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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Teil II
Hinter Stacheldraht

Kapitel 13. Meine schwierige Liebe

Beladen mit düsteren Gedanken setzte ich meinen Weg zum Lagerpunkt Golownaja fort. Hinter mir spielte der verärgerte Wachmann offen auf Zeit. Er ging ohne Eile und ließ sich ab und an nieder, um zu rauchen. Infolgedessen benötigten wir für die acht Kilometer, die Stabnaja von Golownaja trennten, fast drei Stunden. Es kam mir vor, als ob der Weg kein Ende nähme. Kiefern, Tannen, schneebedeckte Lichtungen und wieder Kiefern. Doch dann schließlich schimmerten durch eine Schneise des Waldwegs die Wachtürme und der Staketenzaun der Lagerzone. Sie schimmerten hindurch und verschwanden wieder. Der Weg führte erneut durch den Wald, aber nicht sehr lange. Schon bald tauchten die mit langen Stangen eingezäunten und von schmutzigem geschmolzenem Schnee bedeckten Gemüsebeete auf. Dann das Sägewerk, der Wirtschaftshof. Allmählich wurde der Weg gerader und führte in die Siedlung der Zivilangestellten. Zur rechten Seite einige aus Kiefernstämmen zusammengebaute und mit finnischen Holzschnitzen gedeckte Zwei-Wohnungshäuser. Nach sibirischer Art kleine Fenster, Gardinen, Blumen. Noch eine scharfe Biegung und dann endlich die Wache des Lagerpunktes Golownaja.

In der Zone nahm mich Lonja in Empfang und brachte mich sofort zur Leitung. Er stellte mich als Revisor vor, was mich sehr irritierte. Dieses Amt passte schlichtweg nicht zu meinem Alter, meiner Kleidung und meiner Lage als Häftling. Eine gewisse Seriosität verlieh Fajerstejns Fernspruch, den der Leiter des Lagerpunktes mit Zweifeln im Gesicht betrachtete.

Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, begaben wir uns in die Baracke des verwaltungstechnischen Personals, in der Lonja wohnte. Die Baracke war zu dem Zeitpunkt leer, so dass Lonja und ich in aller Ruhe den Plan für meine Tätigkeit während der Dienstreise erörtern konnten. Die Situation schien schwieriger als sie Jakob Jakowlewitsch vorgekommen war. Verletzung der Formalitäten bei den Empfangs- und Abgabe-Dokumenten, Veränderungen bei den Bilanzen, nachträgliche Eintragungen, fiktive Papiere zur Abschreibung von nicht standardgemäßem Holz. All das roch nach einem Skandal, der sich leicht gegen uns wenden konnte, denn die Schuld lag zur Zeit der Leitung durch Sujew zweifellos bei den Mitarbeitern des Flößerei-Kontors.

Das Problem mit Nina Tereschtschenko war, meiner Ansicht nach, einfacher zu lösen. Man hätte sie ins Krankenhaus des Lagerpunktes Stabnaja bringen sollen, dessen Oberarzt mit Jakob Jakowlewitsch befreundet war. Aber Lonja gefiel diese Variante nicht sonderlich. Er sehnte sich nach einem offenen Kampf mit Kalinowskij und Rudi und wollte von Nina nicht getrennt werden.

Nach dem Willen des Zufalls stellte sich heraus, dass an diesem Tag, nach dem Abendessen, dass die am Vorabend in Golownaja eingetroffene zentrale OLP-Kulturbrigade auftreten sollte, und, dem zufolge, auch die Manikowskaja. Für mich kam das völlig unerwartet und änderte jäh meinen Gedankengang. Ninel bereitete mir immer noch große Sorgen. Zweifel kamen auf – zum Konzert gehen oder nicht. Entschieden wurde die Frage durch Lonja, indem er verkündete:

– Dort werde ich dich mit ihr bekanntmachen!

Seine Stimme zitterte dabei. Man merkte, dass er sich schämte. Er schämte sich für seine Schwärmerei, die bei weitem nicht seinem jugendlichen Alter entsprach und dafür, dass er gezwungen war, bei mir, den er kürzlich erst selbst protegiert hatte, Hilfe zu suchen.

Als wir in die Kantine kamen, waren die vordersten Reihen, mit Ausnahme der ersten, die für die Lagerleitung vorgesehen war, bereits besetzt. Wir fanden irgendwo in der Mitte einen Platz. Lonja wandte den Kopf und sagte zu mir, nachdem er Nina gefunden hatte:

– Da, in der fünften Reihe, die dritte von rechts.

Ich stemmte mich ein wenig vom Sitz hoch und sah an der Stelle einen Kopf, bedeckt mit einem Kopftuch, unter dem man auf Papierstücke aufgedrehte Haare sehen konnte – den Prototyp unserer Lockenwickler.

– Na, und nun? Machst du uns miteinander bekannt? – fragte ich. –

Freilich, – antwortete er. Er erhob sich und schrie, den Lärm des Essraums übertönend:

– Tereschtschenko!

Sie stand auf, drehte sich um und kam, nachdem sie Lonja mit den Augen ausfindig gemacht hatte, heran. Ein schlankes Mädchen in einer pelzbesetzten Weste. Große, orientalisch geschnittene, graue Augen, ein großer ausdrucksvoller Mund. Unter dem Kopftuch schaut eine Locke im damals modischen Styling und mit gewissem Witz hervor.

Es fand ein kurzes Kennenlernen statt, nachdem Lonja Nina mit gedämpfter Stimme von der Notwendigkeit zu überreden versuchte, sich am Morgen zur Arbeit zu begeben.

– Aber Sie haben doch beschlossen, Olga und mich morgen in der Lagerzone zu lassen. Wir müssen irgendwann unsere Wäsche waschen und Ihr Hemd auch, - versuchte Nina zu protestieren.

Doch Lonja war abgeneigt. Sie blickte missbilligend in meine Richtung und kehrte zu ihrem Platz zurück. Lonja und ich schwiegen. Ich fühlte mich äußerst unwohl. Alles hatte nicht so begonnen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Lonja war ebenfalls verstimmt. Wahrscheinlich hatte er eine derartige Reaktion von ihr nicht erwartet, und von mir ebenfalls nicht.

Schließlich erschien die Lagerleitung samt Ehefrauen und Kindern. Das Konzert begann. Aber die Gedanken waren weit entfernt, und ich wäre gern gegangen, wenn nicht der Auftritt Manikowskajas noch bevorgestanden hätte. Nach dem Konzert, auf dem sie eine Romanze gesungen und einige Verse zitiert hatte, die mir nicht gefielen, kehrten Lonja und ich in die Baracke zurück. Er wollte offen meine Meinung wissen. Doch meine Gedanken waren mit der Manikowskaja beschäftigt, und mir stand der Sinn überhaupt nicht nach seiner Nina, und was konnte ich denn schon nach der Kürze unserer Begegnung sagen. Nachdem Lonja meine Verfassung völlig falsch interpretiert hatte, verstummte er beleidigt.

Am Morgen der Weckruf. Eine große Absperrkette, etwas dreihundert Mann. Sie bringen uns in die Arbeitszone. Man kann ein wenig miteinander reden, halblaut versteht sich, ohne die Wachleute zu reizen. Aber das Gespräch läuft nicht. Frustriert über den gestrigen Streit mit Nina, schweigt Lonja mürrisch. Ich bin auch nicht geneigt zu reden, schon gar nicht morgens; als ich zur Arbeit ging, bemerkte ich Nina, wie sie aus der Bude des Arbeitsanweisers trat. Vielleicht habe ich mich auch geirrt, und sie war es gar nicht, denn es war noch etwas dämmrig, und zuvor hatte ich sie ja nur ein einziges Mal gesehen, und das auch nur flüchtig. Aber wenn sie es war, dann änderte das eine Menge. Auf jeden Fall entschloss ich mich damals, Lonja nichts davon zu erzählen, was passiert war. Um mich von den unangenehmen Gedanken abzulenken, zog ich aus der Tasche meines Überziehers einen kleinen Band mit Gedichten und fing, mich dem allgemeinen Rhythmus der Schritte anpassend, an, die «Briefe der schönen Dame» durchzulesen. Ich hegte die Hoffnung, dass sie auch dieses Mal die Anspannung nehmen und mich beruhigen würden. Doch das geschah nicht. Anstatt die wunderbaren Verse zu genießen, kehrte ich in meinen Gedanken immer wieder zu den mir bekannten Mädchen zurück. Keine von ihnen entsprach auch nur annähernd dem von Blok geschaffenen Muster: weder Rita Konchowa noch Nelja Soroka oder Ninel Manikowskaja. Dabei gefiel jede von ihnen mir auf irgendeine Art und Weise, irgendetwas in ihnen erregte mich und zog mich an. War vielleicht nur einfach die Zeit der Liebe gekommen?

Vermutlich hatte es in Bloks Umfeld Frauen gegeben, die der Schönen Dame ähnelten. Mir waren sie noch nicht einmal im Traum begegnet, und in den von ihm geschriebenen Versen erschienen sie mir zu abstrakt und erinnerten mich eher an eine Ansammlung zerbrechlicher, vertrockneter Schmetterlinge. Die Zeit hat die wunderschöne Zeichnung, die Verflechtung rätselhafter Linien und Farben verschont, aber es fehlte der Nervenkitzel des Lebens. Und auch das Ebenbild der Schönen Dame rief jetzt in mir ernsthafte Zweifel hervor. Von solchen Frauen konnte man nur träumen, es wäre wohl interessant gewesen sich mit ihnen zu unterhalten, doch sie waren wenig für ein langes und schwieriges Familienleben geeignet. Langsam, aber ständig, überwand ich in all den Jahren die Hypnose von Bloks Unbekannten.

Nachdem ich Kuprins „Die Grube“ gelesen hatte und herangewachsen war, begann ich dem fleischlichen Prinzip mehr Aufmerksamkeit zu schenken als zuvor. Die aus den Tiefen der Psyche aufsteigenden erotischen Vorstellungen ergriffen immer häufiger von mir Besitz. Heutzutage kennt sich selbst ein fünfzehnjähriger Heranwachsender besser auf diesem Gebiet aus als ich damals mit meinen beinahe fünfundzwanzig Jahren. In diesem Teil war die kommunistische Moral, obwohl sie auf materialistischen Prinzipien beruhte, nicht weniger asketisch als die katholische, und meine jugendliche Einstellung gegenüber der Frau. Über Probleme der Erotik wurde nicht nur nichts in Büchern geschrieben, man schämte sich darüber zu sprechen und sogar nur daran zu denken. Der Katholizismus meiner Kindheit ging ohne große Verformungen über in die Prinzipien der kommunistischen Moral und festigte sich darin. Und nun, erleuchtet durch die Autoren einst in unserer Familie verbotener Bücher, Erzählungen von Manikowskaja und eigenen Beobachtungen, war ich ziemlich besorgt über den Zusammenbruch alter Ideale und die Entstehung einer neuen Haltung gegenüber den Frauen. Eingebettet in diese Gedanken ging ich die schwarze, holprige Straße entlang, ohne das schmutzige Fluchen der Wachen und das Bellen der Hunde zu bemerken.

Die Kolonne bewegte sich durch ein spärliches Wäldchen. Birken, Espen, Sträucher. Die Zweige kahl, ohne Blätter. Nicht einmal Knospen waren zu sehen. Wir durchquerten das Bett eines kleinen Baches. Unter unseren Füßen knirschte wie Eis die feuchte Erde, vermischt mit dem Laub des vergangenen Jahres und dem Schnee, der am Morgen gefallen war. Dann verschwanden die Birken, und wir gelangten in dichte Espendickichte. Ein verlorener Ort, nach Meinung der Wachen geeignet für eine Flucht, den wir fast im Laufschritt, angetrieben von den Schreien und dem schmutzigen Fluchen der Begleitwachen, dem Klicken der Gewehrverschlüsse und dem Bellen der Hunde überwanden. Nach einer leichten Anhöhe drängte sich die Kolonne, die ein wenig aus der Reihe gekommen war, am Kontrollpunkt. Über eine halbe Stunde dauerte es, bis die Wachen ihre Plätze auf den Wachtürmen eingenommen hatten und durch Schlagen auf ein Eisenstück die Bereitschaft der Arbeitszone zur Empfangnahme der Gefangenen verkündete. Schließlich begaben sich Lonja und ich, nachdem wir den Durchlassposten passiert hatten, zusammen mit den anderen Häftlingen, die ohne Eile ihre Arbeitsplätze verließen (die Perrons, Holzstapel, Reparatur-Werkstätten), ins Flößerei-Kontor. Ein kleines mit Brettern gedecktes Häuschen. Zwei Zimmer und ein Lagerraum für Dokumente. Lonja wies mir sein Büro zu: ein kleines Fenster, ein langer, aus Holzbrettern gefertigter Tisch, zwei Sitzbänke. Auf dem Tisch ein Tintenfass und ein Packen Spezifikationen. Hierhin wurden mir ein Stapel Dokumente mit Lesezeichen an den notwendigen Stellen geliefert. Die Dokumente trug Nina. Sie trägt eine weiße Bluse mit einem arabesken Kragen und einen streng geschnitten Rock, der bis unter die Knie reicht. Auf Fragen antwortet sie einsilbig und sogar wütend, aber in ihren Augen liegt – Sehnsucht.

Das Mittagessen rückte heran. Die Mädchen begannen Kartoffeln zu braten, die sie höchstwahrscheinlich in den Baracken der Zivilangestellten erhalten hatten. Da ich nicht wusste, ob sie mich zum Essen hinzubitten würden und um mich nicht unter ihrem Appetit anregenden Geruch zu leiden, ging ich zum Ufer der Kama, zu einer einsam stehenden, traurig aussehenden Birke mit hässlich gebogenem Stamm. Wie ich bemerkte, eignete sich eine der Krümmungen als Sitzplatz. Nachdem ich mich niedergelassen hatte, zog ich mein Buch hervor. Doch lesen konnte ich nicht. All meine Gedanken rankten sich um die Manikowskaja und Nina.

– Ob sie es nicht doch gewesen war? Und warum fühlte sie sich dann, wie Lonja erzählte, durch die Aufmerksamkeit, die David Andrejewitsch ihr entgegenbrachte, bedrängt? Irgendetwas stimmte hier nicht. Um das beurteilen zu können, musste man alle Umstände der Angelegenheit erkennen. Ich kannte sie nicht, und sowieso war im Lager alles durcheinander. So viel Gewalt und Ungerechtigkeit – rechtfertigte ich Nina gedanklich.

Und zu der Zeit überredete Lonja Nina im Kontor hinauszugehen und mich zum Mittagessen zu rufen. Sie war empört:

– Warum denn schon wieder ich? Soll es doch jemand anders machen- oder Sie selbst. Und überhaupt – ich mag ihn nicht.

– Wie kommt das? – interessierte sich Lonja.

– Es ist mir klar geworden. Er geht hinter die Absperrkette, neben ihm der Wachsoldat, Hunde, und er liest. Und jetzt hat er sich auch wieder mit einem Buch auf einen Baumstamm gesetzt. Tut so, als ob er ein Gelehrter wäre.

– Er tut nicht so. Er liest immer viel, dafür raucht und trinkt er nicht. Und außerdem liebt er die Mathematik und kennt viele Gedichte – verteidigte mich Lonja auf nicht ganz logische Weise.

Nina, die sich mit der Notwendigkeit mich zu holen, abgefunden hat, murrt immer noch:

– Und was er für riesige Schnürschuhe angezogen hat!

– Na, daran trägt er nun keine Schuld, er hat so große Füße, – parierte Lonka, der langsam ärgerlich wurde.

– Und dann noch gelbe, – fuhr Nina fort, ohne auf Lonjas Unmut zu achten.

– Füße? – wunderte sich Lonja.

– Nein, Schuhe. Er ist generell widerwärtig. Verteildigen Sie ihn also nicht, – meinte Nina.

– Aber warum denn?

– Darum!

Später erfuhr ich, dass «darum» - ihre Lieblingsredensart war.

Das Mittagessen verlief schweigend. Als ich ihren eindeutig feindseligen, auf mich gerichteten Blick spürte, wurde ich verlegen und schwieg. Doch nach dem Mittagessen geschah etwas, die Atmosphäre entspannte sich. Sie merkte wohl, dass ich meine eigenen schwierigen Probleme hatte. Und schließlich ertönte, für mich vollkommen unerwartet:

- Zitieren sie ein paar Gedichte. Aleksej Nikolajewitsch sagt, dass Sie eine Menge kennen.

Selbstverständlich war ich einverstanden. Zuerst, wie gewöhnlich, Puschkin, Lermontow, Nekrassow. Dann Blok, Jessenin, Byron.

Wir saßen an Lonjas langem Tisch, mit den darauf herumliegenden Dokumenten-Ordnern. Durch das kleine staubige Fenster viel düsteres Licht. Nina, die Arme auf den Tisch gestützt und den Kopf in die offenen Handflächen gelegt, hörte aufmerksam zu, ohne irgendwelche Emotionen zu zeigen. Lonja war offensichtlich ungehalten, weil er der Meinung war, dass ich mich nicht mit den Dingen befasste, mit denen ich mich befassen sollte.

Bald darauf wurde er in einer dringenden Angelegenhiet hinausgerufen. Wir blieben allein zurück. Unmerklich gingen wir zu Themen unseres Lagerlebens über. Wie gewohnt öffnete ich mich und erzählte von meinen Beziehungen zu Nelja und Manikowskaja. Vor allem sprach ich über Nelja, vermutlich deshalb, weil meine Beziehungen ihr gegenüber reiner waren. Dann berichtete ich ein wenig von meiner Kindheit und Jugend.

Sie schwieg und war wachsam. Sie hörte mehr zu. Widerwillig beantwortete sie nur direkte Fragen, erzählte etwas über ihre Kinder- und Jugendjahre und hob dabei besonders ihre bäuerliche Herkunft hervor. Sie blühte ein wenig auf, als sie von ihrer Mitwirkung im Partisanentrupp und die Umstände ihrer Verhaftung berichtete. An ihrem ganzen Unheil beschuldigte sie einzig und allein Maly, der von Anfang an sämtliche Anspielungen auf die Verwerflichkeit des Aufbaus zurückgewiesen hatte. Am Anfang dachte ich, dass sie einfach nur Angst hätte politische Themen vor einem Fremden anzusprechen, doch schon bald begriff ich, dass dies die Ebene für ihr Verständnis dessen war, was sich ereignet hatte. Als Kind ihrer Zeit, prinzipielle Komsomolzin, die mit Leib und Seele dem sowjetischen Aufbau und den Kreml-Führern ergeben war, hatte sie, wie es mir damals schien, nichts begriffen. Ninel stand mir in dieser Hinsicht näher und war für mich besser verständlich.

Dafür war sie in allem, was die menschlichen Wechselbeziehungen betraf, zumindest im Gespräch mit mir, viel zurückhaltender und keuscher. Aber ihre offensichtliche Abgeneigtheit die Lagerzeit in ihrem Leben anzusprechen, war alarmierend.

Im Großen und Ganzen stellte sich heraus, dass ihre Seele im tiefsten Inneren für mich verschlossen war. Nicht der kleinste Durchlass. Man fühlte, dass ihre Gedanken und Gefühle mit völlig anderen Problemen befasst waren. An diesem ersten Tag unserer Bekanntschaft wollte sie sie mit mir nicht teilen.

Die nächsten zwei Tage änderten wenig an meinem Verständnis für ihre innere Welt. Es gelang keineswegs durch das Netz unserer Gespräche zu ihrer Seele vorzudringen, wenngleich unsere äußeren Beziehungen beinahe kameradschaftlich wurden. Irgendetwas quälte sie. Etwas für sie sehr Wichtiges, was ihr das Interesse zum Leben und zu allem, was um sie herum geschah, nahm. Auf meine Frage, wie Lonja und ich ihr helfen könnten, antwortete sie:

– Für mich gibt es keine Hilfe.

Bei meiner Rückkehr nach Stabnoje verhandelte ich mit Hilfe von Jakob Jakowlewitsch über Ninas Einweisung ins OLP-Krankenhaus. Sie war tatsächlich krank: starke nervliche Erschöpfung, Vitaminmangel, leichtes Fieber. Nun belastete mich eine neue Sorge. Fast täglich nach der Arbeit besuchte ich Nina, erkundigte mich nach ihrem Befinden, nach ihrer Stimmung. Ich brachte ihr auch Bücher mit. Mitunter, wenn es mir gelang etwas zu beschaffen, ein paar Leckereien. Und ganz bestimmt einen Gruß oder eine Notiz von Lonja, selbst dann, wenn es keine gab.

Bald darauf wurde mit der nächsten Etappe Olga Butenko von Golownaja nach Stabnaja geschickt. Sie sollte wegen ihrer Verbindung zu Kalinowskij außerhalb des Kuschmangortsker OLP geschickt werden. Kalinowskij konnte oder wollte das nicht verhindern. Ständig kam es zwischen ihm und dem Kommandanten der Militarisierten Wachen des Golowner Lagerpunktes Baschkirzew zu Konflikten. Jener konnte Kalinowskij selbst nichts anhaben und zahlte es dafür Olga heim. Auf Bitten Ninas sorgte er dafür, dass Olga in Stabnoje blieb, weil es ihre engste Freundin war, die durch Iwan Makarenko handelte.

Einen Monat später wurde Nina aus dem Krankenhaus entlassen, unter der Bedingung, sie für leichte Tätigkeiten mit einem verkürzten Arbeitstag einzusetzen. Auf meine Bitte hin trug Jakob Jakowlewitsch sie für Arbeiten in der Buchhaltung, in der Materialgruppe, ein. Später versetzte man sie zu uns zur Kartothek für die Produktionskonten. Ihr Tisch stand Rücken an Rücken zu Iwans und meinem, wenn man von der Eingangstür aus schaute, in der linken Ecke der Buchhaltung.

Sie wohnte jetzt in der Frauen-Sektion der des verwaltungstechnischen Personals. Die Sektion erinnerte an den Behandlungsraum einer Poliklinik. Mit Decken und Laken, die an den Kopfkreuzen der Pritschen aufgehängt waren, hatten die Frauen eine Art kleiner Abteil-Kabinen gebaut. In jeder dieser Kabinen standen zwei Betten – die beiden unteren benachbarten jeweils mit einem Hocker in der Mitte. Auf den Hockern Servietten und Toilettenartikel. An der Wand über den Hockern – aus Zeitschriften ausgeschnittene Bilder, mitunter auch Fotos. Die Aufseher zerstörten immer wieder die «Zigeuner-Wirtschaft», wie sie es nannten, rissen die Zelte, die hängenden Decken, herunter, doch sie tauchten unausweichlich erneut auf. Die Sehnsucht nach häuslicher Gemütlichkeit und der Möglichkeit für eine Privatsphäre waren stärker als die Drohungen der Aufseher und möglicher Strafen. In der Mitte der Sektion ein langer, aus Holzbrettern gefertigter, sorgfältig abgeschabter Tisch. Zu beiden Seiten ebenso lange Bänke. In der Baracke ist es immer sauber und im Rahmen der Lager-Möglichkeiten gemütlich.

In einer dieser Decken-Kabinen waren Nina und Olga untergebracht. Olja feudelte die Fußböden im Büro des Leiters von Stabnaja Schischin und in der Buchhaltung. Die ganze Zeit über fühlte sie Kalinowskijs Unterstützung. Regelmäßig, häufiger als mir lieb war, kam Rudi nach Stabnaja, angeblich, angeblich wegen Angelegenheiten, die die Registrierungs- und Verteilungsstelle betrafen. Er hielt sich dann bei Fedja Lutzew, was meine Abneigung ihm gegenüber verstärkte. Freilich verbrachte er alle Abende bei Nina. Ihr und Olga brachte er immer etwas mit. Von sich und Kalinowskij. An diesen Tagen standen auf ihrem Hocker, und mitunter auch auf Ninas Bürotisch, Blumen. Mich ärgerte das ganz besonders, so dass sie anfangs glaubte, dass ich Blumen nicht ausstehen könnte.


Kuschmangort, Lagerpunkt „Golownaja“, 1947
Ein Teil der Mitarbeiter der Buchhaltung des OLP. Alles Gefangene.
Ich befinde mich in der Mitte des Fotos. Neben mir im Militärhemd
Oberbuchhalter Jakob Jakowlewitsch Weber. Links neben ihm
- Arkadij Fedossewitsch Gaidajenko. Rechts neben mir, im weißen
Hemd, – Wassilij Wassiljewitsch Fedossejew. Vor ihm in der ersten Reihe,
ganz rechts, - Nina.

Wenn es Liebe im Lager gab, dann flammte sie meistens auf und verbrannte wie ein Meteorit. Die Beziehungen zwischen Nina und mir entwickelten sich nach Lagermaßstäben zu urteilen äußerst langsam. Es vergingen Tage, Wochen, Monate. Das Frühjahr ging zu Ende, der kurze nordländische Sommer begann. Nina hatte sich, wie mir schien, vollständig erholt, hatte ein frischeres Aussehen bekommen, lächelte häufiger und machte Witze. Jetzt arbeitete sie den ganzen Tag über. In der Anfangszeit hatte mich die Notwendigkeit, mich um sie zu kümmern, ein wenig belastet, war aber allmählich zur Gewohnheit geworden. Ich teilte mit ihr meine Probleme und Erlebnisse, berichtete ihr darüber, wie sich die Beziehungen zwischen Nelja und Manikowskaja entwickelten. Ihre Angelegenheiten wollte sie hingegen mit mir nicht erörtern. Dafür hatte sie Olja. Abends – wir blieben oft sehr lange -, wenn ich sie von der Arbeit zur Baracke begleitete, küsste ich sie zum Abschied auf die Stirn. Für mich war es so etwas wie ein väterlicher Kuss. Sie war der Ansicht, dass nur Verstorbene so geküsst werden, sagte mir davon aber nichts, sondern duldete es.

Die ganze Zeit versuchte ich, die Rolle von Lonjas Vertrautem zu spielen. Ich lenkte oft die Gespräche auf ihn. Aber Nina unterstützte sie nicht, und einmal meinte sie:

– Was redest du andauernd über Aleksej Nikolajewitsch? Er und ich waren lediglich drei-vier Monate miteinander bekannt, und auch nur während der Arbeit, er hat inzwischen längst eine Freundin – eine Krankenschwester aus der Siedlung.

Das kam für mich völlig unerwartet. Lonja hatte mir davon nichts gesagt, obwohl er in der letzten Zeit tatsächlich aufgehört hatte, sich für Ninas Belange zu interessieren.

– Wer hat dir das gesagt? – Kalinowskij hat es Olga erzählt, und er wird nicht lügen.

– Aber ihr habt euch doch sogar geküsst, das hat mir Lonja selbst erzählt, und er hat mich auch nie angeschwindelt.

– Wir sollen uns geküsst haben? Das ist nie geschehen. Obwohl – ein paarmal auf die Wange hat er mich geküsst, so wie du auf die Stirn.

Dieser Übergang zum «Du» blieb von mir nicht unbemerkt.

Freilich hatte Ninas Abfahrt aus Golownaja Lonja in gewisser Weise die Hände im Kampf gegen Kalinowskij gebunden, was er, wie mir bekannt war, erfolgreich ausnutzte. Mit seinen Gefühlen für Nina war er wohl nicht sehr weit gegangen. Die paar Küsse, von denen er mir einst erzählt hatte, hatten in seiner Seele keine merklichen Spuren hinterlassen. Mit diesen Überlegungen beruhigte ich bis zu einem bestimmten Maß mein Gewissen. Denn es viel mir immer schwerer, die Rolle des Beschützers auszuüben. In dem Maße wie ich mich Nina annäherte, kühlte meine Beziehung zu ihm ab. Eineinhalb Jahre später wurde er freigelassen und heiratete tatsächlich die zivilangestellte Krankenschwester aus der Siedlung. Bald darauf reisten sie in die Ukraine ab.

Die Beziehung zwischen Nina und mir entwickelte sich und radierte nach und nach meine Gedanken an Nelja und die Manikowskaja aus. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern als ihre Addierbuchungsmaschine kaputt ging. Sie brachte sie in Webers Büro, welches ich in diesen Tagen wegen Jakow Jakowlewitschs Abreise nach Solikamsk einnahm.

– Was soll ich jetzt nur machen? – fragte sie, wobei sie das defekte Gerät vor mich auf den Tisch stellte. Nachdem ich es hin und her gewendet hatte, schraubte ich mit einer Zange und einem Schraubenzieher alles ab, was möglich war, zog die Achse heraus, woraufhin der gesamte Inhalt des „Felix“ in Rädchen und Zahnräder zerfiel. Nina rief erschrocken:

– Na, das war’s. Jetzt lässt es sich nicht mehr reparieren.

– Selbstverständlich mache ich es wieder heil, - entgegnete ich zuversichtlich.

– Nein, das ist unmöglich, – beharrte Nina.

Ich schlug eine Wette vor: wenn ich es wieder hinkriege, werde ich sie küssen.

Selbst heute wundere ich mich noch, mit welcher Hartnäckigkeit ich den „Felix“ wieder zusammenbaute. Und dann kam mein wohlverdienter Kuss. Ein Kuss direkt auf die Lippen. Ich tat mein Bestes, um diese Episode wie einen Scherz aussehen zu lassen, aber für Nina blieb das anscheinend nicht unbemerkt. Auf jeden Fall hörte sie seit dem Tag auf, meine Gespräche über Nelja und Ninel zu unterstützen.

Bald darauf mischte sich Olga ein, die mir vorwarf, ein unehrenhaftes Spiel mit Nina zu treiben: ohne Liebe würde ich ihr nur blauen Dunst vormachen. Sie bat und forderte, dass ich entweder mit meiner Flirterei aufhörte oder unserer Beziehung eine entschiedenere Form verlieh.

– Du weißt wahrscheinlich, dass Nina bereits seit zwei Monaten jede Begegnung mit David Andrejewitsch meidet und von ihm keinerlei Hilfe mehr annimmt? – fragte sie.

– Nein, das weiß ich nicht. Ich sehe nur, dass er ab und zu in Stabnaja auftaucht. Wenn Nina ohne ihn nicht leben kann, soll sie es sagen, dann werde ich ihr bei der Rückkehr nach Golownaja helfen. Dann kann sie dort Erbarmen mit ihm haben.

– Du Dummkopf! – empörte sich Olga. – Zwischen ihnen ist nie irgendetwas gewesen und jetzt erst recht nicht. Und im Übrigen ist David Andrejewitsch ein sehr ordentlicher und seriöser Mann. Nicht so einer wie du. Du hast deine drei „N“ durcheinander bekommen und verwirrst ihnen den Kopf.

Nina, die von unserem Gespräch erfahren hatte, zeigte sich sehr verärgert und bat darum, zur Material-Gruppe zurückkehren zu dürfen. Wir fingen an zu streiten und sprachen dann nicht mehr miteinander. Meine abendliche Begleitung und die väterlichen Küsse nahmen ein Ende. Nd da fühlte ich, wie sehr mir der Umgang mit ihr, ihr Lächeln mir fehlten. Schon über eine Woche saß sie neben mir, am Nachbartisch, trug irgendetwas in ihre Karteikarten ein, beantwortete Fragen, welche die Arbeit betrafen, doch ihr Gesichtsausdruck blieb traurig und zerstreut. Ich hielt es nicht länger aus und schrieb ihr einen Zettel:

Wenn ich mir dein Lächeln ansehe,
scheint es mir, dass durch die aufgebrochenen Wolken
Mir wieder freudig die Sinne entgegenlacht,
Und in mein Herz einen warmen, sanften Lichtstrahl schickt.

P.S. Ich bitte dich, lächle mich an!

Sie las den Text durch und brachte ein bedauernswertes, leidvolles Lächeln hervor. Ihre Wangen zitterten, Tränen traten in ihre Augen, und sie rannte aus der Buchhaltung. Die Aussöhnung verlief langwierig und schwierig. Vermutlich deshalb, weil keiner von uns dem anderen irgendwelche Versprechungen machte; wir beide waren vollkommen frei in unseren Gefühlen und gleichzeitig eifersüchtig: sie auf mich – wegen Nelja und der Manikowskaja, ich auf sie – wegen David. Wir waren eifersüchtig, konnten aber unsere Kränkungen nicht in heftigen, die Seele erleichternden Worten ausdrücken und uns versöhnen.

Anfang August traf ein Brief von Lalja ein. Ein blauer Dreiecksbrief, zusammengeklebt aus dem Umschlag eines Schülerschreibhefts und am oberen Rand durch die Zensur geöffnet. Gebracht wurde er vom Diensthabenden während der Mittagspause, direkt in die Buchhaltung. Das war äußerst ungewöhnlich und alarmierend. Mein Herz zog sich voller Besorgnis zusammen.

Nachdem ich mich zum Fenster gewandt hatte, damit die anderen meinen Gesichtsausdruck nicht sahen, nahm ich die doppelt gefalteten und mit Laljas Handschrift beschriebenen Seiten des Schulheftes heraus. Mehrere von der Zensur durchgestrichene Zeilen fielen mir ins Auge. In der rechten oberen Ecke das Datum: 10. Mai 1946. Auch merkwürdig: früher hatte Lalja, im Gegensatz zu Ernotschka, ihre Briefe nicht mit einem Datum versehen. Dann einige unbedeutende Sätze. Wie ein Blitz kam mir der Gedanke: vielleicht machst du dir umsonst Sorgen. Aber nein, da stand es:

– Mein liebes Brüderchen, – schrieb Lalja, – etwas irreparables ist geschehen: am 6. Mai ist unsere Mamotschka verstorben. Es folgten nähere Einzelheiten, aber ich las sie nicht, ich konnte sie nicht lesen, weil ich immer und immer wieder nur diese zwei Zeilen las.

Die Sonne strahlte ins Fenster, aber mir kam es so vor, als wenn die Nacht hereingebrochen war. Das war’s! Nichts war hier zu korrigieren, nichts mehr zu ändern. Mamas Worte, dass wir uns hier im Erdenleben nicht wiedersehen würden, Worte, die sie bei meiner Verhaftung ausgesprochen hatte, hatten sich als Vorhersehung erwiesen. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich einen tiefen Schmerz in meinem Herzen. Ich muss wohl aufgestöhnt haben, denn Nina fragte besorgt: was ist passiert? Ich antwortete nicht. Ich wollte nicht reden. Tränen traten in meine Augen, meine Kehle verkrampfte sich.

Wie viel Zeit verging – ich weiß es nicht. As ich mich schließlich ein wenig beruhigt hatte, konnte ich weiterlesen. Lalja schrieb, dass Mama nur ein paar Tage krank gewesen war, eine Art Tularämie. Sie verlor das Bewusstsein, schlug im Delirium um sich und rief meinen Namen. Als sie erwachte, fragte sie, ob nicht ein Brief von mir gekommen sei. Sie erlebte ihn nicht mehr. Er traf zwei Tage nach ihrem Tod ein. Es fiel mir schwer, mir das zu verzeihen. Schließlich hatte ich hier, in Kuschmangort, die Möglichkeit, wenigstens einmal die Woche einen Brief zu versenden. Aber ich hatte es nicht getan. Wie es bei vielen der Fall ist, hatte ich nur wenig Zeit, um mit meinen Angehörigen zu kommunizieren. Ich war der Ansicht, dass sie es verstehen und warten würden. Aber der Tod wartete nicht, er hatte kein Erbarmen. Vieviele Male hatte ich mich in diesen vier Lagerjahren gedanklich an meine Mutter gewandt, mich beruhigt, dass ich sie irgendwann nach meiner Freilassung, sofern ich überleben würde, um sie kümmern und für sie sorgen würde. Ich würde ihr ein stilles und ruhiges Alter bereiten. Ich erinnere mich noch, wie ich in meiner Kindheit, als wir noch in Tambow bei dem «Buckligen» wohnten, davon geträumt hatte, einmal Ingenieur zu werden, einen Radiosender, ein Haus, eine Datsche zu bauen, um meiner Mama alles zu zurückzugeben, was sie nach Papas Tod verloren hatte. Es stellte sich also heraus, dass es mir nicht beschieden war, diesen Wunsch, wenn auch nur teilweise, wenn auch nur ein klein wenig, zu realisieren. Die Gedanken schwirrten herum, und ich stellte mir die Bilder ihres schweren, freudlosen Lebens vor.

Doch wie düster ich sie mir auch vorstellte, die Realität war noch viel schlimmer. Nach meiner Verhaftung hatte Mama unseren Teil des Hauses verkauft. Ein Drittel des erhaltenen Geldes hatte sie Ernotschka gegeben, ein Drittel – Lalja, und für das letzte Drittel hatte sie ein paar Goldmünzen für mich erstanden und im Futter ihrer alten, noch aus vorrevolutionärer Zeit stammenden Tasche verwahrt. Darin hatte sie auch Laljas und meine Kinderfotos aufgehoben: ich glattgekämmt und mit Krawatte, Lalja mit einer großen Schleife im Haar.

Bald darauf fuhren Ernotschka, Lisa, Adjuscha und Holdi zu Petjas Vater in irgendein entlegenes, gottverlassenes Dorf namens Sarabalyk im Gebiet Nowosibirsk. Mama zog nach Pady, wo Lalja unterrichtete. In der ersten Zeit wohnte Lalja mit den Kindern und der Mutter bei Igor. Doch es dauerte nicht lange, bis Sofia Wladimirowna, die eine Abneigung gegen Mama empfand, weil sie ihrer Meinung nach als Deutsche am Tod ihrer beiden Söhne Oleg und Slawa an der Front schuld war, sie in ihrem Haus nicht mehr sehen wollte. Lalja weinte, und Mama reiste mehrmals nach Tambow, um dort bei Bekannten Unterschlupf zu finden. Während einer dieser Fahrten riss man ihr ihre alte Tasche mit den Münzen und den Fotografien aus den Händen. Dieser Vorfall ließ sie endgültig zerbrechen. Das Leben verlor für Mama seinen Sinn. Schließlich brachte Lalja sie bei bekannten alten Leuten in Pady unter und kaufte ihr von dem Geld, das Mama noch verblieben war, eine Ziege. Während des Sommers hütete und molk Mama sie und bezahlte für ihre Unterbringung mit Milch. Doch dann kam der Winter, es gab kein Futter, und die Ziege verendete. Und Mama blieb ohne jede Existenzmittel zurück. Die alte, schutzlose Frau, die nicht für sich allein aufkommen konnte und wollte, die niemals irgendjemandem ein böses Wort gesagt hatte, stand am Ende ihres Lebens völlig allein da, ohne Lebensunterhalt, ohne Ziele und Hoffnungen. Lalja unterstützte die Mutter ohne Wissen der Schwiegermutter, doch ihre Möglichkeiten waren äußerst begrenzt. Begraben wurde Mama auf dem Friedhof in Pady. Ich erinnere mich, wie ich, nachdem ich nach meiner Entlassung zu Lalja gefahren war, an dem kleinen Hügel stand, auf dem sich ein durch schlechtes Wetter nachgedunkeltes Holzkreuz erhob. Bittere Tränen der Reue brannten auf meinen Wangen. Aber man konnte schon nichts mehr ändern.

Die Tage und Wochen vergingen. Der Schmerz kam allmählich zur Ruhe, die Wunde verheilte. Die alltäglichen Sorgen und Wirren, trugen wie Sand, Schicht für Schicht, die Vergangenheit davon. Meine Beziehung zu Nina, die mir in diesen schweren Tagen Fürsorge und Feingefühl entgegenbrachte, wurde milder und aufrichtiger. Um sie zu schonen, versuchte ich in unseren Gesprächen weder Nelja noch Manikowskaja zu erwähnen. Und dennoch brachte es erst die eine, dann die andere, fertig, unsere mit Mühe zustande gekommene Beziehung zu zerstören, obwohl sie es wahrscheinlich beabsichtigten.

Sie rief einmal gegen Ende des Sommers Nelja an und verkündete mit geheimnisvoller Stimme:

– Meine Freundin und ich kommen jetzt in die Buchhaltung. Ich werde eine Nelke im Knopfloch meiner Jacke tragen, – und legte den Hörer auf.

Ich beschloss, Nina über den bevorstehenden Besuch nichts zu sagen. Ich dachte sie würde es nicht bemerken. Schließlich würde Nelja nicht zu mir kommen. Doch es ging nicht so aus, wie ich angenommen hatte.

Als die Tür aufging und die beiden Mädchen zu uns in die Buchhaltung traten, versuchte ich, da ich die Blume noch nicht gesehen hatte, zu erraten, wer wohl Nelja sei. Nicht sehr groß, gut gebaut, dunkle, lockige Haare, braune Augen. Sie warf einen Blick in meine Richtung und wandte sich dann an den neben der Tür sitzenden Fedossejew. Von seiner weichen, lieblichen Stimme erschauerte ich und begann unwillkürlich rot zu werden. Gesicht, Ohren, Hals erröten langsam und unüberwindlich. Ich hasste mich dafür, konnte aber nichts dagegen unternehmen. Nina, die mit dem Rücken zur Tür saß, fragte, als sie mein Erröten bemerkte:

- Das ist Nelja, oder?

Überrascht von ihrer Intuition nickte ich mit dem Kopf und wandte mich zum Fenster. Warum war ich nur so rot geworden? Worin lag meine Schuld und vor wem war ich schuldig? Doch nicht vor Nina. Schließlich hatte ich ihr doch alles erzählt, nichts verborgen, nichts versprochen. Auch vor Nelja empfand ich keinerlei Schuldgefühle. Und ich hatte ihr nichts versprochen und konnte das ja auch keineswegs. Mehr noch, unsere Telefonate hatten bald nach Ninas Auftauchen in Stabnoje aufgehört. Eine vollkommen lächerliche Situation, aber erklären konnte ich sie Nina nicht, und ihr blieb noch lange ein unangenehmer Nachgeschmack auf der Seele zurück.

Mit der Manikowskaja kam es noch schlimmer. Ungefähr Mitte Oktober, während des Aufenthalts der Kulturbrigade in Stabnoje, betrat sie Jakob Jakowlewitschs und mein Büro und bat darum, ihr meine Uniformjacke für den abendlichen Auftritt zu geben. Woher ich ihn hatte, erinnere ich nicht mehr. Sie versprach, ihn am frühen Morgen zurückzugeben, gleich nach dem Morgenappell, denn anschließend sollte die Kulturbrigade, nach ihren Worten, zum Lagerpunkt Traktowy aufbrechen.

Ich wollte sehr gern mit ihr sprechen, und es machte mir nichts aus, umso mehr als Jakob Jakowlewitsch sich nicht in Stabnoje aufhielt und Nina nie morgens früh bei uns im Amtszimmer auftauchte. Selbstverständlich sagte ich ihr auch diesmal nichts von der bevorstehenden Visite.

Am Morgen, als der erste Schlag auf dem Schienenstück ertönte, sprang ich auf, wusch und kämmte mich, machte mein Bett, setzte mich auf den Hocker und begann, nachdem ich eine saloppe Haltung eingenommen hatte zu warten. Bald darauf ertönte ein leises Klopfen. Ich rif in freudiger Bereitschaft:

– Ja, kommen Sie herein.

Die Tür ging auf und herein trat Nina ... Ich erstarrte, wusste nicht, was ich denken, und vor allem was ich sagen sollte.

– Wo willst du denn so früh schon hin? – fragte Nina.

Während ich fieberhaft darüber nachdachte, was ich jetzt tun sollte, klopfte es erneut. Wieder sagte ich:

– Ja, kommen Sie herein, – allerdings lagen nun in meiner Stimme Sehnsucht und Untergang. Herein trat die Manikowskaja mit meiner Uniformjacke in der Hand. Allgemeine Verwirrung. Eisige Begrüßung. Schließlich ging Ninel wieder, nachdem sie sich für den erwiesenen Dienst bedankt hatte. Nina und ich blieben zu zweit zurück. Der schüchterne Versuch sich mit ihr auszusprechen, wurde unerwartet zu einer Liebeserklärung. Endlich sprach ich das für mich so schwierige Wort «Liebe» aus. Und hier hätte ich aufhören sollen, aber ich konnte nicht. In einem jähen Ausbruch gab ich ihr zu verstehen, wie sehr mich ihre Begegnungen mit Rudi gequält hatten. Jetzt war ihre Zeit der der Rechtfertigung gekommen. Sie versicherte mir, dass es zwischen ihm und ihr keine körperliche Annäherung gegeben hatte, dass David Andrejewitsch einfach ein sehr guter Mensch sei, dass sie seine Besuche nicht unterbinden könne. Ich hörte zu, nickte und dachte selbst an den Morgen, als sie aus seinem Büro gekommen war. Dazu befragen wollte ich sie nicht. Ich fürchtete, von einer Täuschung überzeugt zu werden.

Im Großen und Ganzen waren meine Gefühle gegenüber Nina von den ersten Tagen an mit Eifersucht gemischt. Eifersucht wegen David, Lonja, wegen ihrer gesamten Lager- und nicht nur Lager-Vergangenheit, in der es, wie ich vermutete, auch noch andere Männer gegeben hatte. Das, was ich ihr gegenüber fühlte, unterschied sich deutlich von dem, was mir an der Manikowskaja imponiert hatte. Wenn es mich im Umgang mit letztgenannter zu Streitgesprächen, zur Diskussion politischer, moralischer und ethischer Probleme hinzog, und ich in diesen Auseinandersetzungen vergaß, dass meine Gesprächspartnerin eine Frau war, so zog mich bei Nina gerade die Tatsache an, dass sie eine Frau war. Sie begeisterte sich nicht für Poesie oder klassische Musik. Philosophische, ästhetische und ethische Fragen rührten sie nicht. Politische Gespräche mied sie offenkundig. Entweder, weil sie sich davor fürchtete, oder, weil sie mit mir nicht in unausweichliche Streitigkeiten darüber geraten wollte. Dafür war sie mild, feinfühlig, nachgiebig und sehr empfindsam gegenüber fremdem Kummer und Leid. Mit ihr konnte ich über meine Schwächen reden, ohne verspottet zu werden. Und ich musste nicht, wie im Umgang mit Manikowskaja, so tun, als ob ich stark, männlich und klüger war, als es tatsächlich der Fall war.

Mit Nina konnte man sich entspannen, mit ihr ging es ruhig und gemütlich zu, wenn nicht der Schmerz der Eifersucht gewesen wäre. Etwas Häusliches, Familiäres ging von ihr aus. Später begriff ich, dass diese Einschätzungen in gewisser Weise nicht ganz der Wahrheit entsprachen. Ihr Charakter erwies sich als härter, als es mir damals vorkam, sie las viel und mit Begeisterung, sog mit Leichtigkeit in sich auf, was in meinen geliebten Büchern geschrieben stand, und ihre ästhetischen Empfindungen waren hinreichend entwickelt.

Wir versöhnten uns. Alles war gut. Abends, wenn Olja den Fußboden in Schischins Büro aufgewischt und Nina ihr dabei geholfen hatte, kam ich vorbei, um sie bis zur Baracke zu begleiten. Dort, in dem kleinen, engen Flur, der zum Büro führte, standen wir lange, schmiegten uns aneinander, und unsere Küsse waren echt und warm und ein Zittern erfasste den Körper.

Unser stilles Glück wurde durch einen Brief Davids zerstört, den Nina im November erhielt. Geschrieben in ungelenken Buchstaben mit zahlreichen orthografischen Fehlern (er konnte schlecht Russisch), war er durchdrungen von einer solchen Ladung an Liebe und Zärtlichkeit und ebenso viel Sehnsucht und Trauer, dass ich völlig verwirrt war. Nina, die selbst darauf bestand, dass ich ihn las, weinte still vor sich hin.

Wie wir aus dem Brief verstanden, hatte man David aufgrund einer Anordnung – er wusste nicht von wem – die Möglichkeit genommen, Stabnoje zu besuchen und Nina zu sehen. Später stellte ich fest, dass Iwan dies auf Jakob Jakowlewitschs Bitte hin veranlasst hatte, der es, wie er es ausdrückte, leid war, meine Gemütsregungen zusehen.

– Wie sehr kann man sich selbst und Nina quälen, – warf er mir vor. – Man muss eine Entscheidung treffen. Schließlich bist du nicht Turgenjew und Nina nicht die Viardot, und ihr befindet euch nicht in Paris, sondern in einem echten Lager. Hier muss man schnell Liebe machen und vor allen Dingen im Bett. Aber ihr wartet so lange, bis man euch in verschiedene Lager-Außenstellen auseinandertreibt.

Wie dem auch sei, auf mein Betreiben wurde das Verbot aufgehoben, und schon bald darauf erschien David Davidowitsch erneut in Stabnoje. Wie ich mich jetzt erinnere, betritt der diensthabende Friseur die Buchhaltung und reicht Nina eine Notiz von David. Darin die flehentliche Bitte in den Friseurladen zu kommen und die Drohung, sich andernfalls mit dem Rasiermesser entweder die Venen oder die Kehle durchzuschneiden.

Nina, erschrocken von der Drohung, versucht loszurennen, um ihn zu überzeugen, zu beruhigen. Ich lasse sie nicht. Der Diensthabende kommt wieder und wieder. Er berichtet, dass David Schnaps getrunken hat, stark betrunken ist, in seinen Händen das Rasiermesser hält, mit dem der Friseur normalerweise den Leiter des OLP rasiert, dass er niemanden an sich heranlässt und immer nur stöhnt: Nina, Nina, Nina. Bald darauf kam Olga angelaufen und flüsterte Nina aufgeregt etwas zu. Schließlich mischt Jakob Jakowlewitsch in die Angelegenheit ein. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er Nina bei der Hand, führte sie aus dem Büro und schloss die Tür von außen. Nachdem er in die Buchhaltung zurückgekehrt war, rief er mich in sein Kabinett und verkündete in einem Ton, der keine Einwände zuließ:

– Du wirst bei Nina schlafen, und ich übernachte hier im Büro. Und jetzt an die Arbeit. Ich erinnere mich nicht, wie die Geschichte mit David dieses Mal ausging, aber ich ging nicht in die Kabine, sondern verbrachte die Nacht mit Jakob Jakowlewitsch in der Sanitätsabteilung. Danach entwickelte sich meine Beziehung zu Nina mit unterschiedlichem Erfolg.

An mir nagten immer wieder Zweifel. Mal die Eifersucht, mal der Verdacht des Selbstinteresses. Ich begriff, dass es für sie sowohl geistig wie materiell schwierig war. Ein paarmal schob ich Geld unter die kleine Tischdecke auf dem Hocker. Manchmal ließ ich auch Lebensmittel darauf liegen. Später versuchten und Olja und Nina herauszufinden, wer das getan hatte: ich oder Kalinowskijs und Rudis Leute. Ich verneinte es, aber der Gedanke, dass Nina im Prinzip Davids Handzettel benutzen könnte (falls nicht ich das Geld und die Lebensmittel hingelegt hätte), brachten mich auf, und ich schmollte oft lange über Nina und besonders über Olja, die ich für Rudis Komplizin hielt.

Das neue Jahr näherte sich, und David Andrejewitsch tauchte erneut in Stabnoje auf. In diesen Tagen hatten Nina und ich eine Reihe von Streitereien, und sie kam, weil sie sich schlecht fühlte, nicht aus der Baracke. Jakob Jakowlewitsch und einige seiner engsten Freunde, naja, und auch ich natürlich, feierten das neue Jahr in unserer Kabine. Unter den Gästen befand sich auch eine erst unlängst mit einer Etappe eingetroffene junge, äußerst hübsche und hellhäutige


Kuschmangort 1947
Ich, Nina und Jefimtschik

 
Kuschmangort 1947
 Olja, Nina und Nastenka –
ihre Freundin aus dem Lager

Jüdin, Studenten der philologischen Fakultät der Staatlichen Moskauer Universität. Durch die Einladung erhoffte sich Jakob Jakowlewitsch, der genug von Ninas und meine Zwistigkeiten hatte, dass wir auf Grundlage allgemeiner Interessen zur Literatur zueinander finden würden. Sie war, ebenso wie ich, wegen antisowjetischer Agitation unter den Studenten verhaftet worden, allerdings bereits in den Nachkriegsjahren. Aber sie gefiel mir nicht. Sie war einfach zu schön und hell, viel zu anmaßend. Aber die Hauptsache war, dass ich ja schon Nina liebte und sie für eine Vertraute hielt.

Als es zwölf schlug, stand ich auf, um zu Nina zu gehen und ihr alles Gute für das neue Jahr zu wünschen. Auch Jakob Jakowlewitsch kam mit. Und dann sind wir in der Frauenbaracke. Auf dem Tisch ein kleiner Tannenbaum und zwei Kerzen. In den Zeltkabinen männliche Gestalten. Ganz in der Ecke, in der Nina und Olja untergebracht waren, stand David, sich auf die oberen Querstücke der benachbarten Wagonki stützend. Als erster trat Jakob Jakowlewitsch heran, drängte David beiseite und betrat die halbdunkle Kabine. Er küsste Nina und beglückwünschte sie zum neuen Jahr. Dann kam ich an die Reihe. Als ich aus der Kabine trat berührte David mich an der Schulter und meinte mit leiser, rauer Stimme:

– Warte, wir müssen reden.

Und dann gehen wir auf unserer Lagerallee – der Trennungslinie. Der Mond scheint, der Schnee knirscht, der Frost beißt in den Ohren. David redet, ich höre zu. Seine Motive sind die gleichen wie bei Olga. Er ist der Ansicht, dass ich Nina nicht wirklich liebe, sondern mich nur amüsiere und sie dann sitzenlasse. Aber er würde ihr auch nach seiner Freilassung treu sein und ihr eine Existenz ohne Elend sichern. Noch viele andere Dinge sagte er mir damals, bat mich, mich von Nina fernzuhalten und sie nicht mit meinen Gedichten betrunken zu machen.

In meinem Kopf gibt es nur einen Gedanken, eine Frage – habe ich mit Nina geschlafen oder nicht? Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich ihm diese Frage stellte. Das ist niederträchtig, das ist nicht männlich. Aber die Eifersucht macht aus den Menschen etwas anderes. David zeigte sich edler als ich: er ging hinaus, ohne auf die Frage geantwortet zu haben. Was blieb mir nun zu denken? Ich verlor mich im Rätselraten und quälte mich mit verschiedenen Vermutungen.

Zwei Wochen verflogen in der Hetze des jährlichen Rechenschaftsberichts. Am Zwölften reiste Jakob Jakowlewitsch mit einer Aktentasche, gefüllt mit Buchhaltungsunterlagen, nach Solikamsk, und am Dreizehnten beschlossen Jefimtschik, Wasja Sereda, Wasja Schindin und ich das alte Neue Jahr zu feiern. Als materielle Grundlage für unser Treffen diente ein Paket, welches Schindin erhalten hatte und dessen Inhalt er beim Aufseher gegen eine Flasche Wein eingetauscht hatte. Wir überredeten Nina ebenfalls zu kommen.

Aus unserem Unternehmen kam jedoch nichts Gutes. Wasja Sereda, der mich offenbar verärgern wollte, begann Nina offen zu umwerben und versuchte sie zu küssen. Jefimtschik, der Nina sich Nina gegenüber sehr respektvoll verhielt und sie, ebenso wie ich, bedauerte, wies ihn zurecht. Wasja Schindin grämte sich, dass nicht genügend Wein vorhanden war, obwohl er eigentlich der Einzige war, der trank. Ich war verschlossen, konzentrierte mich auf meine Gedanken an Mama. Nina, wie sie später erklärte, empört über Wasja Seredas Benehmen und beleidigt über meine Gleichgültigkeit gegenüber seinem Verhalten, verabschiedete sich und ging. Ihr folgten nach und nach auch die anderen.

Entgegen meiner Gewohnheit legte ich mich früh schlafen. Ich löschte das Licht. Ins Fenster schienen die Wachlichter der Lagerzone. Es war kühl. An frostigen Tagen kühlte die Kabine sehr schnell aus. Ich wickelte mich in meine Decke und dachte über das Geschehene nach. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich Wasja nicht zurechtgewiesen, Nina nicht zurückgehalten hatte. Schließlich wäre heute ein guter Tag für eine Versöhnung gewesen. Nun musste ich mich erneut rechtfertigen.

Ein leichtes, schüchternes Klopfen an der Tür brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Wer konnte das denn sein? Das Nachtsignal war doch schon längst ertönt. Ob das etwa Nina war? So etwas zu riskieren!

Sie war es tatsächlich.

– Kann ich reinkommen, schläfst du noch nicht?

– Freilich! – stieß ich hastig und voller Freude aus.

Sie zog ihre Wattejacke aus und ordnete, ohne Licht zu machen, die Dinge, die auf dem Tisch lagen.

– Dieses Geschirr kannst du wegwerfen. Es gibt eh kein warmes Wasser, um es abzuspülen.

Sie setzte sich brav hin, legte ihre Hände auf die Knie. Ich erwartete Vorwürfe, doch sie schwieg.

– Willst du dich vielleicht hinlegen? – Ich versuchte diesen Satz so ruhig wie möglich hervorzubringen, als ob er nichts besonderes besagte.

Sie legte sich hin. Sie lag auf der Decke, in ihrem Kleid, so wie sie war. Nur die Filzstiefel zog sie aus. Ich daneben, unter der Decke. Und wieder Schweigen.

Mit Mühe kam es aus mir heraus:

– Vielleicht ziehst du das Kleid aus und legst dich unter die Decke – es ist kalt.

Ich sage es, aber es erschüttert mich, und mein Herz fällt in einen Abgrund. Nur gut, dass es in der Kabine dunkel ist und Nina mein Gesicht nicht sehen kann.

Ruhig und ohne ein Wort zu sagen, stand sie auf und begann ihr Kleid auszuziehen. Es zog sich in die Länge, als wäre es etwas Gewohntes, Häusliches und wir schon seit hunderten von Jahren zusammenwären. Sie öffnete den Reißverschluss auf ihrem Rücken. Ich half ihr schnell, und meine Finger zitterten. Und dann lag sie schließlich wirklich neben mir. Nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet. Sie schmiegte sich an mich und weinte.

Am Morgen in der Buchhaltung gab ich ihr einen Zettel mit einem Vierzeiler:

Am Anfang ein leises Klopfen,
Nun bist du in mein Leben getreten,
Und in meine verwirrte Seele
Hast du Wärme und Freude gebracht.

Seit der Zeit haben wir, mehr als vierzig Jahre lang, gemeinsam das neue Jahr nach altem Stil gefeiert, als wenn es unser Hochzeitstag wäre.

 

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