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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Teil II
Hinter Stacheldraht

Kapitel 11. Frauen im Lager

Ins Kuschmangortsker OLP schickten sie Lonja und mich mit einer Sonderwache. Zu damaligen Zeiten war das eine eher seltene Erscheinung. Mit einem Sonder-Konvoi wurde man zur Untersuchung bei Gericht, zwecks Erhalts einer erneuten Haftstrafe und mitunter zur Durchführung einer Gegenüberstellung geschickt. Für die Erledigung fest definierter Aufgaben – ausschließlich Spezialisten. Lonja war tatsächlich ein erfahrener Buchhalter, der sich sehr gut in den Feinheiten der Flößerei-Arbeiten auskannte, aber wer war ich schon? Ein unfertiger Student, der über die zweite Leistungsklasse im Schach verfügte, der sich zur damaligen Zeit recht leidlich mit der Radiotechnik auseinandersetzen und gut rechnen konnte. Mit Flößerei-Angelegenheiten war ich nur oberflächlich vertraut, hauptsächlich als Teilnehmer am Treibholz-Flößen. Meine theoretischen Kenntnisse auf diesem Gebiet waren minimal, wenngleich man mich auf Anweisung Umnows auch schon mehrmals zur Berechnung der Floß-Parameter hinzugezogen hatte. Und trotzdem ging ich nicht mit einer allgemeinen Etappe ins Unbekannte, sondern mit einem Sondertrupp, und das hieß – ich hätte wieder einmal Glück gehabt.

Wir gingen, nach dem Stand der Sonne zu urteilen, gen Westen. Wir gingen über schneebedeckte Feldwege, Jägerpfade, Überreste von Rundholz-Straßen. Zwei Gefangene und zwei Begleitsoldaten. Die Wachbegleitung in Filzstiefeln, gegerbten Pelzjacken und Maschinenpistolen in den Händen. Lonja und ich in langen wattierten Strümpfen und den wie Matrosenblusen geschnittenen Lagerjacken. Hinter uns ein Schlitten. Darauf der Rucksack der Bewacher, meine Kiste für Funkgeräte und Lonjas Kleidersack. In dem Kleidersack Wäsche und unsere Trockenration. In der Kiste hauptsächlich Bücher. Doch das erfuhr Lonja erst bei unserer Ankunft am Ziel, während der Durchsuchung beim Wachhaus, und danach knurrte er lange Zeit herum. Wir gingen friedlich, wir wurden nicht angeschrien, nicht durch die Hunde verletzt. Wir hatten keine Angst vor dem Unbekannten, keine Furcht, wieder zum Holzeinschlag, an eine schlechte Lager-Stelle, in eine schlechte Brigade zu kommen. Allerdings, tief in unserer Seele, lauerten Zweifel: plötzlich – ein Fehler, plötzlich – wieder zu den allgemeinen Arbeiten. Die Tatsache, dass das Kontor mich mit Arbeiten betrauen könnte, auf die ich überhaupt nicht vorbereitet war, störte mich nicht. Ich war überzeugt, dass ich mit jeder beliebigen Büroarbeit zurechtkommen würde. Gegen Abend des ersten Tages überquerten wir den Solikamsker Trakt, auf dem sich in Richtung Norden, nach Tscherdan, seltene Lastkraftwagen voran bewegten. Voraus, leicht links, direkt über dem Horizont, loderte die unglaublich große, purpurrote Sonne auf. Der rosafarbene Schnee ist von den langen, schwarzen Schatten Bäumen spärlich wachsender Bäume gezeichnet. Wir übernachteten in irgendeinem kleinen Dörfchen. Der Morgen begrüßte uns mit durchdringendem Wind und Schneetreiben, das einem wie Stacheldraht ins Gesicht schnitt. Das Gehen fiel schwer. Erst nachdem wir die zugefrorene Wischera überquert und den Wald erreicht hatten, konnten wir endlich wieder frei atmen. Nach dem Mittagessen trafen wir am Stabslagerpunkt des Kuschmangortsker OLP ein.

Das Kuschmangortsker OLP war damals ein hochmechanisierter Holzverarbeitungsbetrieb. Hier wurden mechanische Sägen vom Typ Wakkop un K-5, Schlepp-Traktoren der Serie KT-12 und Seilwinden benutzt. Das Holz wurde zum unteren Holzlager an der Kama mit einer Schmalspurbahn transportiert. Zum OLP gehörten fünf Lagerpunkt-Außenstellen: Schtabnaja, wo sich die Verwaltung des OLP befand; Golownaja, welches die unteren Vorratslager bediente; Traktowaja, das am Bandjug-Tscherdyn-Trakt gelegen war und in jenen Jahren die gleiche Rolle erfüllte, wie die Außenstelle Wolim im Beresowkser OLP. Schließlich noch die beiden Holzbeschaffungs-Außenstellen Lesnaja und Sewernaja.

Das Revier, auf dem die Wohnzone des Stabslagerpunktes gelegen war, hatte eine merkliche Neigung von Nord nach Süd. Daher taute der Schnee im Frühjahr in der Zone früher als außerhalb, und an den vor den Nordwinden geschützten Stellen tauchten die Schneeglöckchen früher auf als im Wald. Die Wache befand sich an der Westseite der Zone, näher an seinem oberen Rand. Von der Wache, die das Territorium in zwei nicht ganz gleiche Hälften unterteilte, führte unsere Lager- «Allee» – die Trennungslinie. Zu beiden Seiten, im rechten Winkel dazu, lagen die Baracken.

Die erste Baracke rechts von der Wache – die Verwaltung. Dort befand sich die Leitung des OLP. Die Baracke war ein wenig höher als die anderen, die Fenster etwas größer. In ihrer Nordhälfte, die näher an der Wache gelegen war, waren Planungsabteilung und Buchhaltung untergebracht. In der südlichen – die Büros des Lagerleiters des OLP, seines Stellvertreters für den Bereich der Produktion, des Sekretärs der Parteiorganisation und der URTsch (der Berechnungs- und Verteilungsstelle).

Leiter des OLP war im Jahr unserer Ankunft Hauptmann Makarenko. Mitarbeiter aus dem Kader des MWD, groß, schwarzhaarig, mit dicken Augenbrauen. Sein herrschaftliches Gehabe vereinte sich in ihm mit den Streichen eines Don-Kosaken. Laut und cholerisch. Das ganze Gegenteil von ihm war sein Stellvertreter im Produktionsbereich – Pawel Jewsejewitsch Fajerstajn. Zivil-Ingenieur, Spezialist auf dem Gebiet der Holzverarbeitung. Vor dem Krieg hatte er als Oberingenieur einer Möbelfabrik, anscheinend in Berditschew, gearbeitet. Nicht sehr groß. Die Haare aschblond, rötlich schimmernd. Blaue Augen. Still, bescheiden, intelligent, jedoch mit hinreichend hartem Charakter.

Am dritten Tag nach unserer Ankunft schickten sie Lonja entsprechend seinem Arbeitseinsatz als Oberbuchhalter des Flößerei-Kontors zur Lagerstelle «Golownoj». Für mich fand man dort keinen Platz, allerdings wurde ich, da man sich entschlossen hatte, Umnows Anweisung nicht vollständig zu ignorieren, vorübergehend als Statistiker in der Planungsabteilung des OLP untergebracht. Die Trennung von Lonja frustrierte mich, aber ich konnte nichts machen. Ich musste froh darüber sein, dass ich, wenn auch nur vorübergehend, den Einsatz bei allgemeinen Arbeiten entgangen war. Nun hing vieles vom Erfolg meiner Tätigkeit am neuen Arbeitsplatz ab.

Leiter der Planungsabteilung, in der ich nun tätig sein sollte, war der Gefangene Mustafa Ainulowitsch Jangulatow – Usbeke, hochgewachsen, hager, mit rasiertem Kopf und einem geheimnisvollen Lächeln auf den schmalen Lippen. Gebildet, intelligent und auf orientalische Art weise. Etwa sechzig Jahre alt. Äußerlich erinnerte er ein wenig an Ulugbek – den bekannten usbekischen Astronomen und Mathematiker aus dem 14. Jahrhundert. Vor seiner Verhaftung hatte er das Labor irgendeines wissenschaftlichen Forschungsinstituts in Samarkand geleitet. Außer ihm arbeitete in der Planungsabteilung Sascha Fetissow – ein stiller, hagerer, intelligent aussehender junger Mann. In jenen letzten Monaten des ausklingenden Jahres arbeiteten sie am Produktionsfinanzplan für das Jahr 1946. Ich als Neuling wurde mit der laufenden operativen Arbeit betraut: Berichte sammeln und abarbeiten. Meine Tätigkeit begann am Abend, nach dem Abendessen, wenn die Statistiker für die Geschäftsreisen zur Übergabe der Berichte bereit waren. Es war schwierig, die Lagerpunkte telefonisch zu erreichen, besonders die Lager «Sewernij» und «Wostotschnij», die Verständigung war äußerst schlecht. Oft musste man auf die Hilfe der Vermittler zurückgreifen, deren Rolle für gewöhnlich Telefonistinnen der Lagerstelle «Sewernij» ausübten. Die Bilanzdaten, die mit Jangulatow und Fajerstajn abgesprochen waren, mussten am selben Tag, nicht später als zehn Uhr abends per Telefon nach Solikamsk übermittelt werden. Um zehn Uhr begann der Aufruf, den der Leiter des UssolLag Oberst Tarasjuk durchführte. Zu diesem Zeitpunkt musste Makarenko alle unerlässlichen statistischen Materialien über den erledigten Umfang und die Produktivität der Arbeit pro Tag auf dem Tisch liegen haben – seit Beginn des Monats, seit Jahresbeginn sowie die Perspektiven für die Erfüllung der Planaufgaben. Bei der Bearbeitung des Materials benutzte ich in breitem Umfang Vergleichstabellen, Diagramme und Grafiken, was zwar Fajerstajn sehr gefiel, aber, wie ich später erfuhr, Jangulatow verdross.

Wenngleich sich die materielle Grundlage meiner Lager-Existenz mit dem Umzug ins Kuschmangortsker OLP praktisch nicht änderte und auch weiterhin der Hunger an meinem Magen nagte, so änderte sich doch merklich meine Laune. Die Freundschaft mit Lonja, die wohlwollende Haltung Fajerstajns und Makarenkos verschafften meinem Lagerleben eine gewisse Standfestigkeit und Zuversicht. Und obwohl mich der Hunger nicht losließ und ich so manches Mal als vorübergehender Mitarbeiter zur Holzbeschaffung hinausgehen musste, war ich überzeugt davon, dass das Schlimmste hinter mir lag, dass man mich zumindest unterstützte und nicht jämmerlich umkommen ließ. Wahrscheinlich gab es ein solches Gefühl auch einst unter den ruinierten Adeligen. Schließlich durfte ich eine leichte und sogar interessante Arbeit verrichten, mit der ich die Hoffnung auf eine verlässliche Lagerexistent verband.

Eine gewisse positive Rolle spielte auch die allgemeine Lage in der Lagerzone, die sich vorteilhaft von der unterschied, mit der ich in anderen Lagerpunkten konfrontiert gewesen war. Hier war es sauberer, es herrschte mehr Ordnung, in allen Wohnbaracken gab es Schlafkojen und Bettzeug. Dahinsiechende waren nicht zu sehen. Es gab nur wenige Kriminelle. Dafür zahlreiche Angestellte und Bedienstete. In der Kantine wurden gelegentlich Filme gezeigt oder es trat eine Kultur-Brigade auf.

Das Lagerleben war vertraut und banal geworden. Es stellte sich heraus, dass man sich auch auf diesem Sklaven-Existenzniveau über Dinge freuen konnte. Beispielsweise einen guten Platz in der Baracke, einen sauberen Satz Wäsche, einen gebackenen Laib Brot. Mehr noch, ich erledigte meine Arbeit mit Vergnügen, dachte nicht daran, dass es Fronarbeit war. Nach und nach erwachte mein Interesse an Büchern, Gedichten, der Mathematik. Es war, als ob ich mein Augenlicht wiedererlangt hätte. Der sichtbare Raum erweiterte sich, bekam Farben und Gerüche. Und schließlich bemerkte ich, dass es in der Lagerzone Frauen gab. Sie lebten in zwei Sektionen der Wohnbaracke. Sie arbeiteten in der Buchhaltung, im Krankenhaus, in der Küche, in der Wäscherei, wuschen den Fußboden auf und reinigten die Büros der Leitung. Unter ihnen befanden sich zahlreiche junge, sympathische. Sie stachen unter der Lagerbevölkerung in der Zone merklich heraus. Und es war nicht nur so, dass ihre Wattejacken und wattierten Hosen akkurat auf ihre Figur abgestimmt waren und unter ihren Kragen elegante Schals hervorragten. Das wichtigste war – sie lächelten! Natürlich nicht alle und nicht immer, aber sie lächelten! Mein Gott! Wie viele Jahre hatte ich ausschließlich düstere, sorgenvolle, und oft einfach nur böse Gesichter gesehen? Und plötzlich, kaum merklich, ein angespanntes Lächeln, welches an ein Schneeglöckchen auf einer aufgetauten Wiese erinnert.

Allmählich erwachten die Gefühle, die durch Hunger, Erniedrigung und Angst unterdrückt gewesen waren, wieder in mir. Es zog mich unwiderstehlich zu den Frauen, zum Kontakt mit ihnen. Ich wollte ihr Lächeln sehen, ihr Lachen hören, mich mit ihnen unterhalten. Nein, nein! Mich leitete damals nicht der Wunsch nach körperlicher Nähe. Das Gefühl, das mich einst am 14. Lagerpunkt befallen hatte, hatte zu der Zeit seine Schärfe verloren und war auf das Niveau des Unterbewusstseins übergegangen. Und jetzt wollte ich, wie schon zuvor, reinen, selbstlosen und erhebenden Umgang haben.

Wohl nicht zufällig war das erste Mädchen, das ich kennenlernte, eine zivile Telefonistin, welche an einem Schalter außerhalb der Lagerzone arbeitete und deswegen für eine körperliche Beziehung vollkommen unzugänglich war. Sie trug den merkwürdigen, wohl weißrussischen Nachnamen Soroka. Nelja Soroka. In den Abendstunden half sie mir dabei, mich mit den Lagerstellen in Verbindung zu setzen und die Berichte zu sammeln. Nachts, als sie aufhörten, sie mit Anrufen zu stören, las ich ihre Gedichte, erzählte den Inhalt der gelesenen Bücher nach, teilte meine Gedanken über das Erlebte und, natürlich, wie ich einst mit Rita ein hohes Risiko eingegangen war. Obwohl sie nicht sehr gesprächig war, erzählte sie mir von ihren Problemen. Ihre weiche Bruststimme gefiel mir. Wenn ich ihr zuhörte, stellte ich mir vor, wie sie wohl aussehen mochte, wie groß sie wäre, was für Augen sie hätte, wie alt sie sein mochte. Was sie von mir dachte, welche Vorstellung sie von mir hatte, weiß ich nicht. Diese Themen vermieden wir. Von ihr wusste ich nur, dass sie Komsomolzin war und allein mit der Mutter lebte. Erst ein Jahr später gelang es uns, uns zu sehen.

Meine Beziehung zu den Frauen wurde durch die nächtlichen Unterhaltungen mit Nelja nicht ausgeschöpft. Die gesamte erste Tageshälfte, in der ich in der Planungsabteilung nicht arbeiten brauchte, verbrachte ich in meiner Baracke. In der Regel waren zu dieser Tageszeit fast all ihre Bewohner bei der Arbeit, und das nutzten die Mitglieder der Kulturbrigade, um hier ihre Proben durchzuführen. Und da hatte ich keine Zeit zum Schlafen. Ich ließ mich in meinem Koben nieder, nahm einen ernsten und konzentrierten Blick an und begann die langen Papierstreifen, die ich aus der Planungsabteilung mitgebracht hatte, mit Versen und Formeln vollzuschreiben. Freilich gab es hier auch eine Zeichnung. Die Leute traten heran, betrachteten sie und summten respektvoll, als sie die lange Reihe von Integralen sahen. Und trotzdem war da nicht nur die Zeichnung. Jedes Mal, wenn sie ein neues Lied lernten, erörtern sie die Absicht des Dramaturgen oder stellten ein Konzertprogramm zusammen, und dann ergriff mich Sehnsucht. Sehnsucht nach den Studentenjahren und die Studienzeit. Ich wollte die entrückte Zeit bändigen, noch einmal nachvollziehen und wenigstens ein bisschen von dem festhalten, was in der Erinnerung noch geblieben war.

Hier fand auch meine Bekanntschaft mit einigen Teilnehmern der Kulturbrigade statt. Einer von ihnen, Ninel Manikowskaja, hatte ich bereits beim ersten der Konzerte, die ich besucht hatte, meine Aufmerksamkeit gerichtet. Sie konnte gut singen und rezitieren, besonders Gedichte der von mr so geliebten Poeten des Silbernen Zeitalters, und wohl aus diesem Grund schien sie mir erlesen und unzugänglich zu sein. Erreichbarer und einfacher war eine andere Teilnehmerin der Kulturbrigade – Verotschka Miller. Ein liebes, rundes Gesichtchen, riesige, schwarze und immer traurig dreinblickende Augen, in denen versteckte Angst lag. Um sie noch einmal zu sehen, fing ich an, die Kultur- und Erziehungsstelle (KWTSch) zu besuchen. Dort versammelten sich abends die Mitglieder der Kulturbrigade um den gusseisernen Ofen. Sie studierten Lieder ein, lasen Gedichte. Aus der halb geöffneten Tür heraus sah man purpurfarbene Lichtflecken der Hände und Gesichter zucken. Und wir vergaßen, dass wir im Lager waren, dass es um uns herum Wachtürme, Wachen mit Maschinenpistolen und auf Menschen trainierte, wilde Schäferhunde gab. Am späten Abend, zwischen dem Geplauder mit Nelja und der Bearbeitung der Berichte verfasste ich Gedichte, die Verotschka Miller gewidmet waren. Bei den regelmäßigen Treffen in der KWTsch, übergab ich sie ihr wortlos und, wie mir schien, unbemerkt von den anderen. Doch es schien mir nur so.

An einem der frostigen Novemberabende, kurz vor dem Signal zur Bettruhe, als ich nur noch allein in der Planungsabteilung war, trat Ninel Manikowskaja ein. Sie schloss die Tür, setzte sich an den Tisch und sagte, sich vornüberbeugend, beinahe im Flüsterton zu mir:

– Vergiss Verotschka, sie ist Lutzews Freundin, und dein Flirten könnte sowohl für dich als auch für sie ein schlechtes Ende nehmen. Immerhin schlägt er sie auch so schon gnadenlos.

Das hatte ich nicht gewusst. Fedja Lutzew – der Arbeitsanweiser des Lagerpunktes, ein Deutscher, der hier seine Haft nach dem Alltagsparagrafen verbüßte, war grob und unbeherrscht.

– Aber nicht genug, um ein zerbrechliches und wehrloses Mädchen zu schlagen, dachte ich, sprach es jedoch nicht laut aus.

Ninel lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah mich lächelnd an. Flachsblonde Haare, graue Augen.

– Nun, siehst du, habe ich dich gewarnt. Wenn mit dir irgendetwas geschieht, dann würde es mir leidtun.

Mit diesen Worten legte sie zwei vollgeschriebene Blatt Papier auf den Tisch. Gedichte. Gedichte, geschrieben in einer klar leserlichen Handschrift, ähnlich ihrer Art zu singen, zu deklamieren, wobei sie jedes Wort deutlich artikulierte. Gedichte, wie gewöhnlich, über die Liebe, aber hastig geschrieben, unter Verletzung von Rhythmus und Reim. Mechanisch begann ich sie zu korrigieren, ohne mir wirklich ihrer Bedeutung bewusst zu werden.

Ich hätte etwas sagen sollen, doch mir fiel nichts ein, was dem Niveau des Gastes entsprochen hätte. Und in dem Augenblick klingelte das Telefon. Nelja! Sie will wissen, warum ich schon so lange schweige. Ich beginne mich zu rechtfertigen, aber meine Stimme verrät mich.

– Bist du nicht allein?

– Ja.

Pause. Sie legt den Hörer auf. Nun, war, wie es schien, Ninels weiteres Interesse geweckt:

– Wer ist es?

Ich antworte:

– Die Telefonistin!

– Und warum hast du so eine komische Stimme?

– Was für eine?

– So eine merkwürdige. Handelt es sich hier auch um Liebe?

Sie lacht. Ich rechtfertige mich erneut:

– Immerhin ist sie Zivilangestellte, Komsomolzin.

Nina schweigt, dann fährt sie fort:

– Übrigens, was kritzelst du da? Der Brief ist für dich. Lies ihn, antworte, – und mit diesen Worten ging sie hinaus.

Laut schlug die Brettertür zu, danach – leiser – die Eingangstür, und ich war wieder allein. Allein in der Stille und in Fassungslosigkeit. Und es gab einen Grund verwirrt zu sein: Nina Manikowskaja höchstpersönlich, gestand mir, grau und unscheinbar, der ich gerade erst der untersten Lagerstufe entstiegen war, ihre Liebe ein – die Primadonna unseres Lagertheaters, die so stolz und unzugänglich war, âum die stets von so vielen Männern umgeben war. Was konnte das bedeuten? Das konnte keine Liebe sein. Auf keinen Fall. Es gab nichts an mir, dass sie hätte anziehen können. Was war es also dann? Keine materielle Berechnung. Ich saß doch selbst hier bei meiner Lagerration und hatte ständig das Bedürfnis zu essen. Und ich hatte auch keinerlei Verbindungen, die ihr von Nutzen sein könnten.

Aber sie kam jeden Abend, sobald Jangulatow und Fetissow die Planungsabteilung verlassen hatten, setzte sich auf den neben meinem Schreibtisch stehenden Holzstuhl und erzählte mir von ihrem Lagerleben und dem Schicksal zahlreicher anderer Frauen, denen sie auf ihrem Weg begegnet war.

Die Frauen im Lager. In jenen Jahren unterschied sich ihr Kreuzesweg nur wenig von dem der Männer: Verhaftung, Gefängnis, Ermittlungsverfahren, Gericht, Etappe, Lagerzone, allgemeine Arbeiten und schließlich die Erschöpfung, die häufig mit dem Tod endete. Leichter hatten es diejenigen, die mit einem gemischten Häftlingsbestand in Lager-Außenstellen gerieten. Hier gelang es vielen von ihnen im Dienstsektor unterzukommen, was zumindest ein Überleben garantierte, und manchen sogar eine mehr oder weniger leidliche Existenz. Oft gelang ihnen ein solches Wohlergehen um den Preis einer Beziehung zu den Männern. Eine solche Beziehung entstand, wie im freien Leben, auf alle möglichen Arten und Weisen und war nicht immer die Folge von Belästigung oder Gewalt seitens der Männer. Dabei störte auch die Tatsache nicht, dass viele von ihnen im freien Leben Ehemänner und Kinder hatten. Es war schwierig sie dafür zu verurteilen. Denn für die meisten von ihnen, auch für die Männer, stellte das Lager keine vorübergehende, kurze Erscheinung dar, sondern einen großen Einschnitt im Leben. Wenn also ein Mann jung und nicht durch schwere körperliche Arbeit zermürbt war, dann zog es ihn zu den Frauen. Und wenn sich diese auch noch in seiner Nähe befand, dann keimten Gefühle auf, und vielleicht auch Liebe. An solchen Gefühlen fehlte es auch den Frauen nicht, bei denen noch der Wunsch hinzukam, in der Person des Mannes zumindest einen gewissen Schutz und Hilfe zu finden. Außerdem wirkte sich auch die Tatsache aus, dass eine Frau, die nicht über eine derartige Gönnerschaft verfügte, nicht irgendjemandes «Lager-Ehefrau» war, zum Objekt ständiger Belästigungen seitens des aggressiveren Teils der Männer innerhalb der Lagerbevölkerung wurde.

Allerdings war der Weg der Annäherung dornenreich und gefährlich, besonders wenn die entstandene Beziehung nicht nur eine kurze physische Nähe vermuten ließ, sondern eine inhaltsvolle menschliche Verbindung, gegenseitige Fürsorge und vor allem ein echtes Gefühl. Objektiv richteten sich die Ordnungsregeln vor allem gerade auf solche Beziehungen, denn sie wurden am ehesten entdeckt. Die Verletzung des Lagerregimes in diesem Teil wurde mit Karzer oder, in von der Lagerleitung als besonders «böswillig» angesehenen Fällen, damit bestraft, dass die Schuldigen, und das waren hauptsächlich Frauen, auf Etappe in andere Lagerstellen geschickt wurden, wo für sie alles wieder ganz von vorn begann. Besonders schwer war es, wenn tiefe, lebensnahe Liebesbeziehungen abgebrochen wurden. Dann vermischten sich in mangelhafte Ernährung, alle Kräfte übersteigende Arbeit, Sehnsucht, Reue und mitunter auch Eifersucht in einem einzigen Knäuel.

Leider nahm das ewige Streben gesunder und nicht durch körperliche Arbeit und unzureichende Ernährung beschwerter Männer zur Liebe im Lager häufig abnorme, erniedrigende Formen an, sowohl für Frauen als auch für Männer. Wenn eine Frauenetappe, besonders eine mit Frauen, die noch nie im Lager gewesen waren, eintraf, kam es außerhalb und innerhalb der Lagerzone zu einer Belebung. Außerhalb der Lagerzone hielten zivile Vertreter der Leitung und Offiziere der Militarisierten Wachen Ausschau nach «Haushälterinnen» und «Kindermädchen», die sie für such gebrauchen konnten. Mitunter, damit sie bei ihrer Auswahl keine Fehler machten, ließen sie eine «medizinische Untersuchung» durchführen, wobei sie die vollkommen nackt ausgezogenen Frauen vor den Tisch einer Kommission trieben.

Anschließend, bereits auf der anderen Seite der Wache, wurden die Neuankömmlinge vom Kommandanten, dem Arbeitsanweiser den Brigaden und Vertretern der Buchhaltung in Empfang genommen. Etappen in Empfang zu nehmen – das war ihre dienstliche Pflicht. Hier befand sich auch der Leiter der KWTsch, um Kandidaten für die Kulturbrigaden und für sich persönlich auszusuchen. In einiger Entfernung einer Menge Neugieriger. Manche kamen hierher in der Hoffnung, Landsfrauen zu treffen, andere – um Neuigkeiten aus der Freiheit zu erfahren, Dritte wiederum – um sich eine Freundin zu nehmen. Nein, sie stürzten sich nicht auf die Neuankömmlinge. Viele wollten lediglich helfen, unterstützen. Am Abend zog der männliche Teil der Lagerbevölkerung, einzeln, aber mitunter auch in Gruppen, manche schüchtern, andere selbstbewusst, als wären sie hier die Herren, zur Baracke, in der die Neuankömmlinge untergebracht waren. Bei der Auswahl wurde die Rangordnung eingehalten. Auf eine Frau, an der bereits der Arbeitsanweiser oder Kommandant Gefallen gefunden hatte, konnte in der Regel weder der Brigadeführer noch der Vorarbeiter Ansprüche erheben, natürlich mit Ausnahme der kriminellen Autoritäten. Nachdem die Objekte ausgewählt worden waren, begann das «Sich-Kennenlernen» und das «Flirten». Viele Frauen gaben, erschöpft von dem Unglück, welches sie getroffen hatte, verschreckt durch die Geschichten erfahrener Lagerinsassinnen, und manchmal auch nur, weil sie Hunger litten, den Vereinbarungen nach und ließen sich auf die Annäherungen ein. Manche leisteten Widerstand. In der Regel wurden sie zu allgemeinen Arbeiten geschickt und wurden, nachdem sie die Schrecken der Holzfällerarbeit kennengelernt hatten, gefügiger. Die Nähe, die zu einem solchen Preis erreicht wurde, erwies sich für die Frauen nicht immer als Belastung. Mehr noch, viele von ihnen begannen mit der Zeit sogar auf ihre neuen „Lager“-Ehemänner eifersüchtig zu werden.

Manikowskaja war der Ansicht, dass all das sich wenig von dem unterschied, was auch ständig in Freiheit passierte. Nur spielte es sich im Lager in schärfer Form und hüllenloser ab, alles geschah vor den Augen der anderen. Von den Menschen wurde die Hülle der Konventionen abgerissen, und sie selbst wurden in enge Berührung miteinander gebracht: sie wurden zusammengedrückt, zusammengepresst – zeitlich wie auch räumlich. In unseren langen Unterhaltungen bestand Ninel beharrlich auf der These: im Wesentlichen beruht das Verhalten der Menschen auf ihrem Sexualtrieb und sozialer Ungleichheit. Selbst die Poesie und Musik waren, nach ihrer Meinung, nicht mehr als ein Mittel zur Anlockung von Personen des anderen Geschlechts, so wie der Duft von Blumen oder der Gesang der Vögel.

– Warum hast du mir eben diese Verse vorgetragen? – fragte sie ruhig.

– Weil sie mir gefallen, ich liebe Tjutschew, und ich wollte die gefallen, - antwortete ich.

– So, so! Mir gefallen! Und wozu? Wovon willst du mich überzeugen? Ich habe doch schon lange zugestimmt, und die Sache liegt nun bei dir!

Und so ging es jedes Mal. Egal, wovon wir sprachen, egal, welche erhabenen und poetischen Fragen wir auch diskutierten, sie brachte es immer fertig, auf die Geschlechterfrage zu kommen. Ninel war Zweifels ohne nicht nur hübsch, sondern auch gescheit. Es war interessant mit ihr zu reden, aber schwierig mit ihr zu streiten. Allerdings entmutigte mich die Beharrlichkeit, mit der sie unsere Beziehung zu körperlicher Nähe lenkte. Es passte nicht so gut zu dem Bild, welches ich für mich selbst gezeichnet hatte. In meinem Bewusstsein verdoppelte sich alles. Es kam mir so vor, als ob sie sich nur verstellte. Es war schwierig zu begreifen, wann sie echt war: wenn sie eindringlich Gedichte las oder wenn sie Trivialitäten aussprach. Schritt für Schritt löste sich das von meiner Vorstellungskraft geschaffene Bild von der schönen Unbekannten auf. Der reinste moralische Striptease. Um sich daran zu gewöhnen, brauchte es Zeit. Doch je beharrlicher sie wurde, umso weniger gefiel sie mir.

Bis heute erinnere ich mich mit Scham und Schaudern an den dunklen, verlassenen Raum, der an einen Schrank erinnert, die Steppjacke, die hastig auf dem schmutzigen Boden ausgebreitet worden war und darauf Ninel. Ich knie vor ihr, das Herz schlägt wild und – keine Gefühle, keine Anziehung. Nur Scham und Kränkung, und das Verständnis, dass aus dieser ihrer Idee nichts werden wird. Also, im Schmutz, in aller Eile, und man hört Stimmen und das Knarren der Dielen ... Nein, ich konnte mich nicht überwinden. Ninel war wütend, und ich entmutigt und beleidigt. Etwa zwei Wochen lang sahen wir uns danach nicht. Die Samstagskonzerte besuchte ich nicht. Meine harmlosen Telefongespräche mit Nelja lebten wieder auf. Auf dem Grunde meiner Seele lauerte etwas Dunkles, Zotteliges, das sich manchmal drehte und wendete.

In der zweiten Dezemberhälfte unternahm Ninel den zweiten Versuch. Am Abend kam der Diensthabende und sagte, dass mich der Leiter der KWTsch Worobjow dringend zu sprechen wünsche. Ich hege keinerlei Verdacht und gehe hin. Im Zimmer herrscht Halbdunkel, im gusseisernen Ofen knistern fröhlich die Holzscheite, auf der Chaiselongue (so etwas gab es in der KWTsch) liegt Ninel. Worobjow begrüßt mich eilig, verlässt den Raum und schließt die Tür von außen ab. Ich hatte verstanden, und große Wut ergriff mich. Wie konnte sie nur Worobjow in diese Sache einweihen! Wahrscheinlich machten sie sich über mich lustig!

Ninel sagt mit einem unverhohlenen, spöttischen Lächeln:

– Na ja, wie es aussieht, sind jetzt alle Bedingungen geschaffen. Wie in den besten Häusern. Allerdings gibt es keine Kerzen, und der Kamin ist auch recht primitiv.

Pause. Ich schweige beharrlich, sammle meine Gedanken. Nachdem sie eine Weile geschwiegen hat, fährt sie fort:

– Ich bin auch ins Badehaus gegangen und habe einen Bademantel angezogen.

In ihrer Stimme lagen Herausforderung und Spott. Ich war empört:

– Aber wir haben doch alles geklärt. Du hast dich davon überzeugt, dass ich ein schlechter Liebhaber bin. Und überhaupt verstehen wir den Sinn unserer Beziehung auf vollkommen unterschiedliche Weise. Du reduzierst alles auf körperliche Nähe. Und nun hast du in diese Sache auch noch Worobjow mit hineingezogen. Wie konntest du bloß zu so einem Entschluss kommen?

Ninel reagierte lediglich auf die letzte Frage:

– Na was denn? Glaubst du, das sei das erste Mal für ihn?

– Ja, ich kann es mir vorstellen! Und wahrscheinlich ist es auch nicht das erste Mal, dass dir so ein Dienst angeboten wird.

Als ich diesen Satz ausspreche, lege ich meinen ganzen Sarkasmus hinein, zu dem ich fähig bin. Die Antwort folgt prompt.:

– Selbstverständlich! Und ich versichere dir, dass niemand so viel wertvolle Zeit mit dummem Gerede verschwendet hat wie du. Vielleicht möchtest du auch ein paar Gedichte aufsagen? Oder etwas singen?

In ihren Worten der reine Hohn. Sie saß da, lehnte sich zurück, der Bademantel öffnete sich, ihre weißen Knie werden von den Flammen erhellt, aber ihr Gesicht befindet sich im Schatten, und ich kann ihre Augen nicht erkennen.

Es fällt mir schwer, das Gefühl wiederzugeben, welches von mir Besitz ergriffen hatte. Durch Kränkung, Wut und Empörung bahnen sich ganz andere Gefühle und Wünsche ihren Weg. Der Schleier des Geheimnisvollen und des Charmes wurden fallengelassen. Die Zerrissenheit ist zu Ende. Vor mir eine reife Frau; ein herausfordernde, verführerische, Glückseligkeit versprechende Frau, wie sie mir bisher noch nicht bekannt war. Und diese weißen, seidigen Knie und die flammend roten Lichtflecken darauf. Ich fühlte, dass ich den Verstand verlor, dass ich bereit war für eine Nähe ohne Liebe.

In diesem Moment ertönt ihre gereizte Stimme:

– Na, wollen wir noch lange so dasitzen? Denk dran, wir haben für alles eine halbe Stunde Zeit. Was fehlt dir denn noch? Musik? Wäre mir ein Vergnügen, aber es geht nicht, man könnte uns hören. Schließlich gehen sie davon aus, dass hier niemand ist.

Und plötzlich mit völlig veränderter Stimme:

– Robotschka, du Dummkopf! Was quält dich so? Hast du Angst dich anzustecken? Das brauchst du nicht, ich habe gerade erst eine Untersuchung über mich ergehen lassen.

Und nach kurzem Schweigen, beinahe flehentlich:

– Nur sag niemandem, dass wir nichts gemacht haben. Sie werden mich auslachen, und dich auch.

Und so gingen wir auseinander: sie fuhr am Morgen mit er Kulturbrigade zu einem Gastspiel in den Lagerpunkten des OLP. Ich war mit geschäftlichen Dingen befasst.

Zu meinen Verpflichtungen gehörte neben dem Sammeln, der Bearbeitung und dem Übermitteln von Informationen auch der Abgleich statistischer Daten mit den Buchhaltungsunterlagen. Im Verlauf dieser Abstimmungen und Genehmigungen lernte ich auch den Oberbuchhalter des OLP kennen. Das war damals Jakob Jakowlewitsch Weber, ein großer, kräftig gebauter, sportlicher Mann von etwa fünfzig Jahren. Ein rassiges Gesicht, ein hartes, willensstarkes Kinn, braune Augen. Eine kleine Narbe am rechten Augenlied verlieh seinem Erscheinungsbild eine gewisse Pikanterie. Immer akkurat und schneidig. Er trug eine Reithose, Stiefel und eine Militärbluse mit breitem Gürtel. In seiner Vergangenheit, vor seiner Verhaftung, war er eine großer Armee-Mitarbeiter im Finanzbereich gewesen.

Als der Industriefinanzplan ausgesetzt wurde und es keine Notwendigkeit mehr für einen temporären Mitarbeiter gab, versetzten sie mich auf Jakob Jakowlewitschs Vorschlag in die Buchhaltung des OLP. Dort teilte man mich für die Produktionsgruppe ein, welcher der Sohn des OLP-Lagerleiters – Iwan Makarenko – voranstand. Iwan war ein sehr hübscher junger Mann: dunkle Haare, braune Augen, gut gebaut, elastischer Körper, charmantes Lächeln. Allerdings gab es bei ihm eine Unvollkommenheit – sein linker Arm war gelähmt und geschrumpft. Ungeachtet dieses Makels mochten ihn die Frauen sehr. Er war sich dessen bewusst und machte es sich zunutze. Er hatte die Arbeit nicht erfunden, und vertraute sie gern seinen Kolleginnen an.
Insgesamt waren in der Buchhaltung des OLP, den Oberbuchhalter nicht mitgerechnet, zwölf Personen, u.a. in der Materialgruppe fünf, in der Abrechnungsgruppe vier, in der Produktionsgruppe drei. Alle, außer Makarenko, waren Häftlinge, die meisten von ihnen nach politischen Paragrafen verurteilt. Alle, ausgenommen ich, waren sachkundige, erfahrene Mitarbeiter. Ich allein – ein Anfänger, den niemand bequemte zu unterweisen, und es bestand auch keine Möglichkeit dazu. Mit der Technologie der buchhalterischen Rechnungsführung machte ich mich im Verlauf der Arbeit und anhand alter Konten vertraut. Meine Situation wurde durch die ständige Abwesenheit Iwan Makarenkos komplizierter, und auch durch das rasche Herannahen der Jahresabrechnung, als auf die Produktionsgruppe der schwierigste und verantwortungsvollste Teil der Arbeit fiel: das Schließen der Produktionskonten, die Ermittlung der Arbeits- und Produktionskosten, die Erstellung der Kalkulationen, Bilanzen und zahlreicher Rechenschaftsformulare.

In jenen Jahren waren das Hauptinstrument der buchhalterischen Tätigkeit Konten, Kartotheken und ein System der Auftragslenkung. Die älteren Buchhalter der Gruppe schrieben bei der Bearbeitung der Dokumente (Erklärungen, Rechnungen, Konten, Protokolle usw.), Buchungsaufträge zur Vormerkung, in denen sie Anweisungen erteilten, von welchen und auf welche Konten eine in den Dokumenten ausgewiesenen Summe überwiesen werden sollte. Anschließend wurden diese Vormerk-Order mit den angehefteten Dokumenten «reihum» geschickt: von einem Buchhaltertisch zum nächsten. Buchhalter und Kontenführer trugen die zu ihren Konten gehörenden Summen, unter Berücksichtigung der materiell verantwortlichen Personen und Produktionsarten, in Karteikarten ein.

Mir gefiel dieses System, und ich eignete es mir schnell an. Bereits Ende Januar erledigte ich, im Wesentlichen selbständig, den Abschluss der zu unserer Gruppe gehörenden Konten und nahm alle erforderlichen Kalkulationen vor. Jakob Jakowlewitsch, der mit meiner Selbständigkeit und den erlangten Resultaten zufrieden war, verhielt sich mit gegenüber wie zu einem Sohn: er kümmerte sich, half mir in materieller Hinsicht und leitete mich an. Mit Beginn des Monats Februar lud er mich ein, bei sich in der Kabine zu wohnen. Wir verpflegten uns gemeinsam, bestellten die uns zustehenden Lebensmittel als Trockenration. Unter seinem Schutz konnte ich mich vollständig der Arbeit widmen. Und ich arbeitete vom frühen Morgen bis zum späten Abend. An den Abenden, den Tagen, an denen Nelja Dienst hatte, rief ich sie an, aber unsere Gespräche waren schon nicht mehr so lang und offen wie früher. Die Wunde, die Manikowskaja mir beigebracht hatte, heilte nur langsam.

Gut entwickelte sich auch meine Beziehung zu Iwan Makarenko. Unter seiner Patenschaft brauchte ich die allgemeinen Arbeiten nicht zu fürchten. Schon bald erwirkte er für mich durch seinen Vater die Erlaubnis eine Haartracht zu tragen, was ein Zeichen für eine sehr hohe Position war. Der Bestand des Buchhaltungspersonals war recht vielschichtig. Gefangene mit unterschiedlichen Paragrafen, Haftfristen und Charakteren. Mit dem einen kam ich gut und leicht zurecht, mit den anderen war die Kommunikation schwierig. Heute, wenn ich an jene Jahre zurückdenke, muss ich leider erkennen, wie wenig ich über das Leben der meisten von ihnen außerhalb der Diensträume wusste, und umso mehr über ihr zurückliegendes Lagerleben.

Enge Beziehungen kamen zwischen mir und den jungen Mitarbeitern der Buchhaltung zustande, Häftlingen, die bereits zum Nachkriegs-«Aufruf» gehörten: Jefim Nesteruk, Wasja Sereda und Wasja Schindin. Den Kontakt mit ihnen hielt ich auch nach meiner Entlassung.

Jefim Nesteruk oder einfach «Jefimtschik», – der aus der West-Ukraine stammte, war zwei-drei Jahre jünger als ich. Man hatte ihn noch als Junge verhaftet, weil er Bandera-Anhängern auf Anweisung der Erwachsenen Essen in den Wald gebracht hatte. Verurteilt wurde er nach Art. 58-1b, er bekam 10 Jahre. Aufgrund seines runden, mondförmigen Gesichts wurde er im engen Freundeskreis „Raschka“ genannt. Das Gesicht weiß, sanft, mit leicht rosigen Wangen – solche Gesichter werden auf Matroschkas gemalt. Er war jugendlich offen und spontan, erinnerte sich oft an sein Dorf, das Elternhaus, aber von Gesprächen über die Bandera-Bewegung hielt er sich fern. Soweit ich verstehen konnte, waren dort, unter ihnen, auch seine Verwandten, vielleicht sogar der Vater. Im Lager nach derartigen Dingen zu fragen war nicht angebracht. Ich weiß noch nicht einmal, ob er die Mittelschule beendet hatte. Jedenfalls war er nicht sonderlich belesen, nicht sehr geneigt zu theoretischen Überlegungen, dafür auf bäuerliche Art sparsam und praktisch veranlagt.

Wasja Sereda – ein hübscher, geschickter Bursche. Weißrusse. Hatte im Krieg gekämpft. Nach der Demobilisierung, als er in seinen Heimatort zurückkam, nahm er dem ortsansässigen operativen Bevollmächtigten die Braut weg und ließ sie dann fallen. Nach seinen Berichten zu urteilen ging Wasja gern in Gesellschaft seiner Freunde und Freundinnen spazieren. Bei einem dieser Spaziergänge, für den sie nicht genügend Proviant mitgenommen hatten, «staubten sie», wie Wasja es ausdrückte, bei seinem Onkel einen Frischling ab. Der Onkel, der keine Ahnung hatte, dass dieser Streich seinem Neffen zuzuschreiben war, meldete den Diebstahl bei der Miliz. Später, als sich alles geklärt hatte und der Onkel seine Anzeige zurückziehen wollte, sträubte sich der operative Bevollmächtigte dagegen. Wasja wurde verurteilt und erhielt nach dem Ukas vom 4. Juni eine Strafe von 10 Jahren. Ob das tatsächlich so war, weiß ich nicht, aber nach Wasjas Charakter zu urteilen schien es der Wahrheit zu entsprechen. Wasja war ein paar Jahre älter als ich und merklich erfahrener, besonders was Frauen anging. Sein beständiger Erfolg bei ihnen hatte ihn übermütig und arrogant gemacht. Er lachte offen über meine Sentimentalität und ärgerte mich in dem Bestreben, meine romantischen Vorstellungen über Frauen zu zerstören, er führte sie in Versuchung und ließ sie dann fallen. Aus diesem Anlass gerieten wir häufig in Streit.

Wasja Schindin – ehemaliger Leiter des Finanzsektors einer der Schiffsabteilungen der baltischen Flotte. Er bekam 10 Jahre, weil er für die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges auf Anweisung seiner Leitung erheblich mehr Geld zuteilte, als es in den Instruktionen vorgesehenen war, indem er es für die Reparatur von Schiffen abschrieb. Später nahm er alle Schuld auf sich, wofür die dankbaren Chefs ihm reichhaltige Pakete schickten. Sein Äußeres erinnerte mich aus irgendeinem Grund an britische Seeleute. Das längliche, asketische Gesicht, die Borsten auf den Wangen, eine Art Koteletten, die Pfeife zwischen den Zähnen. Fehlten nur noch Matrosenkittel und Mantel. In Leningrad hatte er eine schöne Ehefrau, einen Sohn, eine umfangreiche Bibliothek zurückgelassen. Er war belesen, gebildet, an Kontakten interessiert. Aber, wie es in solchen Fällen häufig zu sein pflegt, trieb er Missbrauch mit Alkohol. Wo und wie er ihn beschaffte, weiß ich nicht, aber häufig kam er berauscht zur Arbeit. Er rechtfertigte sich, versicherte, dass eine kleine Dosis Wodka die Güte seiner Arbeit nur noch verbesserte. Diese Theorie wurde durch unser Experiment widerlegt: nachdem er «nur» hundert Gramm Wodka getrunken hatte, machte er beim «Abschießen» des Kontrolljournals drei Fehler, was ihm in nüchternem Zustand niemals passiert wäre. Das bereitete ihm Verdruss, aber selbstverständlich hörte er mit dem Trinken nicht auf, und ich musste ihn häufig helfen.
Schwieriger als bei den anderen gestalteten sich meine Beziehungen zum Oberbuchhalter der Materialgruppe – Arkadij Fedossejewitsch Gaudajenko. Er stammte aus Odessa. Ein erfahrener, sachkundiger Buchhalter. Er war schmerzlich besorgte um meine unerwartete Beförderung. Er hielt sich für ungerecht behandelt und benachteiligt. In der ersten Zeit trug er, während er mich überprüfte, provokante Transaktionen ein, indem er Materialien auf Produktionskonten abschrieb, die eigentlich für den Kapitalaufbau ausgegeben werden sollten, oder für Konten eine falsche Korrespondenz nutzte. Anschließend trank er einen kräftig gebrühten Tee, und beobachtete meine Reaktion, wobei er hinter seinem dicken, schwarzen Schnurrbart ein Grinsen versteckte.

Das größte Ansehen in unserem Buchhaltungskollektiv genoss Wassilij Wassiljewitsch Fedossew, der bereits seine dritte Haftstrafe wegen politischer Paragrafen absaß. Das erste Mal hatte er, noch zu Zarenzeiten, drei Jahre wegen aktiver Revolutionstätigkeit eingesessen. Später, in den ersten Jahren nach der Revolution, acht Jahre in Solowki, weil er in der falschen Partei war. Und schließlich, 1938, erhielt er zehn Jahre für etwas, das er unvorsichtigerweise ausgesprochen hatte. Er war weit über sechzig, erzählte viel, hatte viel erfahren und war für uns alle eine wandelnde Enzyklopädie des Lagerlebens. Manchmal, abends, nach Beendigung des Arbeitstages, zitierte er im engsten Freundeskreis mit heiserer Stimme Lagergedichte. Eins davon gefiel mir besonders gut:

Hinterm Polarkreis, wo die fremde,
kohlenschwarze Nacht über der Erde ruht.
Lässt einen die Wolfsstimme des Windes nicht einschlafen,
Wäre doch nur ein einziger Sonnenstrahl in dieser Dunkelheit, dieser Unheimlichkeit
. . . usw.

Wohl unter dem Eindruck dieser «literarischen» Abende dachte auch ich daran ein Poem über das Schicksal der Mädchen im Lager zu verfassen. Die Grundlage bildete ein Bericht der Manikowskaja über das Schicksal ihrer Lagerfreundin. Sie war noch sehr jung, frisch, lebensfroh. Hatte gerade erst die Schule beendet. Ihr Schulfreund, den sie hingebungsvoll liebte und der dies ebenso erwiderte, war an die Front gegangen. Sie fand Arbeit und sagte dort irgendetwas Unerlaubtes. Dafür bekam sie zehn Jahre und wurde ins UssolLag geschickt. Dort, im Kolwinsker OLP, begegnete sie dann Manikowskaja. Von den ersten Tagen an wurden sie vom Kommandanten des Lagerpunktes umworben. Sie blieben hartnäckig und wurden zum Holzeinschlag geschickt. Eine Woche später – zweiter Versuch und erneute Verweigerung. Danach beließ man sie für mehrere Monate bei allgemeinen Arbeiten, bis sie sich im Zustand einer vollständigen Erschöpfung befanden. Sie verloren ihr Aussehen, ihre äußerliche Anziehungskraft und hörten auf, beim Kommandanten, aber auch bei den kleineren Lager-Dämlingen irgendein Interesse zu wecken. Schließlich wurde Manikowskaja von einem Künstler aus der KWTsch «aufgeklaubt» (so drückte sie es aus), und ihre Freundin, die von ihrem keinen Brief erhalten und beschlossen hatte, dass er umgekommen war, erlag den Belästigungen des Brigadeführers. Später, als letztgenannter in eine andere Lageraußenstelle versetzt wurde, fiel sie seiner Ablösung zu, der sie bald darauf an den nicht mehr unter Wachbegleitung stehenden Spediteur weiterreichte. Und zu der Zeit beschloss der Geliebte, der inzwischen demobilisiert worden war, seine Freundin zu besuchen. Nachdem er die Erlaubnis für ein Wiedersehen erhalten hatte, machte er sich auf den weiten Weg. Auf dem letzten Abschnitt der Reise erzählte der gesprächige Fahrer des Dreitonners, der keine Ahnung hatte, wohin und weshalb jener unterwegs war, dem Mitfahrenden von dem Leben, das sein Mädel führte. In seiner Seele zutiefst gekränkt, versetzte der Offizier ihr beim Wiedersehen mehrere Ohrfeigen und fuhr wieder ab, ohne sich ihre Rechtfertigungen bis zu Ende anzuhören. Nachdem die Unglückliche in ihre Baracke zurückgekehrt war machte sie sich die Abwesenheit des Diensthabenden zunutze und erhängte sich. Diese einfache und für das Lagerleben so typische Geschichte versuchte ich auch in meinen Versen festzuhalten. Das Gedicht war naiv und technisch schwach gestaltet, doch es fand Erfolg unter meinen Freunden. Ich kann mich nur noch an den Anfang und einige kurze Auszüge erinnern.

In der tiefen Taiga, unter Hunden, Fallholz,
In rauer Kälte, Schnee und Schneesturm,
Hast du in einer dünn wattierten Jacke,
bis zur Taille im vereisten Schnee, Holz gesägt.

Die gefrorene Hand drückt auf den Griff.
Die Säge kreischt, kreischt, kreischt,
Aber in den Gedanken ist das Brot, der Hunger quält,
Und der Wind rauscht in den Kiefern

Wie ich mich erinnere, kamst du von der Arbeit
Aus dem Wald nach Hause, müde,
Aus den verquollenen, angeschwollenen Augen
Lief dir eine Träne nach der anderen.

Es waren Tränen der Erschöpfung,
Tiefer Sehnsucht und bitterer Gedanken
. . . usw.

Als der Oberaufseher, Leutnant Terkow, bei der nächsten Durchsuchung in der Kiste in meinem Büroschreibtisch Schreibblätter mit diesen Versen entdeckte, begriff ich, dass ich kurz davorstand, eine zusätzliche Strafe wegen Verleumdung der sowjetischen Realität zu erhalten. Der Leutnant konnte mich nicht ausstehen. Und er hatte Grund dazu. Anders als seine Kollegen war er belesen. Er war auch in seinem Bemühen zu zeigen, dass es unter den Mitarbeitern des MWD Leute gab, die sich in Literatur auskannten, sehr stolz darauf, und er ging so weit, dass er einmal bei uns in der Buchhaltung anfing Gedichte zu zitieren. Zu meinem Kummer brachte er die Autoren durcheinander und manchmal auch den Text. Selbstverständlich konnte ich nicht an mich halten und korrigierte ihn. Das brachte ihn in Wut, und er fing an nach Gelegenheiten zu suchen, um mich zu schikanieren und, natürlich hätte er mich wegen der kleinsten Bagatelle in die Isolationszelle stecken können, doch das störte die Gönnerschaft, unter der ich beim Leiter des OLP stand. Besonders ärgerte ihn seine Notiz, in der schwarz auf weiß geschrieben stand: «Dem Gefangenen R.A. Maier sind die Haare nicht zu scheren. Makarenko».

Nun hatte er eine gute Gelegenheit sich an mir zu rächen. In dieser kritischen Situation beschloss ich, mir seinen Ruf als Kenner der Literatur zunutze zu machen. Bei seinem fragendfeierlichen Blick machte ich ein naives Gesicht und sagte:

– Was denn? Ist Nekrassow etwa verboten? In der Buchhaltung schwebte eine besorgniserregende Stille, lediglich das Brennholz im Ofen knisterte. Der Hauptmann geriet in Verlegenheit, wendete die Papierblätter in seinen Händen und erwiderte, indem er sie auf den Tisch legte:

– Natürlich ist das erlaubt, – und fügte, nachdem er einen Moment geschwiegen hatte, hinzu, dass ihm die Verse auch bekannt vorgekommen seien.

Als er hinausging, wetteiferten alle mit Vorschlägen, wo man die Blätter verstecken könne. Aber ich zögerte keine Minute, warf sie in den Ofen und schaute mit Erleichterung zu, wie die vollgeschriebenen Blätter im Feuer schwarz wurden und sich wanden. Und ich hatte es genau richtig gemacht. Es verging keine Stunde, als der Leutnant erneut in der Buchhaltung auftauchte, diesmal in Begleitung des diensthabenden Aufsehers. Er trat mit den Worten an meinen Tisch:

– Was schwafelst du mich voll, das Nekrassow so etwas geschrieben haben könnte! – und verlangte nach den Blättern. Als er erfuhr, dass ich sie verbrannt hatte, wurde er schrecklich wütend, und nahm eine allgemeine, sorgfältige Durchsuchung vor. Freilich fand er nichts. Danach wurde ich zweimal zum operativen Bevollmächtigten, dem («Kum») gerufen. Lediglich die Fürbitte Makarenkos bewahrte mich vor einem offiziellen Ermittlungsverfahren.

Lonja Swiridows Angelegenheiten in Golownaja verliefen bei weitem nicht so erfolgreich. Und dafür gab es gleich mehrere Gründe. Vorrangig, ein Produktionsproblem. Beim Flößerei-Kontor gab es recht viel Personal. Neben dem Oberbuchhalter gab es dort einen Buchhalter und zwei Kontenführer, einige Dutzend Gutachter und Leute, die die Rechenschaftsberichte schrieben. In allem, was die technische Seite der Sache betraf, waren die Gutachter und Schreiber der Rechenschaftsberichte dem technischen Leiter der Flößerei-Reederei, Arkadij Petrowitsch Kalinowski, unterstellt, bei den Statistiken und der Dokumentenausfertigung – dem Oberbuchhalter, d.h. Swiridow. Eine derartige Zerrissenheit bei den Bereichszuständigkeiten führte zu häufigen Missverständnissen und Konflikten. Arkadij Petrowitsch, genoss, ungeachtet der Tatsache, dass er zu den Häftlingen zählte und wegen eines politischen Paragrafen eine Strafe absaß, große Autorität und Macht, die sich einerseits mit seiner hohen Qualifikation, andererseits – mit seinem besonderen Charakter begründen ließen. Er war ein harscher und fordernder Mann, und zum Erreichen der vor ihm aufgestellten Ziele sogar grausam. Man erzählte sich, dass er Meister, Brigadiere, Vorarbeiter, die etwas ausgefressen hatten, im Winter in seinem Kabinett in voller Winterkleidung, am gut geheizten Ofen Aufstellung nehmen und sie dort in strammer Haltung mehrere Stunden ausharren ließ. Mithin bemühte er sich beharrlich darum, dass alle Mitarbeiter des Flößerei-Kontors, einschließlich Swiridow, sich ihm vollständig unterordneten. Lonja hingegen, der sich auf die Bestimmungen des Oberbuchhalters stützte, beharrte auf seinem Recht Kalinowskijs Aktivitäten zu kontrollieren, der, seiner Meinung nach, zahlreiche illegale Operationen durchführte.

Ein ernsthafter Konflikt flammte auf. Auch das Führungspersonal des OLP war darin involviert. Kalinowskij wurde von Makarenko und Fajerstajn unterstützt, Swiridow – von Weber und Jangulatow. Die Kräfte waren zu ungleich. Die meisten von Kalinowskijs «Machenschaften» zielten auf die Planerfüllung um jeden Preis ab und wurden von der Leitung unterstützt. Allerdings vertuschten sie ihre Unterstützung durch Gespräche über die Notwendigkeit die staatliche Finanzdisziplin zu wahren. Jakow Jakowlewitsch blieb nur ein einziges Mittel: on einem OLP-Befehl die materielle und finanzielle Subkontrolle Kalinowskijs vor der Buchhaltung des OLP in Person ihres Sachverwalters, des Oberbuchhalters des Flößerei-Kontors, festzulegen.

Bestimmte Schwierigkeiten bereitete auch Zujew, den Lonja auf den Posten des Oberbuchhalters des Flößerei-Kontors setzte. Hier wurde der Krieg ruhig und für Außenstehende nicht sichtbar, allerdings nicht weniger aufreibend, geführt.

Zu diesen beiden Problemen kam ein weiteres von persönlicher Natur hinzu. Lonja, der etwa zehn Jahre älter war als ich und mir deswegen zu jugendlicher Begeisterung und Romantik bereits nicht mehr fähig erschien, verliebte sich. Objekt seiner Liebe war eine gewisse Nina Tereschtschenko. Jedes Mal, wenn er mir von seinem Leben und seinem zermürbenden Kampf gegen Kalinowskij erzählte, glitt er auch unweigerlich in ein Gespräch über Nina über. Sie kam ihm sehr erschöpft, gequält von den Verfolgungen der Freier, vor, unter denen der Arbeitsanweiser des Hauptlagerpunktes, David Andrejewitsch Rudi, Wolgadeutscher, ehemaliger Staatsanwalt einer der Wolga-Kantone, verurteilt zu 10 Jahren nach Artikel 58-1à, eine wesentliche Rolle spielte. Lonjas Berichten zufolge stellte David Andrejewitsch Nina nach und erreichte eine gewisse Gegenseitigkeit. In diesen Bemühungen unterstützte ihn erneut Kalinowskij, was dem ewigen Dreiecksverhältnis eine besondere Spannung, wenn nicht sogar dramatische Züge, verlieh. Nach Lonjas Ansicht trug Nina das Problem hinsichtlich David Andrejewitschs Flirterei schwer mit sich herum, umso mehr, als dieser noch fünf Jahre älter als Lonja war und äußerlich, gelinde gesagt, nicht sehr attraktiv wirkte. Dafür hatte David Andrejewitsch große Möglichkeiten auf Ninas Leben Einfluss zu nehmen. Er konnte sie beispielsweise nicht ins Flößerei-Kontor, sondern zu allgemeinen Arbeiten schicken oder sie sogar in eine Etappe zu einer anderen Lageraußenstelle einbeziehen. Dem konnte Lonja nicht widerstehen. Der einzige Weg – sich der der Gnade des Siegers zu unterwerfen und Kalinowskij um Schutz bitten.

Die Problem, in die Lonja sich verrannt hatte, schnürten sich zu einem engen Knoten zusammen, und darunter litt, nach seinen Worten, vor allen Dingen Nina. Da er also von meinem gefestigten Status im OLP und der Gönnerschaft, die mir durch Iwan Makarenko zu Teil wurde, wusste, bat er mich zu ihm zu kommen, Ninas Bekanntschaft zu machen und ihr meine Hilfe anzubieten. Er war davon überzeugt, dass, wenn ich sie erst einmal kennengelernt hätte, ihm diese Bitte nicht abschlagen würde.

– Tu es nicht für mich, tu es für sie. Soll sie selbst entscheiden, was sie machen will, aber hol sie aus dem Spinnennetz heraus, in das sie immer enger hineingerät, - bat er. Selbstverständlich versprach ich alles zu tun, was in meinen Kräften stand. Die ganze Situation diente als herrliche Illustration dessen, was mir seinerzeit schon die Manikowskaja erzählt hatte. Und ergab sich die Gelegenheit am Kampf gegen dieses Böse Teil zu nehmen. Aber würde meine Kraft für eine Konfrontation mit Kalinowskij und Rudi ausreichen? Davon war ich nicht überzeugt.

Ende April 1946 ergab sich eine günstige Lage. Jakow Jakowlewitsch schichte mich mit Makarenkos Einverständnis nach Golownaja, angeblich wegen einer Revision, aber tatsächlich wegen der Erarbeitung, gemeinsam mit Lonja, eines Dokuments über den Stand des Flößerei-Kontors als Unterabteilung der zentralen Buchhaltung des OLP. Die befohlene Aufgabe war nicht einfach und in mancher Hinsicht gefährlich.

Und so gehe ich, mir meiner bedeutenden Aufgabe voll bewusst, die Waldstraße entlang. Im Rücken – ein Wachmann. Voraus der Wachdienst des Golownaja-Lagerpunktes, wo mich wohl schon Lonja mit seinen schwer zu lösenden Problemen erwart

 

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