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Robert Maier. Das Schicksal eines Russland-Deutschen

Teil II
Hinter Stacheldraht

Kapitel 14. Trennung

Nach dem Ende des Krieges vergingen etwa zwei Jahre. Der große Sieg, den das sowjetische Volk errungen hatte, stärkte die Autorität des Landes und erweiterte die Sphäre seines politischen Einflusses in bedeutender Weise. In einer Reihe der von uns befreiten Länder wurden prokommunistische Regime bekräftigt. Dort, aber nicht nur in den besetzten Gebieten Deutschlands und Österreichs, blieben unsere Truppen zurück. Das Land hatte mit der Abrüstung keine Eile. Fabriken und Schiffswerften produzierten auch weiterhin Waffensysteme: Panzer, Flugzeuge, Schiffe. All das erschwerte unsere Beziehungen mit denen, die noch kürzlich unsere Verbündeten gewesen waren und die nun vermuteten, dass die Führer des Landes beabsichtigten, den Kommunismus in Europa gewaltsam zu etablieren. Es begann die Zeit des «kalten Krieges», der durch eine beispiellose Jagd bei der Schaffung von Atomwaffen belastet war.

Im Landesinneren lief der Prozess der Wiederherstellung der zerstörten Wirtschaft. Es entstanden Städte, Ortschaften. Betriebe und Fabriken, die während der Kriegsjahre in den Osten abtransportiert worden waren, blieben dort. Zum Teil wurden Einrichtungen, die als Reparationen aus den besetzten Gebieten Deutschlands kamen, verwendet. Züge mit Ausrüstungen und technischen Gerätschaften kamen in einem nicht enden wollenden Strom aus dem Westen.

Am Bau der Anlagen, Fabriken, Straßen, Wohnhäuser waren neben der Zivilbevölkerung auch Truppenteile, Kriegsgefangene, Angehörige der Arbeitsarmee sowie hunderttausende, wenn nicht Millionen Häftlinge beteiligt. Letztere setzte man für die schwersten Arbeiten in den entlegensten und rauesten Ecken des Landes ein. Zu den traditionellen Arbeiten (Förderung von Erzen, Kohle, Holzbeschaffung, Abbau in Steinbrüchen) kam nun die Förderung von Uran hinzu, was in den meisten Fällen zu einer Verstrahlung und zum Tod der Gefangenen führte.

Das Leben im Lande blieb auch weiterhin sehr schwierig. Brot, Salz, Graupen, Pflanzenöl, Hering, Zucker sowie auch Manufakturwaren und Schuhe wurden in den Läden nur gegen Marken abgegeben. Die Normen waren niedrig, und oft gab es nicht genügend Waren. Als andere kaufte man auf dem Markt. Dort handelte man mit Brot (70 Rubel der Laib), amerikanischem Schmalzfleisch, das im Rahmen des Land-Lease-Vertrags zu uns geliefert wurde, Militärkleidung, aus Beute-Wolldecken genähter Bekleidung, Sachen, welche die Soldaten aus den besetzten Gebieten Deutschlands mitgebracht hatten.

Im Lande florierte das Schattengeschäft, Einzelpersonen und kriminelle Strukturen sammelten ein riesiges Vermögen an. Jede Menge Falschgeld kam in Umlauf. Infolgedessen befand sich das Finanzsystem des Landes in einer schwierigen Lage. Unter diesen Bedingungen wurde 1947 eine Geldreform durchgeführt. Die neuen Banknoten wurden im Verhältnis zehn zu eins getauscht. Zum Umtausch waren Summen akzeptiert, welche achttausend Rubel nicht überschritten. Um den Anstieg der Marktpreise, vor allem den für Brot, zu stoppen, organisierte man den kommerziellen Handel. Nach der Abschaffung der Marken wurden die Preise in den Geschäften auf das Niveau der kommerziellen Preise festgesetzt.

Das Land lebte in der Erawar6ung auf Veränderungen. Armeeangehörige und Repatrianten, die im Westen gewesen waren und gesehen hatten, wie die Menschen, hofften, dass auch in der Sowjetunion entsprechende Umgestaltungen vorgenommen werden würden. Ein Teil der Intelligenz rechnete mit der Lockerung der Zensur, der Möglichkeit, seine Gedanken und Gefühle freier zu äußern. Die Angehörigen der Arbeitsarmee zählten auf ihre Demobilisierung. Die unterdrückten Völker – auf eine Rückkehr an ihre ehemaligen Wohnorte. Die Gefangenen – auf ihre Amnestie.

Manches geschah: einige Alltagsparagrafen fielen unter die Amnestie, die Verpflegung und Unterbringung der Häftlinge verbesserten sich ein wenig. Die Arbeitslager wurden aufgelöst. Die deutschen Arbeitsarmisten wurden in den Status von Verbannten versetzt. Doch im Großen und Ganzen schrumpft die Armee der kostenlosen Arbeitskräfte nicht. Mehr noch, in die Lager fluteten neue Häftlingsströme. Dorthin trieb man Soldaten, die in Gefangenschaft oder feindlicher Umzingelung gewesen waren, und, vor allen Dingen, «Wlassow-Leute». Man trieb diejenigen dorthin, die, nachdem sie in besetztes Gebiet geraten waren, «mit den Deutschen zusammengearbeitet» hatten. Unter ihnen befanden sich viele, die, um ihre Kinder, ihre alten Eltern vor dem Hungertod zu retten, in staatlichen Einrichtungen tätig gewesen waren – als Lehrer, Ärzte, Leute, die Reparaturen ausgeführt und an Bauarbeiten beteiligt gewesen waren.

Anfang 1947 drang ein Gerücht in den Stabnojer Lagerpunkt vor: alle Frauen sollen in Frauen-Sonderlager verschickt werden. Von wem ich diese Neuigkeit zum ersten Mal hörte, weiß ich nicht mehr. Sie ging von Mund zu Mund, wie das Rascheln der Blätter im Wald, bevor ein Gewitter losbricht. Für die weiblichen Gefangenen stellte diese Botschaft eine Bedrohung dar. Die Frauenlager hatten einen schlechten Ruf. Vor allem, weil dort die Mehrheit von ihnen schwere Männerarbeit verrichten musste. Die Aussichten, im Dienstleistungssektor oder gar in einem Büro untergebracht zu werden, waren merklich geringer als in den gemischten Lagern.

Anfangs gab es die Hoffnung, dass es sich lediglich um ein Gerücht handelte, doch schon bald darauf bestätigte Jakob Jakowlewitsch die Existenz eines entsprechenden Befehls. Bei einem der nächtlichen Appelle, die der Leiter des UssolLag Tarasjuk durchführte und bei denen Jakob Jakowlewitsch als Oberbuchhalter des OLP gelegentlich hinausgerufen wurde, ging es gerade um den Zeitpunkt seiner Umsetzung. Makarenko spielte auf jede erdenkliche Weise auf Zeit. Er benötigte die Mädchen dringend im unteren Lager. Umnowa überredete Tarasjuk die Versendung der Frauen bis zum Ende der Flöß-Arbeiten zu verschieben. Gleichzeitig begann am Lagerpunkt Golownaja der Bau eines neuen OLP-Kontors neben der Produktionszone. In das neue geräumige Gebäude sollte im Sommer das gesamte Verwaltungspersonal des OLP übersiedeln. An die Lagerzone anschließend wurde eine Siedlung für die zivilen Mitarbeiter errichtet.

Obwohl die Aussiedlung der Frauen aus Stabnoje sich verzögerte, wurde das Lager-Regime verschärft. Einander außerhalb des Büros zu begegnen war beinahe unmöglich. Die Frauen, die sich eines Vergehens schuldig gemacht hatten, wurden nach Golownaja oder Traktowaja gebracht. Im Büro selbst hielt sich ständig einer der Aufseher auf. Eine derart plötzliche Sorge um die Moral der Gefangenen war verwunderlich. Die unglaublichsten Vermutungen wurden angestellt. Es hieß beispielsweise, dass dies die Rache des Leiters der operativen tschekistischen Abteilung des UssolLag – Gerus – sei, dessen Ehefrau, welche sich zur Behandlung im Nischne-Moschewsker Krankenhaus befand, eine Beziehung mit einem inhaftierten Arzt angefangen hätte. Und obwohl man über dieses Verhältnis und seine tragischen Folgen schon lange und beharrlich gesprochen worden war, war nicht klar, weshalb Gerus auf diese Art und Weise Rache üben sollte. Man hörte auch die Meinung, dass die Angehörigen der Häftlinge die Trennung von Männern und Frauen verlangt hätten. Dass Stalin höchst persönlich eine solche Entscheidung getroffen hatte, wäre uns damals nie in den Sinn gekommen.

Im März 1947 wurde Jakob Jakowlewitsch in die Freiheit entlassen. Es war ein trauriger Abschied, zumindest für mich. Mit seinem Fortgang verlor ich nicht nur meinen Beschützer, sondern auch einen aufrichtigen und fürsorglichen Freund. Und auch Jakob Jakowlewitsch selbst verließ die Lagerzone ohne besonderen Enthusiasmus. Er begab sich in ein entlegenes sibirisches Dorf, in dem sich seine Familie in Sonderansiedlung befand. Was erwartete ihn dort?

Für den frei gewordenen Posten des Oberbuchhalters des OLP wurde Iwan Makarenko ernannt. Ich bekam mehr Arbeit. Es gab auch mehr Sorgen. Wie ein Damokles-Schwert hing über mir die Bedrohung der Verschickung der Frauen auf Etappe. Was würde mit Nina werden? Welche Maßnahmen konnte man ergreifen? Die Lage wurden noch komplizierter durch die bevorstehende Verlegung des Verwaltungspersonals des OLP nach Golownaja. Für Nina und mich bedeutete der Umzug nichts Gutes. Schließlich waren dort Kalinowskij und David Andrejewitsch die Herren der Lage.

Im März setzte Bewegung ein. Frauen aus einen Lageraußenstellen des Kuschmangortsker OLP wurden zur Lagerstelle «Lesnaja» verlegt, welches ein reines Holzbeschaffungs-Frauenlager wurde. Achtzig Frauen wurden nach Golownaja gebracht, wo seit ewigen Zeiten eine spezielle Frauenlagerzone existierte, die vom restlichen Lager-Territorium durch einen zwei Mann hohen Staketenzaun abgegrenzt war. Das erlaubte es, zumindest formell, den Stalin-Befehl über die «Geschlechter-Trennung» nicht zu verletzen. Ein Teil der Frauen blieb im Außenlager Traktowaja am zentralen OLP-Krankenhaus und in den Nähereien. Die Bewegung betraf auch unseren Lagerpunkt Stabnoje. Von hier wurden fast alle Frauen nach Golownaja und Lesnaja gebracht, mit Ausnahme derer, die in der Buchhaltung tätig waren. Auch Nina blieb. Erneut ängstliche Erwartung.

Schließlich, Anfang April 1947 zog die gesamte OLP-Leitung nach Golownaja und ließ sich dort in den für sie fertiggestellten Büros und Wohnungen nieder. Ihnen folgten wir (per Etappe) – die Gefangenen, die in der OLP-Buchhaltung und der Planungsabteilung arbeiteten. In Golownaja wurde mir ein Platz in der Baracke für das verwaltungstechnische Personal zugewiesen, wurde in der Frauenzone in der Baracke der «Schokoladen-Frauen» untergebracht, in der sich bereits Olga Butenko befand, die bereits mit der ersten Frauen-Etappe nach Golownaja gekommen war.

Zur Arbeit wurden wir jetzt in zwei Schritten gebracht: zuerst mit einer allgemeinen Absperrung in die Arbeitszone, und dann von dort aus, in Begleitung von zwei oder drei Wachmännern, ins Kontor. Dort bewachten sie uns weiter und beaufsichtigten uns während des gesamten Arbeitstages.

Bald nach dem Umzug kam es zu einem Wechsel in der Leitung des OLP. Makarenko schied aus dem „System“ aus und reiste ab. Iwan fuhr mit ihm. Zum Leiter des OLP wurde Fajerstajn ernannt, zum Ober-Buchhalter – der Armee-Finanzmitarbeiter Aleksander Mironowitsch Jerschow. Fajerstejns Beziehung mir gegenüber, die bereits am Lagerpunkt Stabnoje zustande gekommen war, war sehr gut. Nach seinen Worten gefielen ihm mein Fleiß und meine guten Kenntnisse in Produktionsfragen. Jerschow erwies sich als lebensfroher und aufgeschlossener, entgegenkommender Mann. Als ehemaliger Frontsoldat und vergleichsweise jung, hatte er es noch nicht geschafft, die Lager-Ideologie zu durchschauen und wandte sich an uns, die Lager-Insassen, mit einer für uns ungewöhnlichen Einfachheit und Natürlichkeit. Er war leidenschaftlicher Préférence-Spieler und, nachdem er sich in seinem Büro eingeschlossen hatte, «kloppte er oft stundenlang Karten» mit den Zivilangestellten des OLP. Er spielte ausschließlich um Geld und das, wie seine Partner bestätigten, äußerst professionell. Mit den ersten Arbeitstagen setzte er mich als seinen Stellvertreter ein und verließ sich in allen Fragen hinsichtlich der Produktionsaktivitäten des OLP auf meine Erfahrung. Ich musste rotieren, besonders an den Tagen, als die Quartals- und Jahresabrechnungen erstellten wurden.

Ninas Schreibtisch stand, wie auch in Stabnoje, neben meinem. Sie arbeitete in der Produktionsgruppe und führte die Produktionskonten, unter anderem die Kartothek für die Objekte der großen Bauvorhaben. Über letztere, in der besonders häufig der Begriff «Objekt» verwendet wurde, ärgerte sie sich aus irgendeinem Grund. Nach der Tradition, die bereits in Stabnoje zustande gekommen war, bereitete sie das Mittagessen aus Lebensmitteln zu, die sie und ich in Form der Trockenration erhielten. Manchmal gesellte sich auch Jefimtschik zu uns.

Zu der Zeit, als für mich die dienstlichen Angelegenheiten sehr gut liefen, war es um das Leben in der Lagerzone, besonders in den ersten Monaten, äußerts schlecht bestellt. Zwischen mir und David spielte sich ein noch verborgener Kampf ab. Die Kräfte waren eindeutig ungleich. David fühlte sich in der Zone als Herr. Das gesamte Dienstpersonal und die Aufseher standen auf seiner Seite. Sie achteten ihn, waren an ihn gewöhnt und von ihm abhängig. Schließlich wurde er von Kalinowskij unterstützt. Ich dagegen war, wie alle meine Mit-Bediensteten auch, in Golownaja Neuling und vor allen Dingen für den Lagerpunkt ein Fremdling, den man nicht brauchte. Iwan Makarenko gab es nicht. Mich an Fajerstejn zu wenden, hielt ich für unpassend.

Besonders heftig erlebte ich meine Hilflosigkeit abends, wenn ich von der Arbeit in die Lagerzone zurückkehrte. Ich und Nina wurden aufmerksam von dutzenden, David treu ergebenen, Augen verfolgt. Wenn sie zu mir in die Baracke trat, tauchte sofort der Aufseher auf. Für mich war ein Besuch bei Nina vollkommen unmöglich. Männer wurden in die Frauenzone nicht hineingelassen. Zugang hatten, neben den Aufsehern und den zivilen Leitern, lediglich der Kommandant und der Arbeitsanweiser. David machte sich das zunutze, indem er seine Sonderrechte demonstrierte. Während er sich in der Frauenzone aufhielt, konnte ich für mich keinen Platz finden. Minuten wurden zu Stunden. Nina und besonders Olga hörten nicht auf, mich davon zu überzeugen, dass David ein ordentlicher, entgegenkommender, guter Mensch war, der sich, ungeachtet seiner Liebe zu Nina, nichts Schlechtes erlauben würde. Mich ärgerten diese Gespräche nur. Besonders Olga. Sie verschwand von früh bis spät in Kalinowskijs Kabine. Nina war häufig bei ihr. Der Gedanke, dass sich dort auf David aufhielt, ließ mir keine Ruhe, aber ich konnte mich nicht zu einer Bespitzelung hinreißen lassen.

Es ist wohl nicht sehr männlich, aber ich muss zugeben, dass mir nicht nur einmal die Idee kam, meine Beziehung zu David mit den Fäusten zu klären. Mehr noch, ich fühlte keinerlei Hass ihm gegenüber. Ich quälte mich selbst, quälte Nina.

Ein paar Mal, in Minuten der Verzweiflung, fasste ich den Entschluss, mich von Nina zu trennen, aber jedes Mal hielten mich ihre Tränen und Liebesversicherungen zurück. Erschöpft und am Boden zerstört schrieb ich in jenen Tagen:

An welche Türen habe ich nicht alle geklopft
Um Stille und Ruhe zu finden,
Man antwortet mir überall nur mit einem Lachen,
Verjagt mich von der fremden Tür.

Trost fand ich bei der Arbeit. Zum Glück gab es davon mehr als genug. Das OLP ging zur Aufbereitung von Baumstämmen und dem Abtransport von Holz über. Das wurde als fortschrittlicher angesehen, weil die Abläng-Arbeiten aus dem Wald in den stationären Bereich des unteren Lagers verlegt wurden. Allerdings entstanden dabei unerwartete Schwierigkeiten. Die ins OLP entsandten Kubatur-Fachleute erwiesen sich als alles andere als perfekt. Die von ihnen berechneten Volumina an bereitgestelltem Holz überstiegen gravierend jene, die sich nach der Bearbeitung der Stämme in den Sortimenten ergaben. Im Mai nahm der im unteren Lager entstandene Fehlbestand bedrohliche Ausmaße an. Die Kubator-Angaben mussten schnellstens korrigiert werden. Mit dieser Arbeit beauftragte Fajerstejn mich. Tagsüber lief ich in den Holzeinschlagsabschnitten herum, definierte die “außer Kontrolle geratenen” Koeffizienten der unterschiedlichen Holzarten und zeichnete einen Abriss der Stammprofile. Abends erledigte ich im Büro des technischen Leiters des OLP Sadikow die Buchführung. Dort saß ich bis zum späten Abend, bis der Begleitsoldat anfing zu revoltieren. Nach einem Monat angestrengter Arbeit war die neue Volumen-Berechnung fertig. Der Wachmann und ich erhielten jeder eine Prämie in Höhe von 200 Rubel zugeschrieben.

Meine Sonder-Beziehungen zu Fajerstejn und Sadikow, die mich häufig abends in ihr Kontor riefen und mich manchmal mitnahmen, wenn sie zu den Holzeinschlag-Gebieten fuhren, wurden im Lagerpunkt bekannt. Allmählich änderte sich auch hier die Einstellung mir gegenüber zum Besseren: man teilte mir eine Kabine am Ende einer der Baracken zu, und die ständige Bespitzelung wegen Nina hörte auf. Sie erhielt die Möglichkeit mich zu besuchen und sogar Ordnung im Büro zu schaffen. Allerdings durfte sie nicht über Nacht bei mir bleiben.

Fajerstejn schickte mehrmals einen Antrag auf Ausstellung eines Passierscheins für mich, für eine Fahrt ohne Begleitsoldaten, nach Solikamsk. Die Erlaubnis kam erst im Juni 1947. Ein kleines unscheinbares Dokument, in Karton gebunden, ähnlich einem Dienstausweis. Foto, Unterschriften, Stempel. Aber was für eine Freude, was für ein Glück für den Gefangenen verbarg sich dahinter. Ich kann mich noch gut an jenen Tag erinnern, als ich allein, ohne Begleitwache, am Wachhäuschen vorbei zur Arbeit schritt. Ich wählte extra einen schmalen Weg, der weit entfernt von der Hauptstraße lag, über den sie uns immer zur Arbeit gebracht hatten. Er führte durch den Wald, dann über ein Feld, so dass ich die Produktionszone umgehen konnte. Es war ein klarer, sonniger Morgen. Über den blauen Himmel zogen langsame Schäfchenwolken. Auf einer Seite – der Waldesrand, auf der anderen – eine Wiese, üppig bewachsen mit saftigem, grünem Gras. In der Ferne ein paar abgekoppelte Pferde. Und niemand ging hinter mir. Ich erinnere mich an meine zögernden Schritte. Die Beine gehorchten mir nur schwer, wie nach einer schweren, Kräfte zehrenden Krankheit. Ich wollte an nichts denken. Ich ergab mich vollständig dem Gefühl der Freiheit hin, die mich durchdrang. Ich durfte gehen, anhalten, mich ins sonnige, grüne Gras legen und in den endlosen Himmel schauen. Ich durfte den Weg verlassen und Blumen pflücken. Und niemand würde mit dem Gewehrschloss klicken und schreien: «Ein Schritt nach rechts, ein Schritt nach links – das gilt als Fluchtversuch», und kein Schäferhund würde als Antwort darauf knurren.

Der Gedanke an Blumen, die ich Nina ins Büro mitbringen könnte, brachte mich in die Realität zurück. Nachdem ich einen Strauß zarter Feldblumen gepflückt hatte, rannte ich fast im Laufschritt ins Kontor. Ein paar Tage später erhielten auch noch ein paar andere Kontor-Mitarbeiter einen Passierschein. Unter ihnen auch Nina. Nun begann für uns ein neues Leben. Endlich konnten wir am Ufer der Kama sitzen, in den Wald gehen, uns ins Dickicht zurückziehen. Aber wir mussten Vorsicht walten lassen. Obwohl dies bei Vorhandensein eines Passierscheins nicht als Fluchtversuch galt, konnte es trotzdem als Verletzung des Regimes gewertet werden, wodurch eine unverzügliche Konfiszierung des Erlaubnisscheins drohte. Wir mussten uns verstecken. Nina erinnerte sich noch lange an das Eichhörnchen, welches uns zu Tode erschreckte.

Freilich war die «Freiheit», die der Ausweis uns gab, relativ. Um sich von der Lagerzone mehr als einen Kilometer weit entfernen zu können, war eine besondere Route vorgeschrieben. Außerdem war der Erlaubnisschein auch zeitlich begrenzt: er galt von sieben Uhr morgens bis acht Uhr am Abend. Für eine spätere Rückkehr benötigte man eine Sonder-Genehmigung.

Für mich persönlich eröffnete der Passierschein eine Menge über das Lagerleben. Und vor allen Dingen über das Leben der deutschen Trudarmee-Angehörigen, mit denen ich recht gut bekannt wurde. Im UssolLag waren sie Anfang 1942 eingetroffen. Sie arbeiteten beim Holzeinschlag unter Wachbegleitung. Sie lebten unter Bedingungen, die sich nur wenig von denen unterschieden, unter denen Gefangene gehalten wurden. Eine ebensolche Zone mit Wachtürmen, Wachmannschaften, Hunden, Durchsuchungen am Morgen und am Abend. Dieselbe Verpflegungsnorm, dieselbe hohe Sterblichkeitsrate, dieselben «Bestattungen», bei denen die vor Erschöpfung umgekommenen Menschen in Sammelgruben geworfen wurden. Einen Unterschied gab es allerdings: viele der Trudarmisten behielten ihre Komsomolzen- und sogar Partei-Mitgliedsausweise. Sie berichteten, dass man die deutschen Kommunisten unter den Bedingungen des Lagerlebens unter Wachbegleitung zu den Partei-Versammlungen brachte, dass man gegen viele von ihnen aus unterschiedlichen Anlässen Strafverfahren (selbstverständlich politische), meistens ohne ihre Anwesenheit, einleitete, ihnen jeweils zehn Jahre aufbrummte und sie dann, nun schon als Gefangene, in die Lagerzone schickte. Eine gewisse Nachsicht wurde erst nach Kriegsende geübt: man schaffte die Wachbegleitung ab, erlaubte ihnen, einen kleinen privaten Gemüsegarten zu besitzen, wodurch viele von ihnen ihr Leben retteten. Ab Ende 1946 siedelte man die deutschen Trudarmee-Angehörigen auf dem Territorium des UssolLag an, ohne das Recht, sich außerhalb der Grenzen aufzuhalten. Einige Familien siedelten sich in der Umgebung des Lagerpunktes «Golownaja» an. Hier errichteten sie sich Häuser, legten Gärten an, hielten Schweine und Hühner.

Mit einem von ihnen freundete ich mich an. Er hieß Fedja - Franz Faber. Seit den ersten Tagen des Krieges hatte er im Artillerie-Regiment gekämpft. Im Herbst 1941, entfernten sie ihn, weil er Deutscher war, von der Front und schickten ihn in den Ural. Dort geriet er ins UssolLag. Er sägte Holz, hungerte, magerte immer mehr ab, wurde immer schwächer. Nach Kriegsende entband man ihn von der Wachbegleitung und ernannte ihn erst zum Vorarbeiter danach zum Forstmeister. Er heiratete eine Frau, die so war, wie er, Angehörige der Trudarmee, die in deutscher Gefangenschaft gewesen war und deswegen nach der Repatriierung in den Ural ausgewiesen wurde. Zum Zeitpunkt unserer Bekanntschaft war Faber als Lagerverwalter für Lokomotiven-Brennstoff angeführt. Zu seinen Pflichten gehörten die Beschaffung und Verteilung von Brennholz für die Loks. Mit der Umstellung des Transports von Baumstämmen in die oberen Lager blieben nur noch Äste und Zweige zurück, die praktisch für diese Zwecke ungeeignet waren. Die aus den Vorjahren verbliebenen Vorräte gingen schnell zur Neige. Es begannen Probleme mit dem Abtransport der Stämme, und Faber musste bei der Leitung «antanzen».

Und da kam Faber und mir die Idee, als Betriebsstoff Bahnschwellen zu verwenden, die in den Holzeinschlagsrevieren nach der Abschaffung der provisorischen Bahnlinien (Knotenpunkte) liegengeblieben waren, um sie in Holzschläge zu verbringen, die noch abzuholzen waren. Mit Hilfe seiner kleinen Brigade organisierte Faber ihren Abbau, Abtransport, Zerlegung und Einlagerung an den Hauptabschnitten der Magistrale. Und ich kümmerte mich um das Außenbilanz-Konto. Der Leitung sagten wir über diese Operation nichts. Aber als am Ende des Folgemonats die Stoßarbeit begann und Tarasjuk von Fajerstejn zusätzliche Kubikmeter verlangte, konnten Faber und ich ihm ein Geschenk machen: mehrere hundert fehlende Kubikmeter Holz. Fajerstejn wusste unsere Initiative zu würdigen, und wir freuten uns. Doch bald darauf wurde die Kehrseite der Medaille entdeckt. Jetzt rief Fajerstejn uns jedes Mal, wenn es Stress mit der Planerfüllung gab, zu sich ins Kontor, schloss die Tür zu und fing an, die fehlenden Kubikmeter aus uns herauszuquetschen. Im Empfangszimmer sammelten sich Menschen an, mitunter von recht hohem Rang. Alle waren empört. Besonders ärgerte sie die Tatsache, dass ein Gefangener schuld an der Verzögerung war. Allmählich verankerte sich in mir der mit Gefahren verbundene Spitznamen «Fajerstejns Geheimrat».

Bei einer derartigen Einstellung mir gegenüber vermag ich in der Bewertung P.J. Fajerstejns kaum objektiv urteilen, aber zu seinem Schutz muss ich sagen, dass er nach Meinung all derer, die mit ihm zu tun hatten, ein hervorragender Spezialist im Bereich der Holzbeschaffung, aber auch kein schlechter Lager-Leiter war. Seine Haltung gegenüber den Gefangenen war ausgeglichen, ohne Lärm und Geschrei, aber auch ohne Tändeleien. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendein Arbeiter sich schlecht über ihn geäußert hätte. Aber in all seinen Handlungsweisen, die meiner Aufmerksamkeit zugänglich waren, lag Berechnung. Eine Episode, an die ich mich erinnere, ist in dieser Hinsicht charakteristisch.

Es war ein heißer Sommertag. Fajerstejn, Trojanowskij, der im OLP die Bauarbeiten leitete, und ich gingen entlang der Schmalspurbahn. Wohin und warum und aus welchem Grund wir nicht mit Fajerstejns Sonderwaggon fuhren, weiß ich nicht mehr. Uns entgegen kam mit einem Schraubenschlüssel in der Hand – die Streckenwärterin. Eine junge Frau in Lager-Kleidung. Nachdem wir weit genug weg waren, damit sie Fajerstejn nicht mehr hören konnte, wandte er sich an Trojanowskij und fragte ihn:

- Wissen Sie, wer diese Frau ist?

- Nein, - antwortete Trojanowskij.

- Das ist die Iwanowna – die Lager-Frau von Briagdier Karimow. Ihn kennen Sie doch sicher?

- Natürlich weiß ich das, aber warum müssen sie denn wissen, dass Iwanowa seine Frau ist? – wunderte sich Trojanowskij.

- Na ja! Ich bin verpflichtet Einzelheiten zu kennen, wenn ich das Personal sinnvoll einsetzen will, - entgegnete Fajerstejn und fügte nach kurzem Schweigen hinzu:

- Ich erinnere mich, dass es nicht nötig gewesen wäre, Karimow an den Lagerpunkt Sewernij zu verlegen. Hätte ich das getan, ohne von seinen Verbindungen zu Iwanowa zu wissen, dann wäre ich auf seinen tiefen, hartnäckigen Widerstand gestoßen. Freilich, man hätte eine entsprechende Verfügung herausbringen können, aber wie hätte Karimow dann auf seine Pflichten am neuen Ort reagiert. Aber so habe ich gewartet, bis für Iwanowna ein Passierschein ausgestellt und sie als Streckenwärterin nach Sewernij geschickt worden war. Ein paar Tage später kommt Karimow zu mir und bittet darum, nach Sewernij verlegt zu werden. Er verspricht gute Arbeit zu leisten, Arbeitsrekorde zu erbringen. Selbstverständlich erklärte ich mich einverstanden! Und, wie ihr wisst, hat Karimow sein Versprechen gehalten. Und nachdem er, wie um sich zu rechtfertigen, einen Moment geschwiegen hatte, fügte er hinzu:

- Aber hier geht es ihnen ja auch gut.

Trojanowskij antwortete nicht. Ihm, einem qualifizierten Bau-Ingenieur, der seinerzeit 10 Jahre verbüßt und im Bereich der Lagerzone geblieben war, gefiel Fajerstejns Bericht nicht, und das versuchte er auch nicht zu verbergen.

Es entstand eine schmerzhafte Pause. Entlang der Trasse wehte ein leichter Wind, der uns vor den lästigen Ural-Mücken bewahrte.

An den Sommer 1947 erinnere ich mich wegen zweier raffinierter Fluchtversuche, die leider nicht von Erfolg gekrönt waren.

Der erste wurde von einem ehemaligen Militärarzt, der mit seinem Freund von der Front in der medizinischen Station der Produktionszone tätig war, konzipiert und durchgeführt. Woher sie zwei beschädigte Gasmasken (ohne Filter) beschafften – ich weiß es nicht. Doch sie spielten in ihren Plänen eine entscheidende Rolle. Neben den Gasmasken bevorrateten sie sich mit Zwieback, Speck und Stricken, und schoben, nachdem sie einen geeigneten Tag ausgewählt hatten, an dem besonders aktiv Flöß-Arbeiten erledigt wurden, stießen sie vier große Baumstämme ins Wasser, banden sie paarweise mit den Stricken zusammen, zogen sich die Gasmasken über, tauchten ins Wasser ab, befestigten gewellte Röhren an der Wasseroberfläche und legten sich anschließend unter die Stämme. Unbemerkt zwischen den «Schwimmflößen» mit den Wachen mitrutschend, sollten sie entsprechend dem erarbeiteten Plan mindestens 10-12 Kilometer weit die Kama abwärts schwimmen, um ein Gebiet außerhalb der Grenzen des OLP-Territoriums zu erreichen. Doch es ereignete sich etwas Unvorhergesehenes. Die Stämme, die von der ungleichmäßigen Strömung davongetragen wurden, fingen an auseinanderzudriften. Infolgedessen landeten sie an unterschiedlichen Stellen an, konnten nicht zusammentreffen und gingen, jeder für sich, tief in den Wald hinein. Der eine hatte in seinem Gummibeutel den Zwieback, der andere – den Speck. Derjenige, der den Zwieback bei sich trug, umging die auf seinem Weg liegenden Dörfer, Siedlungen und sogar vereinzelte Jagdhütten, schaffte es bis zu einer abgelegenen Bahnstation und wurde von Fahndern noch auf dem Weg zur Plattform festgenommen, wo er sich unter einer zerrissenen Plane versteckt hatte. Der Zweite verbrachte längere Zeit in Freiheit. Ohne den Zwieback nagte er am Speck, ernährte sich von Beeren und Pilzen. Bald bekam er blutigen Durchfall. Eine ganze Woche versuchte er sich selbst zu heilen, in dem er in großen Mengen, seiner Meinung nach, heilende Kräuter aß. Doch nichts half. Er verlor schnell an Gewicht. Mit allerletzter Kraft gelangte er ins nächstgelegene Dörfchen und klopfte an eine am Rande gelegene Hütte. Damit war sein Leben in Freiheit beendet.

Man brachte sie zurück nach Kuschmangort, wo sie verurteilt wurden. Den Untersuchungsrichter interessierte besonders die Frage, wie es ihnen möglich gewesen war, unbemerkt Gasmasken aufzusetzen, ins Wasser zu steigen und sich unter die Baumstämme zu legen. Der Ermittler war der Ansicht, dass sie hier nicht ohne Mithilfe anderer Häftlinge ausgekommen wären. Er suchte, fand jedoch niemanden. Die Geflohenen aber bekamen weitere 10 Jahre aufgebrummt und wurden zurück in die Lagerzone gebracht.

Der zweite Fluchtversuch endete blutig. Es begann alles damit, dass einer der Brigadiere, der das Hinaufwälzen auf die Stapel leitete, beschloss, darin eine Kabine für Treffen mit der zivilangestellten Buchhalterin einzurichten. Zu diesem Zweck wurden auf seine Anordnung entlang der Kanten acht Reihen mit 1-Meter langen Holzklötzen gefüllt, über die dann ein Längsstück geschoben wurde. Um in die Kabine zu gelangen, genügte es, zwei extra angespitzte Klötze herauszuziehen und in das so entstandene Einstiegsloch zu steigen. Fast ein Jahr lang stand der Holzstapel unberührt da. Im Sommer wurde der Brigadier freigelassen, und der Unterstand wurde von drei ehemaligen Frontsoldaten übernommen. Tag für Tag brachten sie Zwieback, gesalzenen Fisch, Speck mit in die Arbeitszone und versteckten alles in der Kabine; außerdem legten sie dort einen Vorrat an Wasser an. Dann endlich kam der Tag, als sie «sich in Deckung legten».

Ich kann mich noch gut an jenen Abend erinnern. Alle warteten ungeduldig darauf, dass die Begleitwachen zur Abnahme klopften, was bedeutete, dass die Listen in der Wache übereinstimmten und alle Arbeiter die Arbeitszone vollständig verlassen konnten. Doch es gab keine Abnahme. Es bedeutet, dass es keine Übereinstimmung gab. Auf dem Korridor des OLP-Kontors entstand lebhafte Bewegung. Offiziere der Militarisierten Wache liefen herum und redeten besorgt über irgendetwas.

Entlang der Absperrzone und auf der Seite des Kama-Flusses wurden zusätzliche Wachen aufgestellt. Am Abend, wenn die Dämmerung einsetzte, wurden Suchscheinwerfer eingeschaltet, die das Territorium des unteren Lagers an den Seiten und in der Mitte ausleuchteten. Die riesigen Holzstapel, die nach Beendigung der Flöß-Arbeiten entstanden waren, warfen lange, eckige Schatten. Überall huschten Hundeführer herum. Wir, die im Kontor Beschäftigten, wurden ungeachtet unserer Gesichter, in aller Eile in die Wohnzone geschickt. Am Morgen ließen sie uns nicht zur Arbeit gehen. Sämtliche Begleitwachen und Aufseher, aber auch ein Teil der Zivilangestellten, wurden zur Wachverstärkung in die Arbeitszone gebracht. Die Belagerung dauerte zwei Tage. Die Wachen liefen sich die Füße wund, konnten jedoch nichts entdecken. Am dritten Tag organisierten sie einen erlogenen Abzug. Das Ziel der Wachen lag in den Gebüschen und Hainen, die hundert Meter vom Stacheldraht entfernt waren und das Territorium des unteren Lagers umgaben. Am Abend schlugen die Wachleute auf den Wachtürmen zum «Abzug», verließen demonstrativ ihre Arbeitsplätze und gesellten sich zu ihren in den Büschen liegenden Kameraden. Die Suchscheinwerfer wurden ausgeschaltet. Alles erstarrte... In der Nacht war im zentralen Bereich der Zone ein undefinierbares Rascheln zu hören. Die über den Boden kriechenden Geflohenen wurden aus nächster Nähe, unter den blendenden Lichtstrahlen der sofort eingeschalteten Suchscheinwerfer, erschossen.

Am Morgen sahen die aus der Zone herausgeführten Häftlinge drei blutige, auf ein Fuhrwerk geworfene Leichen. Der Kommandeur des Zugs Baschkirzew verkündete, dass dieses Los jeden ereilen würde, der sich zu einem Fluchtversuch entschlösse.

Der Herbst verging mit Trubel und Sorgen. Die Hektik um die Rechenschaftsberichte ging zu Ende und da ist er, der frische, eben erst eingebundene und immer noch nach Kaliko und Leim riechende, vierteljährliche Bericht. Darin die Bilanz, drei Dutzend Formulare mit sorgfältig verifizierten Indikatoren und umfangreiche Erläuterungen – das Ergebnis der peniblen, mühsamen, viele Tage dauernden Arbeit unseres Kollektivs. Auf dem Titelblatt die Aufschrift - «Streng geheim » und die abgehackte Unterschrift Fajerstejns, ohne Linien und Übergänge.

Als Jerschow mit dem Bericht nach Solikamsk fahren wollte, beschloss er, mich mitzunehmen, was in Ninas und meiner Seele eine leise Unruhe auslöste. Würden wir uns noch einmal wiedersehen? Würde man sie nicht ohne mich aus dem Bereich des OLP entfernen? Das war mit anderen schon geschehen, und nicht nur einmal. Ich hoffte, dass Fajerstejn nichts derartiges unternehmen würde. Aber wusste er von meiner Beziehung zu Nina? Ich war überzeugt davon, dass es ihm bekannt war. Nina zweifelte und verfluchte den Tag, an dem man uns den Passierschein ausgehändigt hatte.

– Wenn sie nicht gewesen wären, dann müsstest du jetzt nicht nach Solikamsk fahren, – flüsterte sie. Wir standen hinter einem hohen Holzhaufen, der uns vor den Augen der anderen verbarg. Nina weinte, und ich küsste ihr tränennasses Gesicht und versuchte sie, so gut es ging, zu beruhigen. Doch das half wenig. Schließlich trennten wir uns zum ersten Mal, wenn auch nicht für lange Zeit.

Zuerst waren Jerschow und ich mit Pferden unterwegs, bis nach Tscherdan (ungefähr 20 Kilometer), und von dort mit dem Schiff bis Solikamsk (den Biegungen des Flusses folgend, etwa 140 Kilometer). Wir fuhren nach dem Mittagessen los. Eine nasse, sandige Straße. Zu beiden Seiten niedrig gewachsene, dunkelgrüne Fichten, gelb verfärbte Birken, im Wind flammend leuchtende Espen. Hier und da wurden sie von mächtigen Kiefern mit weit ausgebreiteten Zweigen überragt. Am Wegesrand durch das Alter schief und vom Herbstregen schwarz gewordene Telegrafenmasten mit Querbalken und bis zu einem makellosen Weiß abgewaschenen Isolatoren.

Unbemerkt näherten wir uns Tscherdan. Bis zur Abfahrt des Schiffes blieben noch drei Stunden. Wir gingen durch die Stadt. Sie war recht klein. Nicht mehr als sechs-siebentausend Einwohner. Die Häuser eingeschossig, aus Holz gebaut. Keine großen Straßen. Im Zentrum ein paar uralte Gebäude aus Ziegelsteinen. In einem von ihnen, es war groß und gepflegt, waren das Bezirkskomitee und das Bezirksexekutiv-Komitee untergebracht. In der Ferne, am Stadtrand, hinter einem Hain von hohen Bäumen, irgendein Gebäude aus roten Ziegelsteinen. Entweder ein Kloster oder eine halbverfallene Kirche. Später konnte ich in Erfahrung bringen, dass sich in diesem Gebäude ein Gasthaus befand, in dem man sogar übernachten konnte.

Bei dem Schiff handelte es sich um einen Raddampfer, wohl noch aus Zarenzeiten. Langsam mit seinen Schaufelrädern durchs Wasser plätschernd, schwamm er zunächst auf der Kolwa, wo es eine Anlegestelle gab, dann auf der Wischera, in welche die Kolwa mündete, und dann, ab Mitte der Fahrt auf der Kama. Bis in die tiefe Nacht hinein stand ich an Deck. Der schimmernde Weg des Mondes, die Lichter der Bojen. Ein Stück weiter eine einsame Frauengestalt. Der Winde zerzauste ihre Haare, blies den Saum ihres Regenmantels auf. Aber meine Gedanken waren bei Nina. Beim Abschied hatte sie sich so einsam und hilflos gezeigt. Irgendwie wird unser Leben zurechtkommen.

Entgegen den geltenden Regeln, brachte Jerschow mich in Solikamsk in einem Gasthaus in demselben Doppelzimmer unter, in dem auch er einquartiert war. Nachdem wir uns eingerichtet und gefrühstückt hatten, begaben wir uns zur Verwaltung. Dort schickten sie mich, nachdem der Rechenschaftsbericht abgegeben war, zum Arbeiten in die analytische Abteilung. Ich bemühte mich nach Kräften. Erstens, weil mir diese Arbeit zusagte, und zweitens, weil ich mich empfehlen und mich auf meinem Posten etablieren wollte, um weniger von Fajerstejns und Jerschows Launen abzuhängen. Denn in jedem beliebigen Augenblick konnte alles zusammenstürzen, und ich – würde wieder zu allgemeinen Arbeiten herangezogen werden.

Während ich in der Abteilung arbeitete, spielte Jerschow im Hotel Karten, wobei er aus seinen Mitspielern recht anständige Geldsummen herausholte. Auf mein Bitten erkundigte er sich während eines Telefonats mit der Buchhaltung des OLP nach Ninas Gesundheit.

Unser Aufenthalt in Solikmsk dauerte etwa 10 Tage. Während dieser Zeit lernte ich den Ober-Buchhalter des UssolLag Jakob Michailowitsch Schachanow und den Leiter der analytischen Abteilung kennen. Offenbar gefiel ihnen meine Arbeit. Jedenfalls beriefen sie mich seitdem mit jedem Quartalsrechenschaftsbericht in die Verwaltung, manchmal sogar ohne Jerschow. Dort in der Verwaltung lernte ich auch zwei Deutsche kennen, die Oberbuchhalter der in der Nachbarschaft von Kuschmangort gelegenen OLPs Spadi und Norden. Unter uns gab es einen geheimen Wettstreit darüber, wer den Rechenschaftsbericht zuerst einreichen würde. Einmal sandte Spadi, der ein großer Witzbold war, auf dem Höhepunkt der Arbeiten am Quartalsbericht ein Paket mit Saatkörnern in unsere Buchhaltung, womit er für einen ganzen Tag den Abschluss des Berichts verzögerte.

Ende Oktober kehrten wir, bereits im Schnee, nach Kuschmangort zurück. Nina sah müde aus, aber sie freute sich. Sie berichtete von einem für uns bemerkenswerten Ereignis, genauer gesagt Fajnstejns Reaktion darauf. Während unserer Abwesenheit hatte einer der neuen Buchhaltungsmitarbeiter angefangen, in Ninas Beisein in sehr schmutziger Art und Weise zu fluchen. Nina fand das äußerst kränkend und beleidigend; sie rannte unter Tränen aus der Buchhaltung und stieß im Korridor mit Fajnstejn zusammen. Nach einiger Zeit machte Fajnstejns Sekretär sie ausfindig und sagte:

– Mich hat Pawel Jewsejewitsch geschickt, um in Erfahrung zu bringen, weshalb Maiers Ehefrau weint.

Ich hatte recht gehabt: Fajerstejn war über meine Beziehung zu Nina auf dem Laufenden und verurteilte sie nicht. Unter Lagerbedingungen war das wichtiger als die Eintragung beim Standesamt.

Im Frühling 1948 wurde Nina krank. Sie bekam eine Angina, die sann in eine Lungenentzündung überging. Der Arzt wies sie ins Krankenhaus ein, das am Lagerpunkt Traktowaja gelegen war. Und so fuhr ich beinahe täglich am Ende des Arbeitstages und nachdem ich ein paar Schneeglöckchen gepflückt hatte, zu ihr. Es war jedoch nur möglich auf das Territorium von Traktowaja zu gelangen, wenn man mit einem Arzt einen Termin vereinbart hatte. Ich vereinbarte einen Termin mit dem Zahnarzt, da in meinem Mund nur noch wenige gesunde Zähne übrig waren. Jeder Besuch kostete mich, wenn nicht einen ganzen Zahn, so doch zumindest die Wurzel, und das waren nicht weniger als zehn. Nach dem ich die Exekution ausgehalten hatte, erhielt ich die Möglichkeit das Krankenzimmer aufzusuchen, in dem Nina lag.

Bei einem dieser Besuche fand ich bei Nina Nelja Soroka vor, die in demselben Krankenghaus lag, allerdings in einem Krankenzimmer für Zivilpersonen. Sie saß auf Ninas Bett hinter ihrem Rücken, mit ihren dunkelhaarigen Locken und dunkelbraunen Augen und sah in ihrem leuchtenden Bademantel sehr beeindruckend aus; sie wusste das auch genau und kokettierte offenkundig. Hin und wieder sah ich sie an und begriff, dass dies auf keinen Fall geschehen durfte, dass Nina den verrat schmerzhaft erlebte, sich aber nicht helfen konnte. Zum Glück kam die Krankenschwester herein und verlangte, dass Nelja in ihr Krankenzimmer zurückgehen sollte. Nachdem Nina mit mir allein zurückblieb, belohnte sich mich mit dem. Was ich verdient hatte. Dann sagte sie, als ob sie sich rechtfertigen wollte, dass Nelja sie mit ihrem Gerede über mich gequält hätte.

Unsere Begegnungen mit Nelja, die ich nach einiger Zeit aus den Augen verlor, gingen weiter.

Der Sommer war trocken und heiß. Durch die Funken, welche die Lokomotiven versprühten, besonders dann, wenn sie mit ihrer Fracht bergauf fuhren, wurde ab und an das trockene Gras entzündet und dann auch der Wald. Und obwohl es sich im Miniatur-Loks handelte, war der Rauch, den sie ausstießen, echt. In diesen Fällen wurden alle Kontrollpunkte alarmiert, vor allem das Service-Personal, und man machte sich an das Löschen des Brandes. An jenem Tag bewegte sich das vom Wind angetriebene Feuer vom Lagerpunkt Wostotschnij in Richtung Lageraußenstelle Sewernij. Es gab auf seinem Weg keinerlei natürliche Grenzen, keine Felder oder Flüsse. Lediglich eine Schneise, durch die irgendwann einmal ein Ausläufer der Bahnlinie verlaufen war. Wir wurden in einer Kette entlang der Schneise aufgereiht und gezwungen, Trockenholz heranzuschleppen, um der Feuerfront entgegenzuwirken. An alle wurden Streichhölzer und Birkenrinde verteilt.

Als das Getöse des herannahenden Feuers hörbar wurde und der Himmel sich mit schwarzem Rauch verdüsterte, entstand eine schreckliche Situation. Alle begriffen, was für ein Los viele von uns ereilen würde, wenn es nicht gelänge, das Feuer aufzuhalten. Unlängst war unter ähnlichen Bedingungen, allerdings nicht in Kuschmangort, eine ganze Brigade ums Leben gekommen.

Das Feuer kam von oben, unten lief es verzögert. Irgendwann spürten wir eine Luftbewegung in Richtung Feuer. Und da ertönte das Kommando «anzünden». Aufgrund der nervlichen Anspannung zerbrachen bei manchen die Streichhölzer, bei anderen entflammte die Birkenrinde nicht. Aber dann sprang ein Feuerschein auf. Das Trockenholz war entzündet. Die züngelnden Flammen leckten an den durchgetrockneten Fichtennadeln und schossen der Feuerlawine entgegen. Zwei Feuerstürme kollidierten miteinander und stoben brüllend in den Himmel auf. Einige Sekunden lang rasselte und brodelte die Flamme und erlosch dann mit einem Mal. Die verbrannten Stämme glühten noch, hier und da flogen noch Äste knisternd durch die Luft, aber es war bereits klar, dass man dem Feuer hatte Einhalt gebieten können.

Erschöpft, mit schmutzigen Händen und Gesichtern, rußverschmiert, verließen wir die endlos lange Schneise, die für uns zur Falle werden konnte. Endlich die Haupt-Magistrale, ein Güterzug. Die langen Gerten wurden auf die Ladeflächen gelegt, wobei sie noch einen gewissen Freiraum ließen. Einige setzten sich auf die hervorstehenden Stämme, andere, unter ihnen auch ich, direkt auf die Ladeflächen. Völlig erschöpft, döste ich ein, wobei ich den Kopf auf die Knie irgendeiner Frau sinken ließ, die auf der Kante eines Baumstammes saß, und fuhr so bis zum unteren Lager. Es stellte sich heraus, dass diese Frau Nelja war. Und Nina, die nicht weit von mir entfernt saß, hatte das gesehen, und alles in ihr brodelte vor Empörung. Alle Erklärungsversuche erwiesen sich ergebnislos. Eine Woche lang redete sie nicht mit mir und bereitete auch kein Mittagessen zu. Demzufolge hatte nicht nur ich zu leiden, sondern auch Jefimtschik, der mit uns aß.

An den Sommer 1948 erinnere ich mich wegen eines weiteren ungewöhnlichen Ereignisses. An jenem für mich so denkwürdigen Tag trieb man die Sondersiedler deutscher Nationalität ab dem Morgen in den Klub, angeblich zu einer Versammlung. Man trieb sie alle, ohne jede Ausnahme, dorthin: Männer und Frauen, alte Menschen, Erwachsene, Kinder. Man zwang sie auch die Säuglinge mitzunehmen. Man holte sie zusammen, ohne ihnen den Grund dafür zu erklären.

Dort warteten sie auf einen hohen NKWD-Beamten aus Solikamsk, der den Text für ein ekret der Regierung bei sich hatte. Die Stunden vergingen, es begann bereits zu dämmern. Doch er war immer noch nicht eingetroffen. Die hungrigen Kinder brüllten, die erschrockenen Mütter weinten leise vor sich hin, die Männer, vorwiegend Holzfäller und Lastträger ballten ihre Fäuste, liefen im Klubhaus hin und her, wie wilde Tiere im Käfig. Und draußen die Wachen mit Maschinengewehren und Hunden.

Der hohe Beamte traf erst um zehn Uhr abends ein. Alle wurden in die Aula getrieben, wo das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR verlesen wurde. Darin hieß es, dass alle Personen deutscher Nationalität auf Dauer an ihre Siedlungsorte gebunden wären. Für den Fall, dass die im Ukas aufgeführten Forderungen verletzt würden, für eigenmächtiges Verlassen der Reservate drohten zwanzig Jahre Haft.

Im Saal erstarb alles. Nur die Säuglinge schrien weiter, während ihre Mütter erfolglose Versuche unternahmen, sie zu beruhigen.

Anschließend wurden alle Erwachsenen gezwungen, auf speziellen Dokumenten für sich und ihre minderjährigen Kinder zu unterschreiben, dass sie vom Inhalt des Dekrets Kenntnis erhalten hätten.

Etwa zu derselben Zeit, 1948, wurde das Erschießen abgeschafft und stattdessen als Höchststrafe eine Haftdauer von 25 Jahren eingeführt. Doch bereits ein Jahr später führte man die Todesstrafe wieder ein, die Inhaftierung für 25 Jahre wurde Usus, und nun begann ein kontinuierlicher Strom von Gefangen zu fließen, die für diese Zeitdauer verurteilt worden waren.

Im Herbst achtundvierzig brauten sich über den politischen Häftlingen schwarze Wolken zusammen. Es begann damit, dass man allen, die nach §58, mit Ausnahme derer, die wegen Absatz 10 verurteilt worden waren, den Passierschein entzog. Auch Nina verlor ihre Erlaubnis. In der Buchhaltung erschienen erneut Aufseher und Begleitwachen. Im November drang ein Gerücht durch, nach dem man in der URTsch Listen für die Verschickung aller § 58-er in irgendwelcher Sonderregime-Lager vorbereitete. Nach und nach entstanden aus der Neuigkeit Details. Es stellte sich heraus, dass der Verschickungsbefehl aus Moskau gekommen war, dass die Regime-Lager irgendwo in Kasachstan eingerichtet worden waren, dass in den Listen alle «Politischen» erfasst waren, unabhängig von ihrem Geschlecht, Alter, Gesundheitszustand und verbleibender Haftdauer, mit Ausnahme derer, die nach Absatz 10 dieses Paragrafen verurteilt worden waren. In den Listen tauchte auch Nina auf.

Bald darauf traf aus Solikamsk ein Fotograf ein. Die Verdammten wurden von rechts, von links und von vorne aufgenommen, wobei man ihnen vorsichtshalber ein kleines Brett mit ihrer Personennummer um den Hals hängte. Die Prozedur war erniedrigend. Einige, besonders diejenigen, denen bis zum Ende der Haftzeit nur noch wenige Monate nachblieben, verloren das Bewusstsein. Es kam ihnen so vor, als ob dies das Ende ihrer Hoffnungen auf Freilassung bedeutete. Um Nina zu beruhigen, bat ich darum, auch mich zu fotografieren. Ich muss gestehen, dass es ein unangenehmes Gefühl war, selbst wenn du weißt, dass es nichts Ernstes ist. Nina, die eine ernstzunehmende nervliche Erschütterung erlitt, kam erneut zum Lagerpunkt Traktornyj. Bald darauf traf auch Olga dort ein. Nina wurde es leichter ums Herz, wenngleich sie die tägliche quälende Sorge nicht verließ.

Meine Besuche in Traktowaja wurden schwieriger. Ich hatte bereits keine schmerzenden Zähne mehr, und jedes Mal musste ein neuer Passierschein ausgestellt werden. Ende November schichte Jerschow mich als Oberhaupt der Revisionsgruppe mit der nächsten planmäßigen Prüfung zum Lagerpunkt Traktornyj. Er schickte mich für eine ganze Woche dorthin. Es war eine außergewöhnliche Situation für Nina und mich. Ich reiste auf legaler Grundlage nach Traktornyj, besaß das Recht, alle Arten finanzieller und wirtschaftlicher Aktivitäten der Lagerstelle zu überprüfen. Als Wohnraum teilten sie mir die Kabine der Krankenschwester Alina Karlowna Bersinisch zu. Die Kabine gehörte zu dem Krankenhaus, in dem Nina in einem der Krankenzimmer lag. Endlich gab es Bedingungen, die wir früher nie gesehen hatten. Wenn es auch kein Honigmonat war, so doch wenigstens eine Honigwoche. Allerdings gab die Angst der bevorstehenden Trennung unseren Begegnungen einen bitteren Beigeschmack.

Ende Januar 1949 fuhren Jerschow und ich nach Solikamsk, um den Jahresrechenschaftsbericht abzuliefern. Ich fuhr schweren Herzens. Nina war krank. Schon einen halben Monat litt sie an Fieber, hatte keinen Appetit, und kein Medikament (von den verfügbaren) half ihr. Außerdem bestand die Gefahr, dass sie ausgerechnet während meiner Abwesenheit die §58-er auf Etappe schicken würden. Wir fuhren mit Lastwagen bis Solikamsk. Es herrschte strenger Frost, und sie gaben mir für unterwegs einen riesigen Pelzmantel, einen schwarzen, bei dem sich das Fell aus irgendeinem Grund außen befand.

Ich kehrte allein zurück. Ohne in Golownaja gewesen zu sein, begab ich mich zu Nina. So wie ich war, im Pelzmantel und im Schnee. Direkt aus der Eiseskälte betrat ich ihr Krankenzimmer und häufte auf dem Bett Geschenke auf: für sie und die Ärzte, und vor allem – für das Penizillin.
Aber auch das Penizillin half nicht: sie litt ständig an subfebriler Temperatur, wurde von Übelkeit gequält. Die Leiterin der OLP-Sanitätsabteilung, Nina Iwanowna Strjapkina, welche Nina auf mein Bitten hin persönlich behandelt hatte, gab sich Vermutungen hin. Erst im Februar entdeckte sie, dass Nina schwanger war. Sie brachte von Zuhause Borschtsch mit, den sie selbst gekocht hatte und zwang Nina, einen ganzen Teller davon zu essen. Dann rief sie mich an und gratulierte mir zu unserem zukünftigen Kind.

Im März 1949 wurden alle politischen Gefangenen – junge und betagte, gesunde und kranke, mit Ausnahme der nach §58-10 Verurteilten, - nach Traktowoj gebracht. Ihre weitere Verschickung außerhalb der Grenzen des OLP und des UssolLag verzögerte sich aufgrund der schlammigen Straßenverhältnisse. Es gab keine Gewissheit, dass es Nina gelungen war sich vor der Etappe zu retten und in Kuschmangort zu bleiben, obwohl sie bis zum Ende ihrer Haftstrafe nur noch vier Monate nach hatte, und außerdem war sie schwanger. Die Etappe wurde Ende Mai auf den Weg gebracht, in das traurig-berühmte Sonderlager «Spasskoje». Nina war die einzige der viele hunderte Personen langen Liste. Die blieb. Und niemand ließ erkennen, wem wir dieses unser Glück zu verdanken hatten.

Aber andere gingen: so auch Olja Butenko, Musja Olejnik, Wassilij Altynnikow, Jefim Nesteruk und viele, viele andere. Sie alle kamen in die schrecklichen Lager Kasachstans, in das Kupferminen-Gebiet Ekibastus, ins Lager «Spasskij». Viele von ihnen, besonders jene, die alt oder mit Krankheiten behaftet waren, beendeten dann dort auch ihren Lebensweg. Diejenigen, die jünger und gesünder waren oder eine Arbeit im Dienstleistungsbereich bekamen, überlebten. Unter ihnen Jefim Nesteruk, Olga Butenko, Musja Olejnik.

Im Juli wurde Nina mit einer Etappe nach Golownaja zur Entsendung in die Freiheit geschickt. Der Transport sollte mit einer allgemeinen Etappe auf einem Lastkahn erfolgen. Zuvor war bekannt geworden, dass sie anstatt «in die Freiheit entlassen» zu werden, für fünf Jahre in die Verbannung gehen sollte. Aber wohin – das wussten wir freilich nicht. Nina wurde von der gesamten Buchhaltung ausgestattet. Auch Faber half. Sie kauften einen kleinkarierten Wettermantel für Frauen, bestellten Stiefel und andere Sachen. Sie stellten Kontakt zu einer Autorität unter den Dieben her, der mit derselben Etappe geschickt werden sollte, damit er Nina unterwegs Immunität gewährte.

Der Lastkahn legte ab! In der Seele Leere und Verzweiflung. Lange saß ich am Ufer, schaute in die Richtung, wo hinter dem grünen Kap ein Kutter und der Lastkahn verschwanden. Nun konnte ich ihr mit nichts mehr helfen. Hilflos, im siebten Monat schwanger, brachten sie sie in die Verbannung, die für sie möglicherweise schlimmer war als das Lager. Mir blieb nur abzuwarten, und meine Ohnmacht drückte mich nieder bis zur völligen Verzweiflung.

Der langersehnte Anruf kam erst eine Woche später. Jakob Rodionowitsch Popow – Oberbuchhalter des Komendantsker OLP – teilte mit, dass man Nina morgen Früh in den Norden der Region Krasnojarsk schicken würde. Wie zum Trotz, waren weder Fajerstejn noch der Kommandeur der Division da, und es gab niemanden, der den Arbeitsbegleitschein unterschrieb. Aber das konnte mich nicht zurückhalten. Eine Stunde später war ich bereits unterwegs. Bis zum Ablegen des Schiffes von der Tscherdynsker Anlegestelle waren es noch zwei Stunden. Zwei Stunden für zwanzig Kilometer sandigen Waldweges. Als ich mich im Laufschritt der Anlegestelle näherte, hatten sie am Schiff bereits die Brücke hochgezogen. Ich eilte über den Steg und versuchte zum Heck des wendenden Schiffes zu gelangen. Doch ohne Erfolg. Tränen der Verzweiflung erstickten mich. Ich setzte mich auf irgendeine Kiste und empfand sogleich eine unwirkliche Müdigkeit und Leere. Aus irgendeinem Grund taten mir die Zehen schrecklich weh. Vorsichtig zog ich die dünnen Schuhe aus, sie waren voll von blutgetränktem Sand. Der Sand, der sich in die Schuhe gedrückt hatte, hatte nach und nach die Zehennägel abgerissen (ich trug keine Strümpfe), und besonders schlimm sahen die beiden großen Zehen aus. Es schien, als ob ich keinen einzigen Schritt weitergehen könnte.

Aber ich musste gehen, um jeden Preis, um Nina noch einmal zu sehen. Sie zu begleiten. Durch das Territorium zu gehen, welches von Lagerpunkten, Sicherheitsposten und Hinterhalten nur so gespickt war. Aber ich besaß keinen Arbeitsbegleitschein und, infolgedessen, war ich ein Geflohener, den man einfach erschießen durfte. Im günstigsten Fall würden sie mich festnehmen, verurteilen und mir noch einmal zehn Jahre aufbrummen. Zudem die heftigen Schmerzen in den Füßen, nur sehr wenig Geld – alles nur für Nina. Aber weitergehen musste ich, und nicht nur weitergehen, sondern auch ankommen. Und so humpelte ich den abgenutzten Solikamsker Trakt entlang. Vor mir lagen 120 Kilometer. Aber die Dämmerung setzte bereits ein, und infolgedessen blieben nicht mehr als zwölf Stunden –i zehn Kilometer pro Stunde. Ich erinnere mich nicht, wie weit ich gelaufen war und wie viel ich geschafft hatte, wohl nicht mehr als 15 Kilometer, als hinter einer Wegbiegung im trüben Licht ein Fluss schimmerte. Das war die Kolwa, und irgendwo dort unten musste es eine Fähre geben. Das stellte für mich eine große Gefahr dar. Gerade dort konnte sich ein Wachtposten befinden. Stockenden Herzens näherte ich mich dem Fährschiff. Doch dieses Mal verschonte das Schicksal mich. Es stellte sich heraus, dass der alte Fährschiffer allein war, und er brachte mich für fünf Rubel ans andere Ufer.

Der Aufstieg am steilen und vom Nieselregen rutschigen Ufer gestaltete sich schwierig für mich. Die klatschnassen Kleidungsstücke klebten am Körper. Die Hosenbeine bis zum Knie im Schlamm, der Saum völlig zerlumpt. Ich gehe fast vier Stunden. Der Regen hörte auf. Der Mond schaute hervor. Der Weg begann sich in eine Mulde abzusenken. Der Wald teilte sich. Und auf der sich öffnenden Lichtung, weiß wie Milch, Nebelwolken und – eine Herde Pferde. In dem gespenstischen Licht wirkten die Tiere märchenhaft riesig und wild. Ohne Koppel, bewegten sie sich in Sprüngen, entblößten die Zähne und schüttelten ihre Köpfe hin und her. Ihre Mähnen waren mit den Nebelfetzen verflochten. Mit Schrecken lief ich zwischen ihnen hindurch und marschierte hartnäckig vorwärts. Nachdem ich die Herde passiert hatte, ließ ich mich auf einen am Weg liegenden Baumstamm nieder und begriff, dass ich nun nicht mehr weitergehen konnte. Und es war sowieso nutzlos, denn bis zum Morgen würde ich es nicht schaffen.

Und ich stellte mir vor, wie sie Nina morgens zur Wache hinausbringen würden, und ich würde nicht da sein. Was für eine Verzweiflung würde sie ergreifen. Was für eine hoffnungslose Leere würde ihre Seele verzehren. Ich stand auf und ging. Einige Zeit später leuchteten vor mir Tannenwipfel im schwachen Licht auf. Ein Auto! In mir gefror alles. Mein erster Gedanke - Verfolgung. Jetzt greifen sie mich auf. Aber wer und weshalb? Wer könnte speziell hinter mir her sein? Im OLP konnten sie keinen Alarm auslösen, das hätte Fajerstejn nicht erlaubt. Das bedeutete, es war ein zufällig vorbeikommendes Fahrzeug. Hauptsache es war fahrbereit. Anhand des Motorgeräuschs konnte ich erraten, dass es sich um einen Lastwagen handelte. Ich beschloss stehenzubleiben. Der Fahrer, der mich mitleidig ansah, erklärte sich einverstanden, mich für dreißig Rubel nach Solikamsk mitzunehmen.

Und schon sitze ich im Wagenkasten. Nass, zitternd, mit geschwollenen Zehen. Das Fahrzeug schlingert über Unebenheiten, der Regen nieselt herab, der Wind geht durch und durch, die Zweige der Bäume peitschen mir ins Gesicht. Es dämmerte bereits, als der Fahrer gemäß Absprache am Tor des KOLP hielt.

Mir Mühe beuge ich meine Beine, stelle mich auf die Füße und bezahle. Und in dem Augenblick höre ich, dass jemand mich ruft. Ich schaue mich um. Ein betagter Wächter schwingt seine Hand und winkt mich zu sich heran. Neben der Wache eine Häftlingskolonne. In der Tür steht Nina! Der mir liebste Mensch auf der ganzen Welt! Deutlich tritt ihr Bauch hervor. Der Umhang ist nicht zugeknöpft. Ihr Gesichtsausdruck und voller Muttermale. Über der Schulter ein Kleiderbündel. Sie sieht mich an und weint. Die Tränen laufen ihr über das Gesicht, vermischen sich mit den Rinnsalen des Regens. «Robotschka, mein Lieber! Du bist gekommen!» Wir umarmten uns.

Sie weinte, in meine Schulter vergraben. Der Wachmann, die Begleitsoldaten und die ganze Häftlingskolonne starrten schweigend auf uns. Schließlich kamen wir wieder zu uns. Ich schob ihr verzweifelt das Geld zu, welches die Freunde gesammelt hatten, und den Sack mit Lebensmitteln. Leben kam in den Konvoi, es wurde zur Eile gedrängt. Sie ging in der Kolonne als Letzte, schaute sich um und geriet ins Stolpern. Das war es gewesen! Das schmerzhafte Gefühl eines irreparablen Verlustes drückte mir die Kehle zu. Was würde sie dort erwarten, in den Niederungen des Jenisseis? Was würde aus unserem Kind werden?

 

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