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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Teil II Hinter Stacheldraht

Kapitel 12. Nina Tereschtschenko

Otradowka – ein kleines, staubiges Dorf, fast ohne Grün, im Alexandrowsker Bezirk, Gebiet Rostow, etwa hundert Kilometer südwestlich von Rostow und ungefähr dreißig von der Taganroger Bucht entfernt gelegen. Ringsum Steppe, umwachsen von den Schilf-Auen des Jeja, einzelnen Bauminseln, aufgeforsteten Waldstreifen. In der Mitte des Dorfes – die Verwaltung der Kuryschko-Kolchose, der Club, ein Denkmal für die Helden des Bürgerkriegs. Vor der Verwaltung ein Platz, umrahmt von Hütten. In einer von ihnen, die mit zwei ihrer Fenster zur Straße steht, wurde am 25. Mai 1923 in der Familie des ländlichen Angestellten Georgij Iwanowitsch Tereschtschenko eine Tochter geboren. Sie nannten sie Nina.

Georgij Iwanowitschs Jugendjahre vergingen mit Feldzügen und Kämpfen. Zuerst an den Fronten des Ersten Weltkriegs, dann im Bürgerkrieg, wo ihm das Los zu Teil fiel, in Tschapajews Division zu kämpfen. Das Schicksal hielt seine Hand über ihn: ihn traf weder eine Kugel noch eine Bajonettspitze. Nachdem er in sein Heimatdorf zurückgekehrt war, fand er Arbeit in der Kolchos-Buchhaltung. Georgij Iwanowitschs Eltern starben früh, und in seinen Armen blieben die drei minderjährigen Schwestern. Daher wählte er ein Mädchen aus einer armen Familie zur Ehefrau, keine Schönheit, aber dafür fleißig, kräftig und duldsam. Sie hieß Olja. Schon in frühen Jahren hatte sie das Arbeiten auf den Feldern und im Gemüsegarten kennengelernt. Fleiß, Bescheidenheit, Ehrlichkeit und grenzenlose Güte vereinten sich in ihr mit Mut und einer beinahe kindlichen Courage. Sie liebte Pferde, Wettrennen. Selten konnte ein Bursche aus dem Dorf sie einholen. Nun, nach der Heirat, konnte Olja Fedotowna nicht mehr an solchen Rennen teilnehmen. Wenn sie von früh bis spät auf den Kolchos-Feldern gearbeitet hatte und nach Hause zurückgekehrt war, musste sie die zahlreiche Familie versorgen: ihren Mann, seine drei Schwestern, die Tochter. Außerdem lag auf ihren Schultern auch noch der zwar kleine, aber doch viel Mühe bereitende Haushalt. Besonders schwer hatte sie es, als drei Jahre nach Nina Sohn Witja geboren wurde. Georgij Iwanowitsch erwies sich in Haushaltsangelegenheiten als schlechte Hilfe. Die gesamte arbeitsfreie Zeit widmete er vollständig der Jagd, deren leidenschaftlicher Liebhaber er schon in jungen Jahren gewesen war. Von der Jagd brachte er hauptsächlich Hasen mit nach Hause. Und, soweit Nina sich erinnern konnte, waren es viele Hasen gewesen. Außerdem bracht er ihr, dem damals noch kleinen Mädchen, jedes Mal von der Jagd ein Stückchen hart gewordener Brotkruste mit, das angeblich von einem Häschen geschickt worden war.

Wenn Nina an ihren Vater zurückdachte, hob sie jedes Mal seine Ehrlichkeit hervor. Sie erzählte, dass er einmal, als ein paar Betten in die Dorf-Konsumgenossenschaft gebracht worden waren und der Ladenleiter eines davon, ohne Georgij Iwanowitschs Wissen, für seine erwachsen gewordene Tochter mit nach Hause genommen hatte, sehr böse wurde und Olga Fedotowna zwang, es ins Lager zurückzubringen. Laut Ninas Erinnerungen war er ein äußerst akkurater Mann. Soweit sie sich erinnern konnte, trug er immer dieselbe Samtjacke. Im Winter wie im Sommer trug er zur Arbeit stets dieselben Stiefel. Selbst bei schlimmstem Regenwetter brachte er es fertig so zu gehen, dass nur die Sohlen schmutzig wurden.

       
Otradowka, 1940
Georgij Iwanowitsch Tereschtschenko
   Jenisseisk, 1956
  Olga Fedotowna Tereschtschenko
Ninas Vater (Oma Olja), Ninas Mutter

Nina besuchte sieben Jahre die Schule. In der Klasse war sie die jüngste und saß in der ersten Bank. In der sechsten Klassesteckte einer ihrer Klassenkameraden ihr einen Zettel mit einer Liebeserklärung in die Jackentasche. Als Olga Fedotowna die Notiz fand, verabreichte sie der Tochter eine kräftige Tracht Prügel und versprach ihr, dass sie sie beim nächsten Mal auf einem Bein stehen lassen und das zweite in zwei Teile zerreißen würde. In der Schule bekam Nina in fast allen Fächern gute Noten, in Geometrie, Geschichte und Deutsch sogar „sehr gut“. Lediglich in Chemie und Zeichnen waren ihre Leistungen nur durchschnittlich.

In den Wirren des Lebens bin ich nicht dazu gekommen, sie über die Schuljahre, über das, was sie dachte, über das, wovon sie träumte zu befragen. Ich weiß lediglich, dass sie bis in die Tiefen ihrer Seele Stalin und dem stalinistischen Zentralkomitee ergeben war und voller Stolz ein Abzeichen mit der Profilansicht W.I. Lenins trug. Hingebungsvoll glaubte sie alles, was in den Zeitungen und Losungen stand, und das rote Tischtuch auf dem Tisch des Präsidiums brachte sie ehrfürchtig zum Erschauern. Und obwohl die Kuryschko-Kolchose bei weitem nicht zu den besten zählte und ihre Mutter für die geleistete Tagesarbeitseinheit viel zu wenig erhielt, war sie von der Überlegenheit des Kolchos-Aufbaus überzeugt, hasste die Großbauern und deren Gehilfen und grundsätzlich alle Gegner des sowjetischen Aufbaus. Selbstverständlich las sie ausschließlich Werke sowjetischer Schriftsteller mit ideologischem Inhalt. Na ja, und auch Werke einiger von der Partei gut geheißener und anerkannter Volksschriftsteller und Dichter. 1937 trat sie in die Komsomolzen-Organisation ein. Nachdem sie in demselben Jahr die Sieben-Klassen-Schule absolviert hatte, wollte sie weiterlernen, doch ihr Vater war dagegen, denn er war der Ansicht, dass sie dafür nicht die finanziellen Mittel, nicht die Möglichkeiten zur Verfügung hatten,


Alexandrowka, 1941
Nina beim Militärkommissariat, umgeben von Komsomolzen
(10 Tage vor Ausbruch des Krieges)

Diese Entscheidung des Vaters nahmen sowohl sie als auch Olga Fedotowna sich sehr zu Herzen.

Nach der Schule fand Nina zunächst Arbeit als Sachbearbeiterin, später als Maschinenschreiberin im Bezirkskomitee des Komsomol. Sie lebte in der Ortschaft Alexandrowka – dem Bezirksverwaltungszentrum. Und zu der Zeit verschlechterten sich die Beziehungen der Eltern zu Hause in Otradowka immer mehr. Erschöpft von der Arbeit auf den Kolchos-Feldern, dem eigenen Haushalt, der Versorgung der drei Schwestern ihres Ehemannes und ihres Sohnes, war Olga Fedotowna nicht in der Lage, jene Sauberkeit und Gemütlichkeit im Haus herzustellen, von der Georgij Iwanowitsch träumte. Er verlor die Beherrschung, verlangte, dass seine Frau seine heranwachsenden Schwestern zum Arbeiten zwang, aber dazu sah sie sich außerstande. Das ärgerte ihn. Er, der in einer recht wohlhabenden Familie aufgewachsen war, in der die Mutter, die nicht mit schwerer körperlicher Arbeit belastet war, Ordnung und Bequemlichkeit sicherstellte, empörte sich, als er die im Zimmer verstreuten Kleidungsstücke, das nicht abgewaschene Geschirr sah. Oft gab es Konflikte aus religiösem Anlass. Olga Fedotowna war eine gottesfürchtige Frau, während Georgij Iwanowitsch, auch wenn er kein Kommunist war, verlangte, dass in ihrem Haus keine Ikonen aufgestellt wurden. Nach Ninas Erinnerungen riss er einmal eine Ikone von der Wand und warf sie aus dem Fenster auf die Straße. Vorbeigehende Frauen bekreuzigten sich wütend, während Olga Fedotowna leise weinte. Kurz vor Kriegsbeginn ging Georgij Iwanowitsch mit einer Dorfbewohnerin, Krankenschwester, einer alleinstehenden jungen Frau fort. Bei ihr fand er Sauberkeit, schmackhaftes Essen, Ruhe und Zärtlichkeit. Wenngleich Nina ihn niemals verurteilte, litt sie lange an dem Syndrom, dass die Untreue ihres Ehemannes verursacht hatte.


Alexandrowka, 1940
Nina während ihrer Zeit als Sekretärin
Beim Bezirkskomitee der Komsomolzen-Organisation

1940 wählte man Nina zur zweiten Sekretärin des Komsomol-Bezirkskomitees. Ihr Leben war bis an die Grenzen ausgefüllt: Leitung der Pionier- und Komsomolzen-Organisationen, Bezirksjugendzeitung, Wandzeitung, Klub-Tätigkeit und schließlich ihre persönliche Mitwirkung in der Kulturbrigade. In jenem Jahr lernte sie Kolja Pokatilo kennen, mit dem sie sich später anfreundete, einen Schüler der zehnten Klasse, der das Lernen mit der Arbeit in der Redaktion der Bezirkszeitung vereinbarte. Schon bald verwandelte sich die Freundschaft in Liebe. Sie war häufiger und gern gesehener Gast in seiner Familie. Es gibt noch Fotos aus jenen Jahren, auf denen Nina und ihre damaligen Freunde und Freundinnen zu sehen sind. Unter ihnen befindet sich Kolja. Auf der Rückseite des Fotos steht geschrieben: «Mein Kolja Pokatilo». Nina musste auch mit Rekruten arbeiten. Auf einer Fotografie vom 12. Juni 1941 (10 Tage vor Kriegsausbruch!) sieht man sie in einer Gruppe Einberufener, sehr junger Männer, neben einem Militärangehörigen, offensichtlich dem Kriegskommissar, und ringsherum vierunddreißig Rekruten.

Krieg! An seinen Beginn, genauer gesagt, den Tag und die Stunde, als sie zum ersten Mal davon hörte, kann Nina sich, im Gegensatz zu mir, noch sehr gut erinnern. An jenem Tag inszenierte ihre Kulturbrigade in Otradowka das Stück «Die Zigeuner», in dem sie die Semfira spielen sollte. Das Leben wurde ihr in den rosigsten Farben gemalt. Sie war gesund, besaß zahlreiche Freunde, wurde von Jung und Alt respektiert, und vor allem hatte sie Kolja, den sie liebte und der sie liebte. Und außerdem liebte sie das Tanzen, vor allem Zigeunertänze, und wenn sie abends in den Klub kam, begann sie sich ab der Türschwelle im Walzertakt zu drehen. An jenem Tag, als sie das Haus verließ und vor der Kolchos-Verwaltung eine Menschenmenge stehen sah, hegte sie noch keinen Verdacht, sondern wunderte sich nur: so viele Menschen sind noch nie zu meinen Auftritten gekommen. Aber als sie näher herantrat und die düsteren Gesichter der Männer und der weinenden, jammernden Frauen und stillgewordenen Kinder sah, begriff sie: es herrschte Krieg!

Und alles brach im Nu zusammen: Träume, Hoffnungen, die Freude des morgendlichen Erwachens und des abendlichen Wiedersehens. Die Blumen wurden glanzlos und verloren ihren Duft, lautlos wurde das Zirpen der Heuschrecken und das Gezwitscher der Vögel. Das Leben war erfüllt von schrecklichen Kriegsberichten, der Hektik der Rekrutierungsbüros, den Tränen der Frauen und Mütter. Die ersten Todesnachrichten trafen ein, die ersten Verwundeten, die ersten Flüchtlinge, deren Zahl rasch anstieg. Nina gehörte zu der Gruppe, die für ihre Aufnahme und Unterbringung verantwortlich war. In ihrer Obhut befanden sich die Kinder. Die ersten Flüchtlinge wurden im Klub, im Kontor untergebracht. Nina ging bei den Dorfbewohnern von Hütte zu Hütte, um für sie Kleidung, Essen und für die Kinder Spielzeug und Bücher zu sammeln.

Bereits am dritten Kriegstag wurde Kolja eingezogen. Und ein paar Tage später – der Vater. Als Georgij Iwanowitsch sich verabschiedete sagte er: «Zwei Kriege habe ich durchgemacht, aber aus dem dritten werde ich nicht mehr zurückkehren», - und er und seine Mutter erinnerten sich daran, wie er die Ikone weggeworfen hatte, und es zog ihnen die Herzen zusammen. Die Tage verrannen voller Sorgen und Erwartungen. Von Kolja trafen zwei Briefe ein, zwei Dreiecksbriefe, wie die Soldaten ihn versendeten. In ihnen versicherte er seine Liebe und Treue, erwähnte aber mit keinem Wort, wo er sich befand und was er machte. Dann eine lange Zeit des Schweigens und plötzlich der Schock: Koljas Eltern erhielten die Todesbenachrichtigung, in der man ihnen mitteilte, dass Kolja gefallen war. Nina besuchte sie fast täglich, trauerte mit ihnen, beweinte ihre erste Liebe. Als sich im Herbst 1941 gemäß geheimem Befehl eine Partisanentrupp formierte, meldete sie sich, zusammen mit anderen Mitgliedern des Komsomol-Bezirkskomitees an. Zum Kommandeur des Trupps wurde der Vorsitzende des Bezirksexekutivkomitees Fomenko ernannt, zum Kommissar – der erste Sekretär des Bezirkskomitees der Partei Psalomschtschikow, zum Chef der Aufklärung – das Mitglied des Komsomol-Bezirkskomitees Malij. Der Trupp bestand vorwiegend aus Männern. Es gab lediglich vier Frauen: Romanzowa – Parteimitglied seit 1919, Sekretärin der Parteiorganisation des Bezirkskomitees, Leiterin des Parteibüros, Nina und noch zwei weitere Mädchen, ihre Freundinnen, von denen eine die Ehefrau des Kommandeurs des Trupps war, die zweite – die zukünftige Ehefrau des Kommissars des Trupps.

Heute ist den Problemen des Partisanenkrieges eine umfangreiche Literatur gewidmet. Aber damals gab es eine solche Erfahrung noch nicht, und viele Handlungen des neu geschaffenen Trupps erwiesen sich zumindest als schlecht durchdacht. So begannen unmittelbar nach dem Erhalt des geheimen Befehls und der Schaffung der Partisaneneinheit nicht geheime praktische Aktivitäten vor den Augen der Einwohner von Alexandrowka. Im März 1942nahm der Trupp am Streifzug nahe Taganrog teil. Dabei erledigte Nina die Aufgaben einer Krankenschwester. Und obwohl sie in dieser Rolle eigentlich am Ende des Trupps mit dem Tross hätte gehen sollen, um den Bedürftigen ihre Hilfe zu erweisen, versuchte sie stets in den ersten Reihen mitzulaufen. Diese Angewohnheit hatte sie auch schon im Lager gehabt und war von mir nicht nur einmal beobachtet worden. Nachdem sie von ihrem Marsch zurückgekehrt waren, veranstalteten seine Teilnehmer einen prunkvollen Empfang in der Ortschaft Margaritowka, während die Bezirkszeitung über den Marsch einen Artikel druckte, in dem sie lediglich die leicht veränderten Nachnamen erwähnte. Die Zusammensetzung des Trupps war für keinen der Bezirksbewohner ein Geheimnis. Bald darauf traf die Nachricht von Georgij Iwanowitschs Tod ein. Nach einer schweren Bauchverletzung starb er am 12. März 1942 und wurde in der Ortschaft Bolobenkowo im Petrowsker Bezirk, Gebiet Charkow, beigesetzt.

Im Sommer 1942 passierten motorisierte Teile der deutsch-faschistischen Heeresgruppe «Süd» mit mehreren Kolonnen die nach Süden führenden Straßen im Alexandrowsker Bezirk. In den auf dem Weg liegenden Dörfern und Ortschaften setzten sie ihre Ältesten und Bürgermeister ein, hauptsächlich aus den Reihen sowjetischer Bürger, und marschierten weiter ins Kuban-Gebiet und den Nord-Kaukasus. In Alexandrowska wurde eine deutsche Kommandantur eingerichtet. Ein Teil der Soldaten aus dem zweiten Zug der einmarschierenden Truppen nahm ihre Posten in den nahegelegenen Dörfern ein. Zwei von ihnen wurden Olga Fedotownas Haus zugewiesen. Laut ihren Erinnerungen wurde sie von ihnen nicht beleidigt, aber sie verhielten sich nach unseren russischen Maßstäben nicht ganz anständig. Sie scheuten sich nicht «Gas abzulassen», wie sie es ausdrückte. Es waren hauptsächlich die Polizeiangehörigen, die wüteten. Aufgrund einer Anzeige kamen sie, um bei ihr ein Berdan-Gewehr zu suchen, mit dem Georgij Iwanowitsch zur Jagd gegangen war. Das Gewehr war gut versteckt, und Olga Fedotowna versuchte sie davon zu überzeugen, dass sie keine Ahnung hatte, wo es sich befand. Da stellten sie sie an die Wand und schossen um ihren Kopf herum, aber sie beharrte weiter auf ihrer Aussage. Das Gewehr, das zwischen den Brettern der doppelten Decke verborgen war, erlebte dort noch das Ende des Krieges.

Der Partisanentrupp, über dessen Existenz fast alle Einwohner des Bezirks Bescheid wussten, war mit dem Eintreffen der Deutschen gezwungen, sich ins Jelisawetinsker Moorgebiet zurückzuziehen, wo es sich in den schwer zugänglichen Sümpfen und Schilfdickichten verbarg. Seine Aktivitäten waren nun sehr erschwert. Unter diesen Kommando-Bedingungen formierte das Truppen-Kommando separate Gruppen (von jeweils 2-5 Personen) und sandte sie zur Ausführung der Aufklärungs- und Sabotage-Arbeiten in die Ortschaften des Bezirks. Der Kern des Trupps wechselte an einen anderen Ort, aber die Verbindung zu den Gruppenleitern wurde über den Aufklärungsleiter aufrechterhalten. Die Gruppen durften die Leitung des Trupps nicht in eigener Initiative übernehmen, denn sie wussten nicht, wo er sich befand.

Romanzewa und Nina wurden nach Otradowka geschickt. Es war nur natürlich, dass in ihrer kleinen Gruppe Romanzewa das entscheidende Wort hatte, die für Nina gleichzeitig eine alte Partei-Genossin und Kommandeurin war. Über die Art der Aufgaben, die Nina auszuführen hatte, weiß ich nichts Genaues. Auf die Frage, welche Aufgaben nun vor ihnen lägen, erwiderte die Romanzewa:

– Wir werden herausfinden, ob es deutsche Soldaten im Dorf gibt, und wenn ja – wie viele es sind und in welchem Rang sie stehen.

Vor Ausführung der Aufgabe wurde ihnen befohlen die Waffen zu verstecken, und für die Notfall-Verbindung wurde ein gewisser Saizew angegeben, ein Förster, der unweit von Alexandrowka lebte. Bei Einbruch der Dunkelheit kamen sie nach Otradowka. Sie gingen durch die zu der späten Stunde leeren Dorfstraßen und begaben sich anschließend, ohne auf den Dorfplatz hinauszugehen, durch die Gemüsegärten zu Ninas Haus. Dort schliefen alle. Nur Olga Fedotowna bereitete in der Küche noch das Futter für die Kuh. Das Eintreffen der Besucher bemerkte sie nicht. Es war nicht der erste Besuch dieser Art. Mitunter musste sie für die Partisanen die Wäsche waschen und ausbessern. Sie setzten sich, flüsterten miteinander, erfuhren, dass die Deutschen Otradowka verlassen hatten, tranken Tee und begaben sich, nachdem sie ein wenig dahingedöst hatten, im Morgengrauen, wie vereinbart, zu Saizew. Wir durchquerten ein Sonnenblumenfeld und Gehölze und mieden zufällige Passanten. Es war schon vollständig hell geworden, als wir an die Tür des Försters klopften. Doch er weigerte sich sogar nur mit uns zu reden, wobei er verlauten ließ, dass er von einem Trupp und von Partisanen nichts wüsste. Empört über das derartige Verhalten ihres Landsmannes, kehrten sie ins Sonnenblumenfeld zurück und machten sich am Abend auf den Weg zur Schlucht, wo der Kommandeur der Aufklärung Malij sie abholen sollte. Ohne ihnen konnten sie nicht zum Trupp zurückkehren.

Am Morgen traf jedoch am Erscheinungsort anstelle von Malij der Älteste von Alexandrowka (in der Vergangenheit Sekretär der Parteiorganisation in der Ortschaft Christitschewo) mit einer Kutsche ein, der, wie Nina gehört hatte, aus dem Jelisawetinsker Moor desertiert war. Wie es Nina schien, wunderte sich die Romanzowa nicht über das Erscheinen des Ältesten, und im ersten Augenblick dachte Nina sogar, dass die Begegnung mit ihm in ihrem Auftrag vorgesehen war und dass er möglicherweise kein Verräter war, sondern ein verschwörerisches Mitglied des Trupps. Der Gedanke daran, dass die Romanzewa sich als Verräterin erweisen könnte, kam ihr in diesem Moment nicht in den Kopf. Zweifel kamen erst auf als man sie zur deutschen Kommandantur brachte, wo der ortsansässige Deutsche Burgart als Bürgermeister fungierte, der sie alle kannte. Zuerst wurde Romanzewo zu ihm zum Verhör gebracht, die sehr lange bei ihm zubrachte und von der er alle ihn interessierenden Informationen erhielt. Nina wurde das klar, nachdem Burgart Fakten nannte, die ausschließlich der Romanzowa hätten bekannt sein dürfen.

Da Nina offenbar für die deutsche Kommandantur, die bereits alle notwendigen Angaben von Romanzewo bekommen hatte, und vielleicht auch aus anderen Überlegungen, kein besonderes Interesse darstellte, ließ man sie gehen. Von den ersten Tagen an versteckte sie sich, doch schon bald, nach der nächsten Partisanen-Aktion, nahm man siezusammen mit anderen Dorfbewohnerinnen als Geiseln fest. Ihnen allen drohte der Tod. Die Aufgegriffenen wurden ins örtliche Untersuchungszelle gesteckt, wo sie mehrere schreckliche Tage und Nächte verbrachten. Romanzewa befand sich nicht unter ihnen. In den sich langsam dahinziehenden, sorgenvollen Tagen kehrte Nina wieder und wieder zu jenem Morgen zurück, als am Erscheinungsort nicht Malij, sondern der Älteste eingetroffen war. Was konnte sie tun, selbst wenn sie von Romantsewas Verrat wusste? Sie besaß keine Waffe, aber der Älteste war bewaffnet. Vor ihm wegzulaufen war unmöglich. Aber vielleicht traf Romanzewa ja auch keinerlei Schuld. Vielleicht war ihr gleichmütiger Gesichtsausdruck beim Auftauchen des Ältesten nur Maskerade gewesen? Wie sonst hätten sich die beiden Frauen verhalten sollen, die sich nach einem langen Marsch hingesetzt hatten, um ein wenig auszuruhen? Aber wohin war sie gegangen? Niemand bekam sie wieder zu Gesicht. Es gab Gerüchte, dass sie in der Vergangenheit eine edle Dame, so etwas wie eine Gräfin, gewesen sein sollte – nach den damaligen Vorstellungen hätte dies alles erklären können.

Tag für Tag verstrich, und die Deutschen hatten es mit der Wahrmachung ihrer Drohungen nicht eilig, änderten daran aber auch nichts. Gerettet wurden sie durch einen in der Kommandantur Dienst habenden, ehemaligen Mitarbeiter der Miliz, der ihnen allen die Möglichkeit anheimstellte zu fliehen. Nina erinnerte sich, dass sie, als alle hinausgelassen wurden und in verschiedene Richtungen davonrannten, Olga Fedotowna sah. Später, vor dem Eintreffen der Sowjetarmee, hielt sie sich in Otradowka bei den Ortsansässigen Subko und Makarowo versteckt. Einige Zeit hauste sie hinter dem Ofen, in einem Raum, eng wie ein Federmäppchen, das extra zu diesem Zweck mit einem Gemäuer aus Ziegelsteinen vom Zimmer abgeteilt worden war.

Sofort mit dem Eintreffen der sowjetischen Truppen brachte man Nina, auf einstimmigen Wunsch der Dorfbewohner, vor die Kommission zur Wiederherstellung der Sowjetmacht im Otradowker Dorfrat. Einige Tage später holte man sie zur Ausübung ihrer Verpflichtungen ins Bezirkskomitee der Komsomolzen-Organisation. Während der Wahlen der führenden Komsomolzen-Organe wurde sie einstimmig zum Plenumsmitglied und Mitglied des Büros des Komsomol-Bezirkskomitees gewählt.

1944 nahm die primäre Parteiorganisation des Bezirkskomitees der Partei Nina als Mitgliedskandidatin der Partei an. Empfohlen worden war sie von Fomenko und Psalomschtschikow, den damals einflussreichsten Menschen im Bezirk. In der Parteikommission kam die Frage über ihren Marsch, gemeinsam mit Romanzewa, nach Otradowka auf. Auf die Frage der Kommissionsmitglieder, weshalb er nicht zum festgesetzten Ort gekommen sei, antwortete Malij, dass die Leitung des Trupps von Romanzewas Verrat bereits gewusst hätte, und er nicht das Recht gehabt hätte, nur wegen Nina die anderen Kameraden in Gefahr zu bringen.

– Woher konnten wir wissen, dass sich hinter euch keine Deutschen befinden, - sagte er, als er leicht gereizt zu Nina umwandte.

Ein paar Tage später, als Nina in einer dienstlichen Angelegenheit sein Kabinett betrat, benahm sich Malij, zu der Zeit zweiter Sekretär des Bezirkskomitees der Partei, ihr gegenüber wie zu einem Mädchen, beleidigend, woraufhin sie ihm eine Ohrfeige gab und versprach, alles seiner Ehefrau zu erzählen, mit der sie gut befreundet war. Wütend krächzte er:

– Ach, so eine bist du, du wirst dich noch an mich erinnern!

Vier Tage vergingen. Nina machte sich zum Tanz im Klub fertig und zof ihr graues Lieblingskleid an, das so schön mit ihren Augen harmonierte. Sie nahm ihre schwarze Lacktasche mit. Darin befanden sich der Komsomolzen-Ausweis und die Kandidaten-Karte. In dem Moment kam ein Bote angelaufen und sagte, dass sie dringend ins Bezirkskomitee kommen solle. Nichtsahnend öffnete sie, so wie sie war, in festlicher Kleidung und mit guter Laune, die Tür des Büros des Sekretärs des Bezirkskomitees... Und dort endete ihr freies Leben. Bei der Verhaftung nahm man Nina den Komsomolzen-Mitgliedsausweis, den sie in all den Monaten der Besatzung sorgfältig verwahrt hatte, und die Registrierungskarte. Beschuldigt wurde sie der Zusammenarbeit mit den Deutschen, dass sie ihnen Informationen über den Trupp gegeben hätte. In der Zeugenaussage Malijs während des Untersuchungsverfahrens hieß es, dass er angeblich zum Erscheinungsort gekommen wäre, Romanzowa und Nina jedoch nicht angetroffen hätte. Nina bat um eine Gegenüberstellung mit Malij und Romanzewa. Das wurde ihr verweigert. Im Verlauf des zweimonatigen Ermittlungsverfahrens machte keine einzige Person, außer Malij, eine Zeugenaussage, welche sie diffamierte.

Das städtische Kriegsgericht der Stadt Rostow sah keine Möglichkeit, sie anhand des vorgelegten Materials zu verurteilen, und so wurde ihre Akte an ein Sonderkollegium weitergeleitet. So begann ihr Leben auf der anderen Seite des Stacheldrahtzauns. Sowohl damals als auch viele Jahrzehnte später beschuldigte sie ausschließlich Malij an dem, was geschehen war, und vielleicht noch den Untersuchungsrichter, der ihr die Gegenüberstellung verweigert hatte. Ihre Liebe und Treue zur Heimat, der Partei, dem Großen Stalin gerieten nicht ins Wanken. Ich bin überzeugt davon: wenn dieser Kelch an ihr vorübergegangen wäre, hätte sie niemals an die Existenz einer solchen Welt geglaubt, in die sie so unerwartet hineingeraten war.

Im Solikamsker Durchgangslager traf Nina im Dezember 1944 ein, ohne den Paragrafen zu kennen, nach dem sie verurteilt worden war, ohne Information über die Haftdauer. Mit dem Beschluss des Sonder-Kollegiums machte man sie erst im Sommer bekannt, als sie sich bereits im Kuschmangortsker OLP befand. In einem derart unsicheren Zustand befand sich damals viele Gefangene.

Und dabei hatten sie uns gegenüber sogar einen Vorteil, denn sie konnten noch Hoffnung hegen und waren manchmal auch fest davon überzeugt, dass es sich bei all dem, was geschehen war, um einen Irrtum handelte, dass gleich ein Dokument käme und sie freigelassen würden. Viele von ihnen verhielten sich sogar ganz anders als wir, weil sie der Meinung waren, dass sie ohne Paragrafen und ohne Haftzeit mit Sicherheit keine Gefangenen wären. Naiv wie sie waren, begriffen sie nicht, wollten nicht begreifen, dass jedem, der erst einmal innerhalb der Gefängnistore und hinter Stacheldraht gelandet war, auch eine Haftstrafe sicher war. Aber die Lagerleitung, die Aufseher wussten das nur zu gut und verhielten sich ihnen gegenüber in entsprechender Art und Weise, ohne sie von uns, den vollständig formalisierten Lagerinsassen, zu unterscheiden.

Nachts, wenn Nina auf ihrer harten Pritsche lag, kehrte sie immer wieder in Gedanken zu jenen unglückseligen Tagen zurück, als sie, in einem Waldstück vergraben, zusammen mit Romanzowa auf Malijs Erscheinen gewartet hatte. «Weshalb ist er nicht gekommen? Hatte der Trupp tatsächlich von Romanzewas Verrat gewusst? Aber warum hatten sie sie dann zur Aufklärung geschickt? Und welche Besonderheiten hätte Romanzewa schon vom Trupp berichten können? Schließlich war er doch praktisch zerfallen und existierte nicht mehr. Und Malij ist ein Dreckskerl, - dachte sie. – An allem ist er allein schuld, nur er. Sich so zu rächen, aber weswegen? Ich war doch schließlich mit seiner Frau befreundet! Wie konnte er sich so etwas erlauben, und dazu noch im Parteibüro? Was für ein Kommunist ist er danach. Und ich bin auch gut. Denn ich wusste, fühlte, wie er sich mit gegenüber verhält und ertrug seine dummen Witze, seine Klapse. Oder hätte ich es vielleicht weiter erdulden, nachgeben sollen? Ich wäre um alles herumgekommen und hätte meiner geliebten Arbeit weiter nachgehen können. Und was nun?

Eine Welle der Verzweiflung überrollte sie. Sie weinte still vor sich hin, damit ihre Nachbarin, eine gottesfürchtige Alte, nichts merkte, die sich beharrlich davon zu überzeugen versuchte, ihren Stolz zu bändigen und Gott zu vertrauen. Aber das konnte sie nicht, denn sie glaubte nicht an Gott, sondern an die Partei. Ganz besonders missfielen ihr und verschreckten sie die vorsichtigen Andeutungen der Alten, dass am Unglück vieler im Lager befindlichen Menschen gerade die Partei schuld sei, und, ein schrecklicher Gedanke – es kam ihr sogar so vor, dass sie, wenn sie von der bösen Macht sprach, Josef Wissarionowitsch höchstpersönlich meinte, der für die einfachen Menschen und für den Sieg so viel getan hatte. All die Frauen, die hier neben ihr auf den Pritschen lagen, waren selbstverständlich schuldig. Bei ihr handelte es ich lediglich um einen Irrtum. Malij hatte sich als schlechter Kommunist erwiesen, darin lag das ganze Problem. Anschließend dachte sie an die Komsomol- und Partei-Angelegenheiten und schlief schließlich mit ihren Gedanken darüber ein.

Frauen sind wohl besser als wir, die Männer, in der Lage, sich ihr persönliches Leben unter ungewohnten, extremen Bedingungen einzurichten. Als ich Ninas Erinnerungen analysierte hatte ich jedenfalls ständig das Gefühl, wie unterschiedlich sie und ich ins Lagerleben eingetreten waren. Ich verwahrloste schnell, ließ mich gehen und hörte zu einem gewissen Zeitpunkt sogar auf mich zu waschen. In den allerersten Monaten wollte ich vor allem nur daliegen, die Augen schließen, mich nicht bewegen, nichts sehen und hören und so sterben. Nina verfügte über wesentlich mehr Optimismus. Der Hunger quälte sie nicht so sehr. Sie achtete auf ihre Kleidung, reinigte sie morgens. Nach dem Aufstehen wusch sie sich und putzte sogar ihre Zähne. Ich glaube, sie besaß auch eine Spiegelscherbe und einen schwarzen Stift für ihre Augenbrauen. Nach Erzählungen zu urteilen konnte sie Witze machen und lachen. Hier, im Solikamsker Durchganslager, das auch ich zwei Jahre zuvor durchlaufen hatte, lernte Nina Olja kennen – Olga Pawlowna Butenko, geboren 1923, aus Rostow stammend, verurteilt nach Paragraf 58-1à zu fünf Jahren mit anschließender Verbannung für weitere fünf Jahre. Olja war sich sehr still und unauffällig, sowohl in ihrem Verhalten als auch in der Art, wie sie gekleidet war, vielleicht konnte man sie sogar als gottesfürchtig bezeichnen. Sie verstand sich schnell mit jener Alten, ebenso wie Nina, durch die ihre und Oljas Bekanntschaft und Freundschaft zustande gekommen war. Diese Freundschaften hielt über die gesamten Lagerjahre und auch die Zeit danach.

Nachdem die Quarantäne beendet war, wurde eine Etappe ins Kuschmangortsker OLP zusammengestellt. Zu ihr gehörten auch Nina und Olja. Sie gingen drei Tage lang. In einer gemeinsamen Kolonne aus Männern und Frauen. Rast, Übernachtung in Zwischenlagern, leichter Frost, die Bäume in Schneewehen. Um die Kolonne herum eine Kette von Begleitsoldaten mit Maschinenpistolen und auf Menschen trainierten, grimmigen Schäferhunden. Nina, wie damals in der Partisanen-Abteilung bei Taganrog, in der vordersten Reihe. Sie trug einen Herbstmantel und neue, noch nicht abgetragene Filzstiefel; Olga Fedotowna hatte sie ihr vor der Verschickung aus Rostow übergeben. Auf dem Kopf trug sie eine schwarze Schute. Die Stiefel scheuerten an den Füßen, jeder Schritt war von Schmerzen begleitet.

Einer der Wachleute, er war kein Russe, mit leicht schräg stehenden Augen und dunkler Gesichtsfarbe, gab ihr in schlechtem Russisch den Rat, die Stiefel auszuziehen und stattdessen die Füße mit Fußlappen zu umwickeln. Offenbar sympathisierte er mit ihr und war bemüht, eine Unterhaltung anzufachen, obwohl die Satzung für den Wachdienst dies kategorisch verbot. Neben Nina ein junger, lausiger Odessit, genauso einer, mit denen die alten Kolpowsker Frauen sie und Olja Schrecken eingeflößt hatten. Aber dieser war sympathisch und scharfsinnig. Und seine Ratschläge ähnelten keineswegs denen, welche ihnen die ehemaligen Lagerinsassinnen gegeben hatten. Der Odessit litt, weil er nichts zu rauchen besaß, und Nina bat den netten Begleitsoldaten um eine Papirossa. Der weit vorausschreitende Wachmann legte einen Stein auf den Weg und darauf eine selbstgedrehte Zigarette. Als die Etappe endlich in Stabnaja eintraf, fragte einer der Begrüßenden Nina: «Na, warum bist du den hergekommen?» - worauf Nina lachend zur Antwort gab: «Um als Partisanin tätig zu sein!»

Sie wurden in der Frauenbaracke untergebracht, und schickten sie ein paar Tage später zum Holzeinschlag. Brigadeführer Lyssenko unterwies sie und Olja im Umgang mit der Zweihand-Säge. Alles war wie gewohnt: Schnee, riesige Kiefern, eine unfügsame Säge in unerfahrenen und schwachen Frauenhänden und der eisige Frost, der Gesicht und Hände zum Erstarren brachte. Bereits am dritten Tag kam Nina mit aufgeschürften und aufgequollenen Händen in die Sanitätsstelle, wo sie eine Arbeitsbefreiung erhielt, und einige Tage später


Kurmangort, 1947
Olga Parlowna Butenko

wurden die meisten Frauen der neu eingetroffenen Etappe zur Lagerstelle Traktowaja geschickt. Hier gab es ein Zentral-Krankenhaus, eine Nähstube und eine Reparaturwerkstatt. Im Krankenhaus wurden ihre Beine behandelt. Einmal, als sie von der Baracke in die Kantine ging, hörte sie Schreie, die von irgendwo oben kamen, und sie begriff nicht sofort, dass diese Rufe ihr galten. Es stellte sich heraus, dass derselbe Begleitsoldat sie wiedererkannt hatte, der ihr auf dem Weg aus dem KOLP die selbstgedrehte Zigarette überlassen hatte. Nun hatte er sich über das Geländer seines Wachturms gebeugt, rief «Nina» und winkte mit der Hand. Ein paar Tage später kam er in die Lagerzone und brachte ihr ein wenig Brot, Zucker und Tabak. Bald darauf begann der zivilangestellte Spediteur Bagirow Interesse für sie zu bekunden. Er gewährte ihr eine materielle Unterstützung, bewahrte sie vor allgemeinen Arbeiten, verlangte aber ständig eine Gegenleistung. Ihre Beziehungen entwickelten sich auf einer reinen Lager-Basis. Sie trafen sich in einem Nebengebäude der Kantine, in dem er als Spediteur sein eigener Herr war. Zur Bekräftigung seiner Gefühle für sie schenkte er ihr eine richtige kleine Damenuhr, wie Nina sie noch nie zuvor besessen hatte. Damit man sie ihr nicht wegnahm, band sie sie ans Handgelenk und befestigte sie von oben. Auf dem Höhepunkt des Sommers kam die Nachricht: nach § 58-1b hatte das Sonder-Kollegium sie zu fünf Jahren Arbeits-/Besserungslager mit anschließender Verbannung für weitere fünf Jahre auferlegt. Sie weinte, aber Kadyrow beruhigte sie, indem er sagte, dass fünf Jahre immerhin keine zehn Jahre wären.

Der Sommer verging. Im Herbst 1945 wurden alle arbeitsfähigen Frauen aus Traktowaja nach Golownaja gebracht, wo sie zu Flößerei-Arbeiten herangezogen werden sollten. Golownaja war zum damaligen Zeitpunkt eine reine Produktions-Außenlagerstelle. Dort wurden Häftlinge gehalten, die im unteren Lager arbeiteten, wohin aus den Holzeinschlag-Lagern des Kuschmangortsker OLP mittels einer Schmalspurbahn das bereitgestellte Nutzholz abtransportiert wurde. Hier, am Ufer der Kama, rollten spezielle Ladearbeiter-Brigaden, die es verstanden, geschickt mit langen, biegsamen Haken zu hantieren, riesige Baumstämme über Schwellen auf mehrlagige Holzstapel. Dann wurden sie gekennzeichnet, die Enden geweißt, mit Punkten versehen und, nachdem die Abnahme-Bescheinigungen erstellt worden waren, füllten sie dicke Bücher mit Zahlenreihen. Die Holzstapel zogen sich auf einer Länge von beinahe zwei Kilometern an der Kama entlang, wobei sie über die steilen Flussufer hingen. Das gesamte Territorium des unteren Holzlagers waren von der Waldseite mit mehreren Reihen Stacheldraht eingezäunt. Auf der Flussseite gab es eine derartige Eingrenzung nicht. Stattdessen wurden im Sommer, während der Flößzeit, im Wasser, entlang des Ufers, sogenannte «poplawki» eingerichtet – mit Ankern befestigte überdachte Flöße, auf denen Wachen standen. Im Winter zogen die Wachen ans Ufer um. Von der Wohn- bis zur Arbeitszone waren es ungefähr drei Kilometer. In der Arbeitszone befand sich außer den Holzstapeln auch das Flößereikontor, in dem die Fluktuation des Nutzholzes, die Angelegenheiten des Lokomotiven-Depots und des Wasserturms dokumentiert wurden, an dem die eleganten tschechoslowakischen Schmalspur-Loks der Firma «Skoda» betankt wurden.

In der Wohnzone befand sich die Frauenbaracke, die von den anderen Bereichen, ebenso wie die gesamte Lagerzone, mit einem Staketenzaun abgegrenzt war. Darin gab es kleine Tore. Tagsüber standen sie offen. Am Abend, nach dem Signal zur Nachtruhe, wurden sie bis zum Morgen verschlossen. Die Baracke war in zwei Sektionen unterteilt. In der einen lebten die «Schokoladen-Mädchen» - hauptsächlich Frauen, die nach dem Paragrafen 58 verurteilt worden waren. In der zweiten – die «Steckrüben-Mädchen» - die wegen nichtpolitischer Bagatellvergehen verurteilt worden waren. Unweit der Frauenzone lag die Kontor-Baracke. Darin die Amtsstube des Leiters der Lager-Außenstelle Woltschenok. Daneben das Büro des Leiters des Flößereibetriebs sowie des technischen Leiters der Lager-Außenstelle Arkadij Petrowitsch Kalinowskij. Hier war auch das Büro des Arbeitsanweisers David Andrejewitsch Rudi untergebracht. Weiter, in derselben Reihe, die Wohnbaracken für die Arbeiter, dahinter die Kantine, die Küche und die Brotschneidestelle. In der zweiten Reihe, die parallel zur zweiten lag, ebenfalls Wohnbaracken. In der Mitte der ersten – Kalinowskijs Kabine. In dieser Reihe befanden sich die Sanitätsstelle und das Krankenhaus, welches von dem inhaftierten Arzt Aleksandrow geleitet wurde. Hinter dem Krankenhaus das Badehaus und die Wäscherei.

Das Kontingent der Lagerstelle war ungewöhnlich. Hier gab es praktisch keine alten Männer, keine Dahinsiechenden. Sie schickte man nach Traktowaja. Die Arbeiter wurden speziell ausgewählt. Von ihrer Arbeit hingen in einem großen Maße die Ergebnisse der Tätigkeit des gesamten OLP ab. Gerade hier, am Lagerpunkt «Golownaja», wurde das bereitgestellte, fortgezogene und zu den Holzstapeln verbrachte Nutzholz von den Abnehmern der Kertschewsker Flößerei-Reede in Empfang genommen, die hundert Kilometer flussabwärts an der Kama gelegen war. Besonderes Augenmerk wurde auf die Qualität der geleisteten Arbeit gelegt. Die Holzstapel – wie Spielzeug. Gleichmäßig, Stamm an Stamm, schimmernd ihre weißgetünchten Enden. Es war wichtig, Holz in bestmöglicher Qualität und, sofern es gelang, auch mit einem größtmöglichen Volumen abzuliefern. Im letzten Fall ruhten alle Fehlbestände auf der Bilanz der Kertschewsker Reede und wurden als im Wasser versunken abgeschrieben. Doch die Abnehmer waren Fremde – Jungs von der Kertschewsker Reede, in der Regel Zivilangestellte. Die Kuschmangortsker Leitung war bemüht ihnen zu schmeicheln. Gott bewahre, dass nur keiner von ihnen zurückschreckt, den Holzstapel nicht oder in schlechter Qualität abnimmt. Da konnte sogar der Leiter des OLP von seinem warmen Platz auffliegen, ganz zu schweigen von den Chefs eines niederen Ranges. Und wie sie ihnen schmeichelten! Vor allem dadurch, dass sie junge und attraktive Mädchen aus den Reihen der Gefangenen mit der Holzabgabe beauftragten. Mehr noch, letzteren wurde erlaubt in Zivilkleidung zu gehen und sich sogar die Lippen anzumalen. Der Wache gefiel das keineswegs. Aus diesem Anlass kam es zwischen dem Chef der militarisierten Wachmannschaften von Golownaja und Kalinowskij immer wieder zu schwer lösbaren Konflikten. Einmal beschloss der wütende Baschkirzew alle Frauen nach Schtabnaja zu schicken. In letzter Minute näherte sich Makarenko auf einem Schlitten und schickte sie alle wieder zurück.

Die ersten Tage ihres Aufenthalts im Lagerpunkt Golownaja arbeitete Nina, wohl nicht ohne die Protektion Wagirows, in der Kantine. Sie wusch das Geschirr ab, wischte die Tische ab und feudelte die Fußböden. Einmal, als sie das Bühnenbild für das abendliche Konzert vorbereitete, betrat der Leiter der Kultur- und Erziehungsstelle (KWTsch) und Leiter der Kulturbrigade die Kantine. Auf die Frage, was sie denn könnte, führte sie, so wie sie war, in Arbeitskleidung und mit einem Putzlappen in der Hand, ohne eine Antwort zu geben, einen Zigeunertanz auf. Man nahm sie in die Kulturbrigade auf. Mehrmals reiste sie mit ihr zu den verschiedenen Lagerstellen des OLP. Anfangs Konzert-Tätigkeit, sie entsprach am besten ihrem Charakter und ihren Gewohnheiten. Nina gefiel das sehr. Ihr «Zigeunertanz» und ihr «Äpfelchen» genossen Erfolg. Wenn sie die Bühne betrat, vergaß sie mitunter, wo sie sich befand und warum. Es kam ihr so vor, als wäre sie in Otradowka. Aber sobald das Knopfakkordeon verstummte und sie sich dem Publikum zuwandte, verschwand die Vision. Anstelle der barfüßigen, braungebrannten Kinder, der bedächtigen alten Männer und der alten Frauen mit ihren Kopftüchern in den ersten Reihen – der Leiter der Lagerstelle, der Kommandeur der militarisierten Wache, der Oberbevollmächtigte. Alle in NKWD-Uniformen und mit vergoldeten Schulterklappen. Die Gesichter wohlgenährt, selbstzufrieden, der Blick kalt und angespannt. Viele mit Ehefrauen und sogar mit Kindern. Weiter an den Rändern, weniger Leute von der Obrigkeit. Und kein einziges offenes, freundliches Gesicht. Hinter ihnen die privilegierten Lagerinsassen. Und schließlich, ganz hinten, im Halbdunkel, die gewöhnlichen Gefangenen.

Nach dem Konzert das Abendessen. Sogar ein wenig feierlich, auf dem Niveau einer Prämien-Mahlzeit. Übernachtung in einem Dienstraum, manchmal sogar im Badehaus. Männer und Frauen. Künstler- Alltag. Der Brigadeleiter fing an sich an sie zu heften. Sie wies seine Belästigungen ab und fand sich bald darauf erneut bei allgemeinen Arbeiten wieder. Bagirow war nicht da, er war nach Solikamsk umgezogen.


Lagerpunkt Golownaja, 1947
Im Vordergrund von links nach rechts: Arkadij Petrowitsch
Kalinowskij und David Andrejewitsch Rudi. In der zweiten Reihe, zweite
von links – Olga Butenko. In der dritten Reihe - Nina

Zusammen mit einigen anderen Frauen des Lagerpunktes wurde Nina zum Räumen der Flächen für die Holzstapel geschickt. Es war keine sehr schwere Arbeit, aber für Frauen doch recht ermüdend. Sie schleppten Bruchstücke der Baumstämme und Tauwerk fort. Ebneten den Boden. Die Tage, Wochen, Monate gingen dahin. In dieser Zeit wurde Olja Kalinowskijs Freundin, während Nina ein Auge auf David Andrejewitsch geworfen hatte, der sie ins Flößerei-Kontor schickte. Und so befand sie sich wieder an einem warmen Arbeitsplatz bei leichter Tätigkeit. Das gefiel dem damaligen Oberbuchhalter des Flößerei-Kontors Nikolaj Sujew nicht, dessen Beziehungen zu Kalinowskij und Rudi schon lange angespannt waren. Es kam zu Reibungen und Schikanen. Hinzu kamen Probleme mit der Gesundheit. Nina war nervös, weinte häufig, verlor an Gewicht. Und dann auch noch David Andrejewitsch. Abends kam er in die Baracke und saß stundenlang seufzend da. Im November tauchte im Flößerei-Kontor Lonka Swiridow auf. Vom ersten Tag an gefiel ihm das bescheidene und schweigsame Mädchen mit den traurigen Augen, das mitunter vor Fröhlichkeit und frechem Humor förmlich explodierte. Nur mit Mühe gelang es ihm, seine Sympathie gegenüber Nina zu verbergen, die mit der Zeit zu einem ausgeprägten Gefühl entwickelte. Lonjas Werbung erschwerte ihre Situation in der Wohnzone. Und obwohl David Andrejewitsch keinerlei Schritte gegen sie unternahm, stellten sich all ihre Bekannten und Freundinnen, darunter auch Olja, auf seine Seite und versuchten Nina zu überreden, die Verbindung mit ihm nicht abreißen zu lassen. Ihre Situation wurde schnell kompliziert. Sie lachte immer seltener.

In dieser für Nina sehr schwierigen Zeit begab ich mich, ohne irgendetwas über sie zu wissen, zum Lagerpunkt Golownaja, um mich mit Lonja zu treffen. Ein paar Schritte hinter mir ging, schwer atmend, ein Wachmann. Es war warm. Die Frühlingssonne schien. Die sandige, durch die Holzlastwagen ausgefahrene Straße war frei von Schnee. Wir gehen auf dem Seitenstreifen. Unter den Füßen, wie angeschwollene Adern, die knorrigen Baumwurzeln. Die Stämme der majestätischen Kiefern schimmern golden im Licht der Morgensonne. Die Laune ist gut. Ich bin angefüllt von der Bedeutung meiner Mission. Ich denke über die Schritte nach, die zu unternehmen sind, um die gestellte Aufgabe zu lösen. Nach und nach schweifen die Gedanken zu Lonjas persönlichen Problemen ab. Ich frage mich, wie seine Nina wohl sein mag. Groß, klein, braunhaarig oder blond? Lonja und ich haben nie über das Thema gesprochen. Fast genauso wie bei Nelja. Während ich nachdenke, beschleunige ich meinen Schritt. Und plötzlich ein jäher Ruf:

- Na, geh langsamer!

Es ist der Begleitsoldat. Er hat seinen Grund. Sie haben ihn früher aus dem Bett geholt als üblich. Sie haben ihn nach seinem nächtlichen Dienst nicht ausschlafen lassen, sondern ihn losgeschickt, um ein eingebildetes Jungchen zu begleiten. Als ob man den nicht mit der nächsten Etappe hätte schicken können. Und dann mit einem Sonder-Konvoi - was für eine Ehre.

Dieser Schrei brachte mich auf die sündige Erde zurück und änderte jäh meinen Gedankengang.

– Aber wirklich, was bin ich denn für einer, warum bin ich denn so arrogant?

– Hier gehe ich, wohlgenährt und angezogen, angefüllt mit dem Bewusstsein der Wichtigkeit der mir auferlegten Mission. Und dabei befinden sich dort, in Lesnoje oder Sewernoje, und überhaupt auch in den anderen OLPs und Lager-Außenstellen tausende und abertausende erschöpfte und hungrige Gefangene, wie ich einst einer in Kolynwa war, sie fällen Bäume, zersägen sie und, ziehen, sich die Sehnen herausreißend, die schweren harzigen Bäume fort. Sie haben keine Zeit und Kraft für die Schönheit des Kiefernwäldchens, für die Frauen, für die Intrigen der bevorzugten Lagerinsassen. Sie werden vom Hunger und der harten körperlichen Arbeit beherrscht. Die Wandlungen der Nachkriegszeit haben ihr Leben nur wenig verändert. Und wenn sich auch die Todesrate ein wenig verringert hat, aber wie viele sind bereits umgekommen und wie vielen ist es noch beschieden, durch die alle menschlichen Kräfte übersteigende Schwerstarbeit, die Mangelernährung und die Sehnsucht nach Zuhause in die andere Welt hinüberzugehen. Wie konnte ich, der ich nun unter warmen Gewächshaus-Bedingungen lebte, den mich umgebenden Sumpf des Leidens und der Grausamkeit vergessen?

 

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