitraum von beinahe zwei Monaten, jeden Tag zusätzlich zweihundert Gramm Brot erhielt. Ich begann mich schnell zu erholen. Nachtblindheit, Schwäche du Schläfrigkeit verschwanden. Das Geschwür fing an abzuheilen. Ich verfolgte diese Veränderungen mit großer Angst, denn mir drohten damit die schnelle Entlassung und erneut allgemeine Arbeiten. Besonders morgens fühlte ich mich unwohl, wenn die aufgrund der Entfernung gedämpft durch die Barackenwände hallenden Schläge auf das Schienenstück ertönten: der erste, der zum Aufstehen rief, der zweite, der dazu drängte Aufstellung zu nehmen. Wenn ich durch die blau verlaufenen Krankenhaus-Scheiben sah, stellte ich mir die aus dem Schlaf erwachenden Baracken vor, die ausgemergelten Menschen darin, denen es nur mit Mühe gelang sich zu erheben, den Mief, durchdrungen vom Geruch der trocknenden Fußlappen, wattierten Strümpfe und Filzstiefel. Während ich in meinem Krankenbett lag, fühlte ich mit meinem eigenen Körper, in welchem Zustand sich die Häftlinge vor der Wache befinden mussten. Bald würde auch ich wieder dorthin müssen. Vielleicht schon morgen. Denn das Geschwür am Bein war praktisch abgeheilt. Möglicherweise wartet Kasatschonok darauf, dass mein Gewissen erwacht und ich selbst um die Entlassung aus dem Krankenhaus bitte.

Schon bald kam dieser Tag, allerdings nicht auf meine Initiative. Man erwartete das Eintreffen einer hohen Kommission und räumte innerhalb des Kranken-Kontingents auf. Mich schickte der Arbeitsanweiser auf den Wirtschaftshof, um Wasser für die Küche herbeizutragen. Anfangs freute ich mich sogar. Arbeit nahe der Küche – wovon konnte man sonst noch träumen. Doch die Tätigkeit war schlimmer als das Bäume fällen. Das Wasser musste vom abschüssigen, beinahe steilen Ufer der Kama, das nicht weniger als 20 Meter hoch war, herangeschleppt werden, wobei man über im Schnee liegende, abgeholzte Baumstämme steigen musste. Eine schneebedeckte Treppe führte zum Fuße des Staketenzauns der Lagerzone. Es waren mehr als hundert Stufen. Über der drei Meter hohen Hecke befand sich eine Art Trichter, von dem aus eine vereiste und mit Eiszapfen bewachsene Rutsche in die Zone, zur Kantine, führte. Vom Fuße des Stakets führte eine Holzleiter bis zum Trichter. Gleich daneben ein Wachturm. Darauf ein Wachsoldat mit Maschinenpistole. Vier sind zu viert – ich und drei weitere Häftlinge. In der Küche wird jede Menge Wasser benötigt. In den Kesseln, in denen die Brühe gekocht wird, in den Tanks für kochendes Wasser, in dem Bottich mit Tannennadel-Sud, in den Fässern zum Waschen des Gemüses und des Geschirrs. Jeder von uns soll sechzig Eimer dort hochbringen. Vierzig bis zum Mittagessen und zwanzig hinterher. Für unsere damalige körperliche Verfassung war das sehr viel. Bereits nach fünf-sechs Gängen waren wir kaum noch am Leben. Aber stehenbleiben, einen Gang auslassen oder seine Bewegung verlangsamen durfte man nicht. Darauf achtete der Wachmann sorgfältig.

Ich habe es noch vor Augen: das Eisloch, in den Händen zwei vereiste Eimer. Kniend schöpfe ich das Wasser. Ich stehe auf. Ich werfe einige Handvoll Schnee in den Eimer, damit das Wasser nicht so schwappt. Ich gehe los. Zuerst über das schneebedeckte Eis der Kama, anschließend über die in den Schnee gehauenen Stufen. Die ersten zwanzig meistere ich ohne große Anstrengung. Dann die Biegung, etwas verschnaufen und die nächsten zwanzig. Mit jeder neuen Kurve wird das Gehen beschwerlicher. Die Beine zittern, die Hände wie mit Peitschen geschlagen, die Eimer stoßen an die Beine. Das Wasser nässt die Strümpfe und Fußlappen. Endlich die letzte Biege – und da ist sie, die Holzleiter, die zum Trichter führt. Ihre Sprossen sind vereist. Ich nehme einen Eimer und krieche mit meinen vereisten Strohschuhen hinauf, erreiche den Trichter. Mit der Kraft meines Willens zwing ich mich, den Eimer über den Kopf zu heben und auszugießen. Das eisige Wasser läuft mir in die Handschuhe, ergießt sich über meinen Kopf, rinnt hinter den Kragen. Dasselbe mit dem zweiten Eimer. Danach der Abstieg über die mit Wasser begossenen, vereisten und zum Fluss abfallenden Stufen. Vor Schwäche zittern meine Beine, im Kopf dreht sich alles. Ich möchte mich hinabstürzen, den steilen Hang des Ufers entlang rutschen, sie Hände in Schnee und Eis bis aufs Blut häuten und entweder sterben oder wieder ins Krankenhaus kommen, weit fort von diesem Grauen. Aber dafür reicht der Mut nicht, und wir bewegen uns erschöpft weiter voran: zwei oben, zwei unten. Und am Fluss weht unaufhörlich ein durchdringender Wind mit harten, das Gesicht schneidenden Schneekörnern.

Am Abend, als es zu dämmern begann, kam der Wachsoldat und brachte uns zurück in die Lagerzone. Wir gingen, kaum in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und träumten nur von einem, - uns so schnell wie möglich hinzulegen. Doch es gab auch angenehme Minuten. In der Küche, etwas weiter von den Augen der anderen Gefangenen entfernt, bekam jeder von uns eine Schale Brei. Das war eine wichtige Hilfe, aber trotzdem konnte das den Energie-Verbrauch nicht kompensieren. Wir verloren ständig an Kraft. Zum Glück verlegten man uns nach einigen Wochen zur Holzbeschaffung für die Küche. Die von den bestraften Häftlingen aus dem Wald herbeigeschleppten zwei Meter langen «Passierscheine» zersägten wir in Stücke und spalteten sie. Aber solch «linkes» Brennholz reichte für gewöhnlich nicht, denn einen bedeutenden Teil davon nahmen sich die Wachen zum Beheizen ihrer Wachstube, des Wohnheims der militarisierten Wache und der Wohnungen des Personals der Lagerleitung. Und dann führten sie uns in den Wald, aber nicht in die Arbeitszone, sondern zum nahegelegenen Holzeinschlagsrevier, wo wir zurückgelassenes, nicht dem Standard entsprechendes Brennholz sammelten und es zum Wirtschaftshof schleppten. Wir trugen es auf unseren Armen, denn im Lagerpunkt gab es nicht genügend Pferde. Und trotzdem war die Arbeit auf dem Wirtschaftshof leichter als in der Produktionszone, und auch die Verpflegung war besser.

Man brachte uns in der Dienstbaracke unter. Und das bedeutete einen gewissen Komfort, ein Zeichen der Zugehörigkeit zum ersten, privilegierten Lager-Stand. Auf den Pritschen Unterlagen. Unter unseren Köpfen so etwas wie Kissen, alte Wattejacken oder Säcke, gefüllt mit Stroh oder Holzspänen. Manche verfügten über eine Decke oder sogar ein Laken. Fast alle konnten sich morgens waschen, manche putzten sich sogar die Zähne. Der Diensthabende achtete auf Ordnung, wischte den Boden auf, sorgte für Wasser. Mit der Zeit bekam auch ich eine Matratze und eine alte Decke. Allerdings kamen damit auch Sorgen auf: während ich bei der Arbeit war, konnte es passieren, dass sie gestohlen wurden. In der Baracke lebten hauptsächlich Leute, die wegen kleiner Delikte verurteilt worden waren: wegen Verspätung am Arbeitsplatz, Amtsmissbrauchs, geringfügigen Diebstahls, rowdyhaften Benehmens und besonders häufig – nach dem Gesetz vom 07.08.1932. Doch es gab auch Politische, vorwiegend «Quatschköpfe», die, wie ich, nach § 58-10 verurteilt worden waren. Diese Leute arbeiteten in unterschiedlichen Abteilungen des Lagerdienst-Systems. Unter ihnen gab es Köche, Bademeister, Wäscherei-Arbeiter, Pfleger, Schuster, Schneider, Barackenwarte und Kuriere. Vor allen Dingen ältere oder chronisch Kranke, die aufgrund ihres Gesundheitszustands ausgemustert worden waren.

Das Wohlergehen der Bewohner unserer Baracke wurde in vielerlei Hinsicht durch ihren Arbeitsplatz definiert. Freilich hatten die Küchen-Mitarbeiter, die an ihren Arbeitsplätzen aßen und möglichst keine Lebensmittel mit in die die Baracken brachten, es am besten von allen. Ein gutes Leben hatten Schuster und Schneider, denen für ihre Dienstleistungen am Zivil-Personal aus der Lagerzone als Bezahlung zufiel. In erheblichem Maße hing das von ihrem Können ab. Jeder bemühte sich, wie es auch in der Freiheit der Fall war, die Möglichkeiten maximal zu nutzen, die ihm durch seine Position und seinen Beruf gegeben waren. Abends war es schwierig an den Herd heranzukommen. Jeder kochte sich das, was er tagsüber hier und da hatte ergattern können. Ein paar erfrorene Kartoffeln, halb verfaulten Kohl, ein Stück Fisch. Die Gerüche waren häufig äußerst unangenehm. Doch diese zusätzliche Nahrung rettete den meisten das Leben. Unsere Vier hatten nichts zum Kochen. Wir mussten mit der zusätzlichen Portion zufrieden sein, die wir in der Küche bekamen. Allerdings war das jetzt nicht mehr Brei, sondern eine Kelle Brühe. Brei bekamen die neuen Wasserträger. In der Baracke lebten außer mir noch zwei weitere Deutsche – beide schon in die Jahre gekommen, beide arbeiteten in der Schuhflechter-Werkstatt. Sie verstanden ihr Flechthandwerk meisterlich. Sie hatten stets zahlreiche Auftraggeber, sogar unter dem Zivilpersonal. Ich versuchte mehrmals mich mit ihnen bekannt zu machen, aber ohne Erfolg. Im Allgemeinen waren die Deutschen im Lager in jenen Kriegszeiten, im Gegensatz zu anderen Nationalitäten, nicht sonderlich geneigt, sich gegenseitig zu unterstützen, und selbst wenn sie es taten, dann möglichst unbemerkt.

In der Baracke gab es viele Gespräche. Meistens wurden irgendwelche Gerüchte und Gemunkel diskutiert, besonders dann, wenn es darin um mögliche Änderungen bei den Verpflegungsnormen und Alltagsbedingungen ging. Man fürchtete sich davor, jene kleinen Vorteile zu verlieren, die man gerade besaß. Im Februar, nach der Umzingelung und Vernichtung von Paulus‘ Armee, besserte sich die Laune bei Lagerleitung, Aufsehern und Wachen merklich. Bei den Häftlingen keimte die Hoffnung auf bessere Verpflegung und Alltagsbedingungen auf, auf eine vorzeitige Entlassung. Aber tatsächlich änderte sich nichts. Tag um Tag verging. Wir freuten uns über die zusätzliche Kelle Suppe, regten uns auf, wenn es nicht genügend Trockenholz gab und wir es aus dem Wald heranschleppen mussten. Nur gelegentlich wurde die Alltagsroutine von einzelnen, außergewöhnlichen Ereignissen unterbrochen, die mir in Erinnerung geblieben sind.

Eines dieser Ereignisse steht im Zusammenhang mit meiner unfreiwilligen Beteiligung an der Arbeit der Bestattungs-Brigade. An jenem Wintertag wurde die Bestattungs-Brigade zum Holzeinschlagsrevier geschickt, und die traurige Pflicht wurde uns Vier auf die Schultern gelegt. Und da ist der schmale, vom Lager-Tischler zusammengehauene Schlitten, die schwere, aus nassen Brettern gezimmerte Kiste. Die völlig nackten, gefrorenen und mit einem gelben Schimmer bedeckten Leichen. Vorsichtig, voller Angst, mit der traurigen Fracht umzukippen, ziehen wir den Schlitten durch Schlaglöcher und Furchen. Schließlich sind wir am Ziel. Neben hundertjährigen Fichten, über unseren Köpfen ein Quadrat aus finsterem Himmel, zu Füßen eine tiefe Grube, auf dessen Grund nackte, mit Schnee bedeckte Körper liegen. Wir halten an, schweigen. Jeder ist in seine eigenen düsteren Gedanken versunken. Ich dachte an meiner Kinderjahre zurück, den Friedhof in Saratow, den mit weißem Atlasstoff ausgeschlagenen Sarg und darin der Vater. Damals war ebenfalls Winter und es schneite, und neben dem Grab wuchsen Fichten. Benommen stehen wir da. In der entstandenen Stille höre ich, wie der Nachbar zur Linken ein Gebet flüstert. Aber der Begleitsoldat drängt zur Eile. Wir nehmen die Leichen aus der Kiste und lassen sie vorsichtig, eine nach der anderen ins Massengrab hinab. Bis zum Boden der Grube können wir nicht gelangen, und die vom Frost verglasten Toten fallen auf die, die bereits unten liegen. Aus irgendeinem Grund kommt es einem so vor, als ob sie von dem Aufschlag klirren und in Stücke zerbrechen müssten. Doch es klingt dumpf, und der Aufschlag wird durch den Schnee abgemildert. Zutiefst erschüttert kann ich lange nicht wieder zu mir selbst finden. Ich stelle mir vor, wie sie, genauso nackt und ruhelos, meinen Vater, meine Mutter, mich selbst ins Massengrab werfen.

Es gibt noch etwas, an das ich mich erinnere, ein nach Lager-Maßstäben unbedeutendes Ereignis, welches mich aber sehr aufwühlte. Es betraf eine Fahrt, um Brot zu holen. Wir bekamen es aus der Bäckerei, die sich außerhalb der Lagerzone befand. Von dort erhielten auch das zivile Personal des Lagerpunktes sein Brot. An jenem Tag stürzte das Gewölbe des Ofens ein, und sie schickten uns zum Brotholen in die benachbarte Lager-Stelle (Lagerpunkt). Und wieder der Schlitten, und darauf eine hohe, extra für diesen Anlass zusammengezimmerte Kiste. Wir ziehen diesen absurden Aufbau über die lange nicht mehr befahrene, schneebedeckte Straße. Nachdem wir die Kiste mit dem noch heißen, direkt aus dem Ofen entnommenen Brot beladen haben, machen wir uns auf den Rückweg. Zwei vorneweg, in gebeugter Haltung, ziehen am Seil, ich und mein frommer Begleiter, ebenfalls gebeugt, schieben von hinten. Drei Schritte von uns entfernt der Wirtschaftsleiter, hinter ihm zwei Wachmänner. Die Kiste verfügt über eine Abdeckung, eine Abdeckung mit Vorhängeschloss. Aber die Kiste ist nur lose zusammengehauen, es gibt zahlreiche Ritzen. Aus der Kiste dringt der Duft des frischen Brotes, der das Bewusstsein trübt und einem den Willen raubt – das Wasser läuft einem im Mund zusammen. Ich taste den Spalt etwas weiter ab, stecke Daumen und Zeigefinger hinein. Der Rand eines warmen, leibhaftigen Brotes. Ich breche ein Stück heraus. Dann stecke ich es langsam, damit weder mein Nachbar noch der Wirtschaftsleiter etwas bemerken, in den Mund. Ich kaue. Ein neuer Versuch und ein neues Stückchen Brot hinein in den Mund. Ich bin verstört. Alles, was sie mir in meiner Kindheit gepredigt haben, alles, was man mir beigebracht hat, wovon ich überzeugt war, dem ich zwanzig Jahre lang strikt Folge geleistet habe, ist mit dem unwiderstehlichen Wunsch in Konflikt geraten, im Mund diese warme Kruste des aromatisch duftenden Brots zu fühlen. Insgesamt habe ich nicht mehr als zweihundert Gramm gegessen, aber ich fühlte mich wie ein echter Verbrecher. In meinen Schläfen hämmerte es: «Ich bin ein Dieb, ich bin ein Dieb, ich habe fremdes Eigentum entwendet!». Die Heftigkeit meiner damaligen Gemütsbewegung kommt mir heute erstaunlich vor. Schließlich aß ich doch auch ohne Gewissensbisse Brei oder Wasserbrühe, die man mir in der Küche außerhalb der Norm gegeben hatte, wenngleich das genaugenommen auch Diebstahl war. Zu den Gewissensbissen gesellte sich Angst. Ich hatte Angst, dass die abgezupfte Brotkante entdeckt und man sich ausrechnen würde, wer das getan haben könnte. Und wie man dafür verprügelt wurde, hatte ich mehr als einmal gesehen. Allerdings geschah das, wenn sie einen Dieb aufgriffen, der von einem konkreten Häftling Brot entwendet hatte, während ich so zu sagen aus dem allgemeinen Topf gestohlen hatte. Aber trotzdem quälte mich die Angst, und ich beschloss bis zur Entwarnung nicht die Baracke zu betreten. Vielleicht habe ich diesen Fall hauptsächlich wegen dieser Angst in Erinnerung behalten. Aber alles ging gut aus. Das Geschehene wurde von niemandem mehr erwähnt.

Es näherte sich der Sommer des Jahres 1943. Ich arbeitete immer noch auf dem Wirtschaftshof und obwohl ich ständig essen wollte, «langte ich nicht hin». Und plötzlich, Ende Mai – die Etappe zur Lageraußenstelle «Tschetyrnadzaty Kvartal». Im Lager bedeutet jede Etappe für einen Häftling – eine Naturkatastrophe. Gerade erst hat man die Orientierung wiedergefunden, sich eingerichtet und eingelebt, und schon schicken sie eine an einen völlig neuen Ort, wo man keine Menschenseele kennt, und niemanden hat, der einen verteidigt oder zumindest unterstützt. Und trotzdem empfand ich das nun schon nicht mehr als so schlimm wie vorher. Mein Lager-Horizont hatte sich merklich erweitert, ich war reicher an Erfahrungen geworden. Ich war inzwischen schon nicht mehr jener verstörte und kopflose Häftling als der ich im Wolymsker Lagerpunkt angekommen war.

Das «Tschetyrnadzaty Kvartal» war, wie auch Kolynwa, ein Produktionslagerpunkt mit dem vollen Zyklus der Holzfällerarbeiten. Ebenso wie in Kolynwa gab es hier im Vergleich wenige Dahinsiechende und Kriminelle. Sie alle waren offenbar in den Wolymsker Lagerpunkt geschickt worden, der innerhalb des Beresowsker OLP die letzte Zufluchtsstätte der dahinsiechenden Seelen darstellte. Alle Neuankömmlinge, und wir waren insgesamt zwanzig, wurden in der Holzrücke-Brigade eingesetzt. Das Holzrücken – der auf das Bäume Fällen folgende Schritt bei den Holzbeschaffungsarbeiten. Das gefällte und im Revier verstreut herumliegende Nutzholz musste gesammelt, beiseite gezogen und an einer bestimmten Stelle gestapelt werden, die man das obere Lager nannte. Die durchschnittliche Rücke-Distanz betrug fünfhundert Meter. Von den oberen Lagern wurde das Holz dann von anderen Gefangenen mit Pferden über einen Knüppeldamm aus Rundhölzern zum am Fluss liegenden unteren Lager abtransportiert. Der Knüppeldamm erinnerte an eine Bahnlinie. Nur dass sich anstelle der Schienen dünne Baumstämme befanden, die an ebensolche Spielzeugschwellen angenagelt waren. Das Holz wurde darüber auf doppelflanschigen Karren, deren in der Mitte hohlen Räder an den Rändern Ausbuchtungen besaßen, befördert, so dass sie über die Stangen rollen konnten, ohne nach links oder rechts abzukommen. In jenen Kriegsjahren erfolgte das Rücken entweder per Hand oder mit Hilfe von Pferden. Das Pferd wurde vorne angespannt (zwei Räder mit der Achse). Darauf wurde das dicke Ende eines Baumstamms gepackt, mit einer Kette festgezurrt und, Baumstümpfe und Schlaglöcher umgehend, zum oberen Lager gezogen. Nachdem sie ihn abgeladen hatten, fuhren sie zurück und das Ganze ging wieder von vorne los. Mit Worten einfach zu beschreiben, besonders für diejenigen, die über Erfahrung im Umgang mit Pferden verfügten, und diese Voraussetzung erfüllten die meisten in unserer kleinen Etappe. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich noch nie etwas mit Pferden zu tun gehabt. Allerdings waren Simatsch und ich einmal mit dem Igorewsker Traber durch Tambowsk gefahren, aber damals hatte er das Pferd angespannt, gelenkt und alles andere gemacht. Ich hatte noch nicht einmal die Zügel in den Händen gehalten. Weshalb sie ausgerechnet mich in diese Etappe einbezogen, konnte ich überhaupt nicht verstehen. Wahrscheinlich hatten sie beschlossen, dass ich, da ich nun schon einmal in der Wirtschaftsbrigade war, auch mit Pferden umgehen konnte. Dabei mussten wir doch das Trockenholz in unseren Armen tragen. Auch die Schlitten mit Brot zogen wir mit den Händen. Aber mit der oberen Etage diskutiert man nicht, und erst recht nicht im Lager. Man musste das neue Handwerk erlernen.

Das Pferd, welches ich bekam, war groß, unbeholfen und dünn. An den Beinen ragten die Gelenkte wie Knoten hervor. Das Fell war rot, sah schäbig aus und war an den eingefallenen Flanken von weißer Färbung. Der Rücken war aufgeschürft und verkrustet. Mähne und Schwanz waren verfilzt und offensichtlich nie gekämmt worden. Als der Pferdewärter es irgendwann am Morgen anspannte, blickte er mich mitfühlend an und meinte:

– Na, dir ist ein Viech zu Teil geworden, nix wirst du damit verdienen. Der hat lange nix mehr zwischen die Rippen gekriegt.

Diese Worte erschütterten mich, und bestimmten für lange Zeit meine Haltung gegenüber dem mir zugeteilten Gaul. Wenn ich in seine riesigen, wie es schien, alles verstehenden, leidgeprüften Augen blickte, wäre ich bereit gewesen, aus lauter Mitleid mit ihm in Tränen auszubrechen. Im Holzeinschlagsrevier konnte er kaum gehen und döste bei jeder nur sich bietenden Gelegenheit ein, wobei er den Kopf nach unten hängen ließ. Zudem wollte er, der saftiges Fluchen und Tritte gewöhnt war, keineswegs auf meine Überredungskünste reagieren. Wenn ich den Aufbau mit dem daran festgezurrten Baumstamm über einen Baumstumpf, Windbruch oder aus einer Grube zog, musste ich auch immer das Pferd vorwärts stoßen. Waren wir dann am Lager angekommen, blieb es selten an der richtigen Stelle stehen und zog stattdessen den Baumstamm weiter als nötig, so dass ich hinterher, unter Anstrengung meiner Allerletzten Kräfte, gezwungen war, den Stamm wieder zurückzuziehen. Meine Kräfte verließen mich schnell. Schon bald ähnelte ich meinem Pferd, ich lehnte mich an das Tier und weinte vor lauter Kraftlosigkeit und Mitleid mit mir selbst und dem Pferd gegenüber. Es blinzelte mich mit seinen riesigen, wässrigen Augen an, rührte sich aber nicht von der Stelle.

Später, nachdem der Brigadeführer begriffen hatte, dass ich für die Arbeit mit dem Pferd nicht den geeigneten Charakter besaß und auch nicht die dafür notwendigen Worte kannte, wurde ich zum Holz Stapeln abgestellt. Doch es war bereits zu spät. Ich konnte meine Beine kaum vorwärtsbewegen. Ich bekam die Arbeit am Haken nicht. Ich war nicht, wie die anderen, in der Lage, den Stachel des Hakens mit Schwung in die Mitte der Schnittfläche zu stechen. Die Arbeiter verfluchten mich, ich war für sie nur eine Last. Das brachte mich zur Verzweiflung. Ich versuchte den Baumstamm mit den Händen zu schieben, rutschte aus, fiel hin und störte den Arbeitsablauf dadurch nur noch mehr. Verzweifelt trat ich zur Seite und sah zu, wie die erfahrenen Verlader die Stämme, geschickt den Haken schwingend, auf den Holzstapel rollten. Für den Betrachter sah die Arbeit so leicht aus: den seitlichen Dorn des Hakens in die Mitte der Stirnseite stecken und schieben. Der Baumstamm schien wie von selbst zu rollen. Aber genau das schaffte ich nicht, und bei Arbeitsverweigerung drohten mir die Strafration und die Isolationszelle. Der herantretende Brigadeführer brachte mich dazu, die Holzscheite vom Stapel auf die doppelseitigen Karren zu laden. Aber dafür benötigte man Kraft. Und die hatte ich nicht. Schon der vierte Stamm entsprach eindeutig nicht meinen Möglichkeiten. Ich hob ihn unglücklich an und zerrte mir eine Sehne. Ein stechender Schmerz fuhr mir durch die Hand, und ich ließ das Stammende los. Zum Glück hielt mein Gehilfe sein Ende fest und fluchte nur in sehr grober Weise. Andernfalls wäre ich den Schlägen nicht entronnen. Ich hatte vollends jeglichen Mut verloren, meine Hand, die sich schnell gerötet hatte und geschwollen war, schmerzte heftig. Zu all dem verpasste ich in der Verwirrung auch noch das Mittagessen. Vollkommene Gleichmütigkeit erfasste mich. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich in die Lagerzone zurückgelangte. Im Sanitätsrevier stellten sie die Diagnose – Sehnenscheidenentzündung. Über eine Woche stand mein Familienname in den Listen derer, die von der Arbeit freigestellt waren. Wenn man wenigstens normal verpflegt worden wäre, aber das war nicht so. Die Arbeiterration wurde mir entzogen. Übrig blieben dreihundert Gramm Brot und Wasserbrühe. Das hätte sehr gut das Ende sein können. Gerettet wurde ich dadurch, dass ich in einem Gespräch mit dem Arzt der Sanitätsabteilung Johann, Olga Iwanowna und Kasatschonok erwähnte. Ich wurde zu der mir bereits vertrauten Tätigkeit des Statistikers im Sanitätsbereich herangezogen, die rechte Hand funktionierte einwandfrei, und sie fingen wieder an mich zu verpflegen. Später, als die Hand wieder gut war, teilten sie mich für den Lagerpunkt Kur- und Prophylaxe-Maßnahmen ein, die unlängst an dieser Lagerstelle zur Wiederherstellung der Kräfte der Arbeiter auf allgemeinen Arbeitsstellen eröffnet worden war. Der Prophylaxe-Gesundheitspunkt erinnerte in irgendeiner Weise an das Wolymsker Krankenhaus. Eine ebensolche Abteilung, Wagonki – Schlafkojen, Bettwäsche. Ungefähr die gleiche Verpflegung. Aber anstelle der Dahinsiechenden gab es hier, wenn auch sehr geschwächte, aber hauptsächlich recht junge und kräftige Menschen, von denen die Leitung sich erhoffte, dass sie sie nach einmonatigem Aufenthalt in diesem Lagerpunkt zum Holzeinschlag schicken könnte. Es war Ende August, die Sommersonne schien noch. Auf der Wiede neben der Baracke wuchs das Gras, und die Kranken gingen, nachdem sie sich in der Baracke hingelegt und ein wenig geschlafen hatten, hinaus, um sich aufzuwärmen, und einige nahmen sogar ein richtiges Sonnenbad. Ich verbrachte ganze Tage im Sanitätsrevier und erledigte die Arbeit, die ich seinerzeit bei Olga Iwanowna Popenja am Wolymsker Lagerpunkt verrichtet hatte.

Hier traf nach langer Irrfahrt auch der erste Brief von Lalja ein. Ein kurzer Brief. Darüber hinaus waren mehrere Zeilen von der Zensur unkenntlich gemacht worden. Worum es in dem Brief ging, weiß ich nicht mehr genau, wahrscheinlich darum, wie es ihnen zu Hause ging, aber ich kann mich gut daran erinnern, dass sie mich darum bat, Mama nicht zu vergessen und ihr einen Brief zu schreiben. Ich erinnere mich an die Scham, die ich beim Lesen des Briefes empfand. Meine geliebte Mamotschka. Wie oft hatte ich an sie gedacht, doch jedes Mal hatte ich vor allem mein eigenes Unglück im Kopf gehabt, und nur selten überlegt, wie schwer sie es haben musste, mit welcher Ungeduld sie auf Nachrichten von mir wartete. Beschämt, leidvoll und reuig setzte ich mich hin, um ihr zu schreiben. Eine einzige erlaubte Schreibheftseite. Wie schwierig es war, alles dort hinein zu quetschen, was ich Mama gern schreiben wollte.

Ende September 1943 starb der Statistiker des Lagerpunktes. Es hieß, dass er am Vorabend, nachdem er einen Passierschein erhalten hatte, die Zone verlassen, seine gediegene Offiziersfeldbluse gegen einen Laib Brot eingetauscht und alles auf einmal gegessen hätte, weil er nicht die Kraft besessen hätte, es sich einzuteilen. Er starb an einer Darmverschlingung. Zu den Pflichten des Lagerpunkt-Statistikers gehörte das Sammeln und Übermitteln der wichtigsten statistischen Daten per Telefon an die Stabs-Lagerstelle: die Liste der Häftlinge, ihr Einsatz für die verschiedenen Arbeiten, die Menge des geschlagenen, weggezogenen und abtransportierten Holzes und eine Reihe anderer Informationen. Papier gab es nicht, und all diese Angaben wurden auf eine kleine Tafel geschrieben, ähnlich unserer Küchen-Schneidebrette, allerdings ohne jegliche Muster und Zeichnungen. Nachdem man eine Zusammenfassung übermittelt hatte, wurden diese Angaben vorsorglich in eine Sammelliste übertragen, mit einer Glasscherbe abgekratzt, damit man die Tafel neu beschreiben konnte.

Als man mich auf Empfehlung des Arztes auf diesen Posten ernannte, waren die mit dem Bleistift gekritzelten Zahlen nicht gelöscht worden. Und obwohl es zu ihnen keinerlei Erklärung gab, entschlüsselte ich recht schnell ihren Sinn. Ich erinnere mich, wie ich den ersten Bericht aus dem Büro des Lagerleiters übermittelte. Ein kleiner Raum, zwei Fenster, dazwischen der Chef. Vor ihm ein Schreibtisch mit Tintenfass. Über seinem Kopf das Porträt eines Mannes mit Zwicker. Ebenfalls dort, aber etwas weiter unten, ein Telefon mit einer Kurbel, die beim Anrufen eines Teilnehmers kräftig gedreht werden musste. Entlang den Wänden – Sitzbänke. Auf ihnen die Vorarbeiter, Auftragnehmer, der Kommandant, die Führer der Holzbeschaffungsbrigaden. Auf einem Stuhl, seitlich vom Tisch – der technische Leiter. Die meisten von ihnen rauchen. Die Luft ist blau vom Rauch. Und alle reden. Ich drehe die Kurbel, rufe die Planungsabteilung, übermittle meinen Bericht und erkläre nebenbei die Bedeutung einiger Codes. Jemand gibt mit dünner, quietschender Stimme Erklärungen ab. Man wundert sich, wo der Statistiker abgeblieben ist. Auf die Frage antworte ich nicht, ich weiß nicht, ob es möglich ist. Aber der Gesprächspartner bleibt beharrlich. Ich übergebe den Hörer an den Leiter. Schweißgebadet von der stickigen Luft und dem Erlebten verlasse ich das Büro. Ich versuche mich daran zu erinnern, was der Gesprächspartner mir zu einigen, von mir nicht entschlüsselten, Codes gesagt hat. Bis heute weiß ich, dass der letzte, der sechsunddreißigste Code die Anzahl der geflochtenen Bastschuhe bedeutete. Nun, es stellte sich heraus, dass die Lagerleitung, wenn sie wünschte, dass die Erörterung eines Problems zu Ende gehen sollte, sagte: “Wir sind also beim Bastschuh-Flechten angelangt.”

Als mein Aufenthalt im prophylaktischen Gesundungspunkt zu Ende war, brachten sie mich in der verwaltungstechnischen Baracke (ATP) unter. Hier waren die Lebensbedingungen besser als in der Dienstleistungsbaracke. Bettstellen, Hocker, allgemeiner Mittagstisch mit langen Sitzbänken. Man durfte in der Baracke essen, musste die Mahlzeiten nicht in der Kantine einnehmen. Hier machte ich zum ersten Mal die Bekanntschaft mit Vertretern der mittleren Lagerschicht: Buchhaltern, Rechnungsführern, Norm-Sachbearbeitern. Mit einem von ihnen, der in der Vergangenheit Lehrer an der Frunse-Militärfachschule gewesen war, freundete ich mich an. Vorsichtig, damit die anderen es nicht hören konnten, diskutierten wir über die Ereignisse an der Front. Sein Nachname passte zu seinem Beruf – Woinow (Krieger). Wie man ihn nannte und weswegen er einsaß – ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich aber noch, dass er systematisch an Stalins Kanzlei schrieb und darum bat, an die Front geschickt zu werden. Im Herbst 1943 wurde seine Bitte erfüllt. Woinow war Kettenraucher. Er rauchte sogar nachts. Direkt in der Baracke. Er schlug mit einem Stein auf den Feuerstein, weckte die Nachbarn auf, und der scharfe Qualm von Machorka vollendete das Wachwerden. Alle waren empört und stießen Flüche gegen ihn aus. Einmal, als ich die Baracke von seinem nächtlichen Rauchen befreien wollte, befeuchtete ich die Spitze des Dochtes mit Zunder. Immer wieder stieß er den Stein auf den Feuerstein, funken sprühten, aber der Docht, der in das Eisenrohr eingefädelt war, fing kein Feuer. Die gesamte Baracke schlief bereits, irgendjemand bot ihm ein Feuerzeug an, doch er schlug weiter den Stein gegen den Feuerstein.

Während ich die Aufgaben des Statistikers im Lagerpunkt erledigte, erlernte ich auch die Arbeit des Norm-Sachbearbeiters. Dieser Beruf gehörte im Lager zu einem der privilegierten. Von der Arbeit des Norm-Sachbearbeiters hing in vielerlei Hinsicht das Wohlergehen der Arbeiter ab. Die offiziellen Normen überstiegen alle menschlichen Kräfte, vor allem bei der spärlichen Verpflegung, welche sie erhielten. Die Brigadeführer bewiesen ein Maximum an Erfindungsreichtum, um aus den Brigadearbeitern hundertein Prozent an Produktivität herauszuholen. Sie schrieben viele Kilometer an gar nicht existenten Rollwegen und Straßen, Kubikmetern gesammelten Totholzes, abgeholzten Büschen und plattgetretenem Schnee hinzu. Häufig wurde mit dem Einverständnis der Vorarbeiter auch das Volumen des geschlagenen, weggezogenen und abtransportieren Holzes hinzugeschrieben. Das wurde vielfach mit Genehmigung der Leiter der Lagerpunkte und sogar der Lager-Außenstellen so gehandhabt, von denen die oberste Solikamsker Leitung die Planerfüllung um jeden Preis verlangte. Infolgedessen entstand in den Lagern ein riesiger Mangel an Nutzholz, der später als natürlicher Verlust abgeschrieben wurde, der besonders beim Abflößen anfiel. Der Norm-Sachbearbeiter sollte die bearbeiteten Aufträge auf eine gesetzliche Grundlage stellen. Dafür brauchte man sich nicht oft in den Forstrevieren aufhalten, die Güte des Holzes und die Arbeitsbedingungen der Brigaden ermitteln.

Im Frühjahr 1944 wurden alle Häftlinge aus dem Lagerpunkt entfernt und an ihrer Stelle eine Etappe von Frauen aus der Arbeitsarmee dorthin gebracht, die vorwiegend eine Strafe als Kriminelle verbüßten. Etwa dreihundert junge Frauen. Von den ehemaligen Gefangenen blieben 14 im Lager. Die Techniker, Meister und Vorarbeiter, der Kommandant, der Arbeitsanweiser, der Planer und Normierer (das war ich), die Buchhalter, der Lagerist. Das konnte man sich gut merken: vierzehn Personen im vierzehnten Block. Man brachte uns in der Sanitäts-Durchlassstelle unter, einem kleinen Bereich, der an die Hauptzone angrenzte und durch den früher alle neu angekommenen Etappen Zutritt bekamen. Dort gab es ein Badehaus, eine Wäscherei, eine Kammer zum Dampferhitzen. Unsere kleine Zone wurde von mehreren Schützen sowie zwei Aufsehern bewacht. Ob auch die Hauptzone, in der di Frauen aus der Arbeitsarmee untergebracht waren, bewacht wurde, erinnere ich nicht mehr. Wir wohnten und arbeiteten in behelfsmäßigen Räumlichkeiten, die in aller Eile in Kabinen umgerüstet wurden.

Mit den ersten Tagen des Erscheinens der Arbeitsarmistinnen begannen der Kommandant und der Arbeitsanweiser, die sich oft in der Zone aufhielten, meiner Meinung nach, völlig unwahre Geschichten über Unzucht, Grobheiten, virtuose Zankereien und sogar Grausamkeiten der neuen Lagerzonen-Bewohner zu erzählen. Ich weigerte mich ihnen Glauben zu schenken. Weder Gefängnis noch Lager haben meine Ehrfurcht vor Frauen erschüttert. Umso mehr, als bis zu diesem Zeitpunkt nur eine einzige Frau im Lager gesehen hatte – Olga Iwanowna Popenja, eine gutmütige, aufgeschlossene und äußerst intelligente Person. Doch die Geschichten splitterten sich auf, es wurden immer mehr, angefüllt mit immer neuen fantasievollen Einzelheiten.

Einmal, als der Leiter sich zu seinem turnusmäßigen Rundgang um die Baracken fertigmachte, verlangte er, dass ich ihn begleiten solle, um eine Klarstellung anlässlich der angewendeten Normen und Kostensätze zu geben. Und da bin ich auch schon in der Frauen-Zone - zum ersten Mal, seit die Frauen aus der Arbeitsarmee dort untergebracht wurden. Voran der Leiter, hinter ihm die Aufseher, der Kommandant, der Arbeitsanweiser und ich. Das, was ich dort sah, erschütterte mich. Die Frauen liefen ohne jegliche Scham, nackt bis zur Taille, durch die Baracken, lagen auf den Pritschen, hoben ihre nackten Beine, und luden den Lagerleiter zum Rauchen ein. Er geriet in Wut, fing an zu schreien und spuckte aus, aber sie antworteten mit obszönen Worten und zweideutigen Witzen, und schlugen ihm vor, ihn in der Nacht zu besuchen. Freilich führten sich bei weitem nicht alle Frauen so auf. Aber gerade sie habe ich in Erinnerung. Jung, zügellos und ausgesprochen arrogant. Ihr kehliges Lachen, ihre aufreizenden Lippen, ihr schlüpfriges Gerede erschütterten mich und weckten in mir längst keine puritanischen Gedanken. Mit aller Kraft versuchte ich, die in mir aufbrausenden Gefühle zu unterdrücken. Ich gelangte zu der Überzeugung, dass ihre Zuchtlosigkeit und ihr Zynismus nur eine Maske waren, hinter der sich die gequälten und missbrauchten Frauenseelen verbargen. Ich rief die Gestalt von Bloks Unbekanntem zur Hilfe, erinnerte mich an Fragmente aus Fausts Walpurgisnacht. Doch nichts half. Meine puritanische Erziehung verursachte bei mir einen ernsthaften Riss. Das Ideal der unzugänglichen, stolzen und schönen Unbekannten unterlag dem Wunsch, ein lebendiges, erreichbares, vielleicht sogar zügelloses weibliches Wesen zu besitzen. Und unter den Frauen um uns herum gab es weder «Schreckgespenster» noch «Ohrfeigen-Gesichter». An diesem Tag empfand ich zum ersten Mal den Prozess einer in mir beginnenden Spaltung.

Ein paar Tage später trafen bei uns in Block vierzehn der Leiter der Kultur- und Erziehungsabteilung (KWTSch) aus dem OLP sowie eine Zivilperson, welche die Patenschaft über die Frauen aus der Arbeitsarmee innehatte, ein. Unser Leiter berief eine außerordentliche Versammlung einå, zu der die Brigadeleiter, genauer gesagt die Brigadeführerinnen aller Frauenbrigaden geholt wurden. Sie sahen recht anständig aus und verhielten sich zurückhaltend. Nachdem die Brigadeführerin eben jener tollkühnen Brigade entsprechend bearbeitet worden war, entschuldigte sie sich für das Benehmen ihrer Mädels, wie sie sie nannte.

Gegen Ende der Versammlung, offenbar zum Zeichen der Versöhnung, nahm der Lagerpunkt-Leiter sein Bajan, und die Frauen sangen recht liebreizend und berührend einige Volkslieder und sogar ein rotwelsches. Als der Leiter, der wie immer angetrunken war, bemerkte, dass ich nicht mitsang, fing er an herumzumeckern und versprach mir, mich in die Isolationszelle zu stecken.

– Zu ihren Mädels, – fügte er hinzu und wies dabei auf die Brigadeleiterin der tollkühnen Brigade.

Ich kam nur deswegen davon, weil ich damit einverstanden war, ein paar Gedichte zu rezitieren. Jessenin passte zur Situation. Seine Verse gefielen den Frauen, und diejenigen unter ihnen, die etwas älter waren, bekamen sogar feuchte Augen.

Das Badehaus, in dessen hinteren Räumlichkeiten wir untergebracht waren, wurde an Samstagen und Sonntagen für seinen vorgesehenen Zweck genutzt. Dort wuschen die Frauen aus der Arbeitsarmee sich und ihre Kleidungsstücke. Um Kontakte zu vermeiden, die in der Lagersatzung nicht vorgesehen waren, wurden die Türen, die aus dem Bad in die rückwärtigen Räume führten, von innen abgeschlossen. An einem der Samstage saß ich in meiner aus einer Abstellkammer umgerüsteten Zelle und bearbeitete Aufträge. Plötzlich öffnete sich meine Brettertür, und mit den Worten: “Puh, wie heiß, kann ich hier bei dir eine rauchen”, - trat ein junges und vollkommen nacktes Mädchen ein. Nachdem sie sich mir gegenüber auf die Bank gesetzt hatte, inhalierte sie tief und begann mich mit einem ironischen Lächeln zu betrachten. Schwer wiederzugeben, was ich empfand. In der Erinnerung ist nur noch der rosa Fleck ihres entblößten Körpers. Ich versuchte nicht zu ihr hinüberzusehen, und tat es dennoch. Die nassen Haare, die an ihrem Kopf klebten, verliehen ihr ein rundes Kindergesicht. Schweißtropfen perlten um ihren prallen Mund. Ich schwieg, denn ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Pause zog sich hin. Sie legte ihre selbstgedrehte Zigarette beiseite und sagte mit tiefer, rauchiger Stimme: “Man sagt, dass du viele Gedichte kennst. Sag wenigstens eins auf, am liebsten von Jessenin”. Und ich besann mich wieder. Die Erziehung siegte. Zuerst langsam und holprig, dann immer ruhiger und sicherer, zitierte ich Verse von Jessenin und Blok. Unbemerkt verschwand der nackte Körper, nur ihre großen Augen blieben. Irgendwo quietschte eine Tür. Sie stand auf und ging mit den Worten: “Na, du bist mir vielleicht einer!” – hinaus. Und ich saß noch lange unbeweglich und mit geballten Fäusten da. Ich dachte an Tambow zurück, den Heuhaufen, dasselbe Zitieren von Gedichten. Diese flüchtige Begegnung hatte weder eine Fortsetzung noch Konsequenzen.

Zum Ende des Sommers wurde der «Vierzehnte Block» geschlossen und wir vierzehn Gefangene zur stabsaußenstelle des Beresowsker OLP verlegt. Wie man schon vermuten konnte, waren alle Gaunerplätze besetzt. Einzelnen gelang es sich niederzulassen. Die anderen, unter ihnen auch ich, gerieten zum Holzeinschlag. Und wieder begann die aufreibende Arbeit im Wald, der Hunger. Wieder, zum wievielten Mal nun schon, setzte der Prozess der Entkräftung ein. Die Rettung kam im Herbst. Im Stab der Militarisierten Wache ging das Telefon kaputt. Der ehemalige Leiter der Außenstelle „Vierzehnter Block“ war dort als Gehilfe des Zug-Kommandeurs tätig. Und der erinnerte sich, dass ich mehrere Male bei ihnen im Büro das Telefon repariert hatte, und so befahl er dem Arbeitsanweiser, mich ihm zur Verfügung zu stellen. Man machte mich beim Holzeinschlag ausfindig und brachte mich zum Stab der Militarisierten Wache. Ich brachte das Telefon in Ordnung und geriet einige Tage später ins Büro. Der Kreis hatte sich geschlossen und ich - wieder einmal überlebt. Doch es währte nicht lange. Im Oktober 1944 – die Etappe nach Ust-Jaswa.

Das Ust-Jaswinsker OLP lag am linken Ufer der Jaswa, nahe ihrem Zufluss in die Wischera. Sein wichtigster Funktionszweck – das Abflößen von Nutzholz. Es begann im Frühling, mit dem Flößen von Treibholz, als die Produktions-Lagerpunkte, welche das Holz an die Jaswa abtransportierten, es ins Wasser warfen, wo es lose, ungebündelt, mit der Strömung driftete. Im Bezirk der Ust-Jaswinsker Reede kam das Holzó, dem Bogen des Flusses und den Besonderheiten der Strömung folgend, am linken Flussufer an. Hier waren Auffang- und Sortier-Netze aufgestellt. Die aufgehaltenen Stämme wurden entsprechend dem Lieferprogramm verteilt und gebündelt. Aus ihnen wurden Flöße zusammengestellt, die anschließend mit Bugsierschiffen auf Wischera und Kama abgeflößt wurden.

Im Sommer, als der Wasserstand in Jaswa ständig sank, blieb an ihren Ufern jede Menge Holzmaterial zurück. Um es ins Wasser zu rollen, wurden Sonder-Brigaden formiert, die sich entlang des Flusses bewegten und teils mit Haken und manchmal auch mit den Händen die Stämme ins Wasser stießen. Diese Operation wurde als Schwanzrasur bezeichnet. Auf den ersten Blick schien die Arbeit recht leicht und sogar interessant zu sein. In Wirklichkeit verhielt es sich nicht so. Hauptsächlich verausgabten die Häftlinge sich durch das Wegräumen von Geröll, die durcheinanderliegenden Baumstamm-Haufen, deren Höhe mitunter bis zu zehn Meter betrug. Diese Arbeit war nicht nur schwer, sondern gefährlich. Durch eine einzige unachtsame Bewegung konnte das aufgetürmte Holz zum Einsturz gebracht werden. Und dann flogen meterlange Stämme mit Krachen und Getöse auf die Menschen. Sofort geriet wieder Bewegung in die Gefangenen, und sie zerstreuten sich in verschiedene Richtungen. In solchen Fällen fingen die Wachen, die an Stellen standen, welche von den Bäumen nicht erreicht werden konnten, an zu schießen – mitunter auch auf die Beine der Davonlaufenden. Sie konnten schließlich nicht wissen, ob dies absichtlich geschah, als Deckung für eine Flucht. Manchmal zwangen sie die Brigade, Senk-Holz aus dem Wasser zu ziehen, das häufig Ursache für Stockungen war, die unangenehmste Erscheinung beim Abflößen von Triftholz.

In der Regel sollte die Schwanzrasur im Sommer vorgenommen werden, schlimmstenfalls im frühen Herbst. Wir kamen im Oktober an. Die Arbeit war schwer. Es war kalt, rutschig, die Beine waren fast ständig nass. Im November fiel Schnee, doch der Fluss war noch nicht mit Eis bedeckt. Die auf dem Boden liegenden Stämme wurden vom Frost erstarrt. Sie mussten mit zerspaltet werden. An einem solcher Tage fingen die Wachen, die entschieden hatten, dass jemand aus der Brigade seine Flucht plante, an zu schießen, trieben uns alle bis zum Gürtel ins Wasser und hielten uns dort fest, bis Hilfe kam. Infolgedessen kam ich und ein paar andere aus unserer Brigade danach ins Krankenhaus. Das Fieber stieg bis vierzig. Mehrmals verlor ich das Bewusstsein. Aus dem Krankenhaus wurde ich entlassen, als ich mich noch kaum auf den Beinen halten konnte. Der Arbeitsanweiser teilte mich für Wirtschaftsarbeiten ein. Einmal, als ich die Kantine der Militarisierten Wache saubermachte, entdeckte ich unter dem Fußboden ein Gestell zur Funkübertragung. Zu meiner Verwunderung war sie äußerlich in gutem Zustand. Sogar die Röhren befanden sich an den richtigen Stellen, waren ganz und ohne Beschädigungen. Es ist schwierig, die Gefühle wiederzugeben, die ich erfuhr, als ich die matte Oberfläche des Gestells, die Einzelteile berührte. Über den Fund unterrichtete ich den Disponenten. Ich sagte ihm, dass ich die Installation wieder hinbekommen könnte. Nach fast einem Monat zäher Verhandlungen und Vereinbarungen, die der Leiter des OLP Duwalow mit den Solikamsker Behörden führte, wurde die Erlaubnis zur Montage des Verstärkers erteilt. Am selben Tag rief man mich in sein Büro.

Ich kann mich noch gut an das zweistöckige Gebäude mit dem Türmchen in der Mitte, das direkt am Ufer der Jaswa lag, erinnern. Über dem Türmchen eine rote Fahne. Das Ufer fällt steil zum Fluss ab. Im Winter ist es mit einer weißen Schneehülle bedeckt. Die Schwimmhölzer, aus den im Sommer die Sperre und das Sortiernetz gebaut wurden, befinden sich am Ufer. Im ersten Stock – die Buchhaltung, das Flößerei-Kontor, die Planungsabteilung, der Raum des Norm-Sachbearbeiters. Im zweiten, in der Mitte, unter dem Türmchen mit der Flagge – das Büro des Chefs: hell, mit Rundumsicht, wie das Steuerhaus eines Schiffes. Ein massiver Schreibtisch. Ein Läufer. Am Tisch Duwalow, zierlich, gut gebaut, mit gleichmäßigen Gesichtszügen und vollem Haar. Die Hände schmal und gepflegt. Und dabei spricht er grob, unhöflich, und sein Gerede ist von anstößigen Worten durchsetzt. Er erklärte mir die Aufgabe. Er signalisierte mir, dass ich alle Arbeiten nur in Anwesenheit des Ober-Bevollmächtigten ausführen dürfte. Er stand hier, am Fenster. Schwerfällig und unfreundlich.

Ein paar Tage später wiesen sie mir einen Platz zu. Ein kleiner Raum gegenüber von Duwalows Büro. Man brachte die Platte für das Gestell und befestigte sie. Ich begann mit der Montage. Es gab überraschend wenige Beschädigungen. Hauptsache alle Röhren waren in Ordnung, und das war wirklich ein Wunder, wenn man bedenkt, wo der Verstärker «aufbewahrt» worden war. Der Empfänger, der auf Moskau ausgerichtet und in einem extra dafür hergestellten Schränkchen verschlossen war, wurde nach langem Zweifeln und Zögern in den Funkraum gebracht. Die Tür würde zusätzlich mit einem Wachssiegel verschlossen. Die ersten Rundfunkstellen richtete ich im Büro Duwalows, des operativen Bevollmächtigten, im Stab der Militarisierten Wache ein. Ich schloss sie an die vom Wirtschaftsleiter aus Solikamsk mitgebrachten Lautsprecher an. Fertig! Die Funkstation funktionierte. Die Kraftreserve ist groß. Nun brauchte mich die Leitung nicht mehr, und ich wurde wieder zu den gewöhnlichen Arbeiten geschickt. Ich schimpfte mit mir selbst, weil ich mich so beeilt, mich so bemüht hatte, eine qualitativ gute Arbeit abzugeben. Ich betete zu Gott, dass irgendetwas kaputt ging. Doch der Verstärker arbeitete, und ich ging wieder in den Wald.

Endlich holten sie mich. Irgendetwas war passiert. Am Geruch ahnte ich es: der Leistungstransformator war durchgebrannt. Einen neuen bekamen sie nicht. Ich begann mit dem Aufwickeln. Fand die Bruchstelle; es war zum Glück nicht so schlimm, nur fünf Schichten. Ohne mich zu beeilen, reparierte ich den Fehler. Auf die Fragen der Leitung antwortete ich, dass der Verstärker regelmäßig gewartet werden müsste. Ich bekam einen Job in der Buchhaltung, um Formulare zu zeichnen und gleichzeitig den Stand der Dinge im Funkraum zu überwachen. Allerdings versetzten sie mich bereits nach wenigen Monaten ins Flößerei-Kontor, wo ich unter der Aufsicht von Ober-Buchhalter Lonja Swiridow stand. Er war Häftling, besaß jedoch einen Passierschein. Er lebte in der Lagerzone, in einem separaten Zimmer – nicht groß, ein von der Sektion der Wohnbaracke abgegrenzter Raum: ein Zeichen für seine Zugehörigkeit zur Lagerelite. In ebensolchen Kabinen wohnten auch der Kommandant, der Disponent und der Ober-Normsachbearbeiter.

Anfang 1945 installierte ich auf Anweisung Duwalows in seiner Wohnung und in den Wohnungen des technischen Leiters und des Bevollmächtigtenî, sowie in dem Hotelzimmer, in dem hohe Gäste aus Solikamsk untergebracht waren, Funkanschlüsse. Anschließend richtete ich derartige Anschlüsse mit Erlaubnis Duwalows auch in den Wohnungen einiger weiterer, ebenfalls in der Siedlung wohnender, Leiter ein. Jedes Mal bekam ich nach Beendigung der Arbeit etwas zu essen. Manche Lebensmittel konnte ich mit in die Zone bringen. An solchen Tagen aßen Lonja und ich in seiner Kabine zu Abend. Im März wurde ich zu Dubalow gerufen. Im Amtszimmer saß ein Mann in Lederjacke, Stiefeln und Schulterriemen. Er war der Chef über irgendwelche Sondersiedler in einer nahegelegenen Siedlung, wohl der Kommandant. Und er wollte in seiner Siedlung ebenfalls eine Funkstation haben. Und so fahren er und ich mit dem Schlitten los. Die Beine waren mit einem Fell zugedeckt. Ausgelassen läuft das wohlgenährte, gepflegte Pferd und wirft dabei Schneeklumpen in die Luft. Mit Bitterkeit erinnere ich mich an mein Lagerpferd. Ob es wohl noch lebt? Ich frage, welche Art von Ausrüstung sie haben. Ich begriff, dass sie außer eines veralteten SI-235 nichts weiter zur Verfügung haben. Ich erkläre, dass das ziemlich wenig ist, und dass man zumindest Bauelemente und ein Schema benötigt. Einiges fand sich bei ihnen dennoch, einiges brachten sie aus Solikamsk mit. Dabei hatte man doch zu Beginn des Krieges für nicht abgelieferte Teile eine hohe Haftstrafe bekommen. Schließlich hatte ich den Verstärker zusammengebaut, freilich war er nicht so leistungsstark wie unser Ust-Jaswensker. Ins OLP kehrte ich eine Woche später mit zwei Sack Kartoffeln zurück. Ich gab sie bei der Gemüse-Einlagerung ab, und nun konnte ich zu jeder beliebigen Zeit die für mich notwendige Menge abschreiben, allerdings nicht mehr als fünf Kilogramm. Nach Lagermaßstäben führten Lonja und ich nun ein mehr als glückliches Leben.

Im Mai 1945 feierten zivile Mitarbeiter und Häftlinge im Ust-Jaswensker OLP den Tag des Sieges. Die Arbeit wurde gestrichen, und zur Ration gab es zusätzlich zweihundert Gramm Brot und eine Kelle Brei.

Im Sommer 1945 wurde auf der Reede eine Strecke für das sogenannte Gridnewsker Abflößen eingerichtet. Ihr Hauptzweck war es, die großen Verluste an Takelage-Material zu reduzieren: Ketten, Seile, Drähte, die beim Zusammenbinden der Flöße verbraucht wurden. Das Aggregat des Gridnewsker Flößsystems erinnerte an eine Anlande-Stelle. Es stand, auf dem Wasser schwimmend, direkt am Ufer. Darauf ein Dieselmotor, der durch die gesamte Siedlung dröhnte. Entlang der Anlegestelle ein Zufluss, durch den die Stämme selbst, einer nach dem anderen, schwammen. Zuerst wurden mit einem riesigen Bohrer einen halben Meter von jedem Stammende entfernt Löcher in die Stämme gebohrt. Anschließend wurde die Hälfte der durchlöcherten Stämme «kleingemacht» – der Länge nach mit einer Kreissäge zersägt. Hier wurden auch Dübel geschnitzt – meterlange Holznägel, entsprechend den in die Stämme gebohrten Öffnungen. Aus diesen Rohlingen wurde eine hölzerne Kette zusammengefügt: der ganze Baumstamm wurde am Ende mit einem Dübel an den ihm zu beiden Seiten anliegenden Hälften befestigt; am Ende erneut ein ganzer Baumstamm usw. Die entstandene Kette war von mehreren Dutzend Bündeln umgeben. Aus ihnen entstand dann das eigentliche Floß. Ich wurde für die Berechnungsarbeiten herangezogen, die mit der Zusammenstellung und Steuerung der Flöße zusammenhingen, welche das Gridnewsker Floßsystem passierten.

Im Juni traf zur Beschleunigung der Organisationsarbeiten am Gridnewsker Floßsystem mit einem behördlichen Sonder-Kutter der Flöß-Leiter des UssolLag Umnow ein. Man erzählte sich, dass der Rumpf seines Kutters mit Panzerplatten verstärkt worden war, so dass er bei Notwendigkeit eine zehn Zentimeter dicke Eisschicht zerbröckeln konnte. Es hieß, dass es auf dem Boot einen mit Keramikfliesen ausgestatten Duschraum und einen mit Mooreiche eingefassten, exotisch anmutenden Aufenthaltsraum gäbe. Und noch vieles mehr erzählte man sich über diesen Kutter und seinen Eigner. Im letzten Jahr meines Aufenthalts im Lager musste ich mit dem Umnowsker Kutter fahren, und ich kann nur bestätigen, dass die Leute nicht sonderlich weit von der Wahrheit entfernt waren.

Umnow selbst war, wie Lonja mir versicherte, ein kompetenter Spezialist. Hager, hochgewachsen, ein wenig gebeugt, bekleidet mit Militärjacke und Stiefeln, war er schnell, entschlossen und mächtig. Er war in der Lage, sich schnell in das Wesentliche hineinzudenken und seine Entscheidung vernünftig zu rechtfertigen. Es heißt, dass der Leiter des UssolLag ihn sehr respektierte und schätzte. Vielleicht kamen seine Entschlossenheit und Autorität daher. Meine Bekanntschaft mit ihm verlief und äußerst bekannten Umständen. Es war ein freier Tag. Niemand hielt sich im Kontor auf. Lonja und ich trinken in der Kabine Tee. Plötzlich stürmt der Disponent herein.

– Schnell ins Hotel zu Umnow. Sein Radio funktioniert nicht. Der Begleitsoldat steht am Wachhaus.

Ich treffe im Hotel ein. Die Diensthabende bringt mich zum entsprechenden Zimmer. Ich klopfe an. Aus dem Zimmer ertönt eine Stimme:

– Kommen Sie herein!

Ich öffne die Tür. Ein großes Zimmer, ein Ankleidespiegel, ein Tisch, bedeckt mit einer hübschen Samt-Tischdecke, ein mit Plüsch bezogener Diwan. Links ein Bett. Im Bett Duwalows halb entkleidete Sekretärin. Auf der Bettkante, halb zur Tür gewandt, sitzt Umnow. An seinen Füßen Hausschuhe. Neben mir die Diensthabende. Hinter mir der Wachmann. Eine stumme Szene.

– Und? Was wollen Sie? – fragt Umnow, als wäre nichts gewesen.

Als er begreift, dass ich gekommen bin, um das Radiogerät zu reparieren, verlangt er:

– Aber schnell. Der Wetterbericht kommt gleich. Die Steckdose ist beim Fenster.

Mit dem Rücken zu Umnow stelle ich eilig die Verkabelung wieder her. Ich verlasse das Zimmer seitwärts, ohne in Richtung des Bettes zu schauen. Kein Dankeschön, kein Auf Wiedersehen. Im Flur schnalzt der Wachmann mit der Zunge:

Was für eine Frau.

Am folgenden Tag ist die Begegnung etwas gründlicher. Die Parameter des Floßes, welches das Gridnewsker Floßsystem, passiert hatte, wurden erörtert. Mit Vorsicht berichte ich über die Ergebnisse meiner Berechnungen. Umnow ist zufrieden. Am Abend, als er das Flößerei-Büro betritt, wendet er sich an mich:

– Man sagt, dass Sie gut Schach spielen können. Kommen Sie am Abend in mein Hotelzimmer.

Wieder Schach spielen. Und ich weiß nicht, ob ich gewinnen oder verlieren soll. Ich «gähne» den Elefanten. Er kehrt zurück. Ich muss gewinnen.

Ende November 1945, mit dem Ende der Flöß-Arbeiten, holten sie die Häftlinge des Ust-Jaswinsker OLP fort. Hier sollten nun Zivilpersonen und Angehörige der Arbeitsarmee arbeiten. Lonja und mich schickten sie im Auftrag Umnows ins Kuschmangortsker OLP, um dort eine Tätigkeit im Flößerei-Kontor aufzunehmen. Seit meiner Verhaftung waren 1335 Tage vergangen. Vor mir lagen noch 2315. Doch jetzt herrscht kein Krieg mehr, und, wie es scheint, bin ich endgültig aus dem Abgrund herausgekommen, habe mich etabliert, überlebt.

 

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